Friday, 9 December 2016

Wissen (9)



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Damit zurück zur philosophischen Kritik der Erkenntnistheorie. Ähnlich wie in der soeben besprochenen Staatstheorie scheint es ratsam, die Fragestellung, mit der wir uns dem Thema Wissen nähren, anders zu gestalten als es dies in der herkömmlichen Erkenntnistheorie geschieht, die sich, wegen der stillschweigenden Annahmen einer bestimmten Frage, auf die problematische Suche begibt nach der besten, der verlässlichsten, der wahrhaftig autoritativen, der letztgültigen Quelle des Wissens.

Doch wenn wir uns von den voreingenommenen Fragen lösen, können uns ganz andere Gedanken in den Sinn kommen. Wir mögen uns z.B. mit der Hypothese auseinandersetzen, dass es ideale und unfehlbare Quellen des Wissens ebenso wenig gibt wie eine akzeptable Regierungsform, deren Macht unbegrenzt ist, und dass alle vermeintlich absoluten Wissensquellen und autoritären Regierungsweisen über kurz oder lang großen Schaden stiften müssen.

Mit dieser neuen Perspektive können wir fruchtbare Parallelen in einigen Grundfragen der Wissenschaft und der Politik beobachten. Um unser Wissen über die Welt zu verbessern, sind wir gut beraten, die Frage zu stellen: „Gibt es Methoden, anhand derer wir die Fehler und Irrtümer, die unserem Denken anhaften, so schnell und so gründlich wie möglich erkennen und korrigieren können?" 

Unser Bestreben sollte es nicht sein, eine Theorie zu verifizieren d.h. den Beweis anzutreten, dass sie vollständig und abgeschlossen und somit auf ewig wahr ist. Vielmehr sollten wir bemüht sein, sie zu falsifizieren (zu widerlegen) oder jedenfalls dafür sorgen, dass sie niemals gegen die Möglichkeit zutreffender Kritik abgeschottet ist; dass sie also immer verbesserungsfähig bleibt im Lichte neuer Erkenntnisse, neuer Versuche festzustellen, ob sie der Widerlegung standhält. Solange eine Theorie sich gegenüber rigoroser, kritischer Prüfung behauptet, verdient sie Anerkennung, vielleicht sogar Bewunderung, aber sie darf niemals unserer unkritischen Zustimmung oder unserer dogmatischen Verehrung gewiss sein. Vielmehr muss sie immer damit rechnen, dass wir sie eines Tages verwerfen.

In ähnlicher Weise ist es ratsam, Regierung, Staat und die anderen Institutionen einer politischen Ordnung unausgesetzter Prüfung zu unterziehen, indem man nach Antworten auf die Frage sucht: Wie sieht ein politisches System aus, das eine freie Gesellschaft wirkungsvoller unterstützt als jedes andere Arrangement und dafür sorgt, dass Regierung und Staat bei der Durchführung ihrer begrenzten und klar definierten Aufgaben den denkbar geringsten Schaden hinterlassen?

Es gibt keinen präzisen Übergangspunkt zwischen wissenschaftlichem und nicht wissenschaftlichem Denken. Denn es gibt keine sicheren Kriterien, anhand derer wir immer und in jedem Fall exakt und unwiderruflich erkennen können, dass wir die volle Wahrheit erfasst und eine Theorie endgültig bewiesen haben. Für das Tier in freier Wildbahn, den gewöhnlichen Menschen in seinem Alltag und den Wissenschaftler, der Hunderte von Büchern wälzt, oder in seinem Laboratorium Versuche unternimmt – das Verfahren, das uns zu Erkenntnisgewinnen verhilft, ist in all diesen Fällen grundsätzlich dasselbe: wir lernen aufgrund von Versuch und Irrtum. Das Vorgehen der Wissenschaften liefert Einsichten, die uns helfen, besser zu verstehen, wie Erkenntniswachstum in allen, auch den außerwissenschaftlichen Lebensbereichen vonstattengeht.

Der Verbesserung unserer Kenntnisse sind keine Grenzen gesetzt. Der menschliche Erkenntnisfortschritt ist ein unendlicher Prozess. Denn unser Unwissen ist unendlich. Viel zu groß ist die Vielfalt des Universums, als dass wir uns dieses Übermaß jemals vollständig vertraut machen und entschlüsseln könnten. Der Weg zu neuer Erkenntnis ist so endlos wie die Vielfalt des Universums, das uns eines Tages aus einer unerschöpflichen Fülle von Ereignissen hervorgebracht hat. 

Mensch und Menschheit machen eine Reise durch Ausschnitte aus der unendlichen Menge an Bedingungen, die das Universum bereithält. Viele Elemente dieser unendlichen Menge sind so bequem und hilfreich, dass wir sie nicht bemerken. Andere sind sperriger. Wir stoßen uns an ihnen. Woran wir stoßen, sind Probleme. Mit diesen Zusammenstößen, mit dem Zusammenstoß mit einem Problem, beginnt das Wachstum des menschlichen Wissens. Zu der Ausstattung, die uns lebensfähig macht, gehören Erwartungen. Der Zusammenstoß mit einem Problem ist nichts anderes, als die Enttäuschung einer Erwartung. Wir beginnen uns dieser Erwartung bewusst zu werden, und fragen uns, warum wir uns in dieser Erwartung getäuscht haben. Wir machen uns gewissermaßen klar, dass wir einer Theorie anhängen, die vielleicht verbesserungswürdig und zu korrigieren ist. Damit hat der Prozess der Wissenserweiterung durch kritische Reflexion begonnen.

Wissensfortschritt bedeutet demnach, dass wir Probleme erfassen und mit ihnen besser umzugehen lernen, indem wir unsere diesbezüglichen Erwartungen oder Theorien überprüfen und erneuern. Der Stand unserer Erkenntnisse zeichnet sich also durch eine bewegliche Grenzlinie aus. Diesseits der Grenze befindet sich der Bestand unseres unvollkommenen, versuchsweisen, veränderlichen Wissens. Jenseits der Grenze befinden sich Probleme, von deren Mehrheit wir zu jedem gegebenen Zeitpunkt der Gegenwart nicht ahnen, dass sie bestehen. 

Nach und nach stoßen wir auf einige dieser ungeahnten Probleme. Wir erweitern unser Vermutungswissen über das Universum, indem wir mit einigen dieser schließlich auftretenden Probleme besser umzugehen lernen. Damit ist der menschliche Erkenntnisfortschritt nichts anderes als eine ständige Anpassung an Unvorhersehbares. Ein abschließendes, endgültiges, unumstößliches Wissen ist daher dem Menschen weder gegebenen, noch ist es wünschenswert. Der Teil des Universums, den wir besonders intensiv wahrnehmen, nennen wir ihn das Leben, hetzt uns unentwegt von einer Etappe vergänglichen Wissens zur nächsten. Sicheres Wissen - genauer: sicheres Erfahrungswissen, im Gegensatz zu den stimmigen Schlussfolgerungsformalismen der reinen Logik -  ist nicht nur eine Illusion, sondern auch ein schlechtes Ideal.

Das klassische Sortiment an Methoden zur Erlangung der Wissensgewissheit versagt, weil die zu Grunde liegenden Erkenntnistheorien übersehen, dass der menschliche Geist und der ihm jeweils mögliche Wissensstand immer abhängig ist von Umständen, die an ihn von außen herantreten, um ihn unentwegt neu zu formen.

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