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Die klassische Erkenntnistheorie - das
gemeinsame Anliegen von Empirismus und Rationalismus
Der
britische Empirismus (Bacon, Locke, Hume, Berkeley, Mill) und der kontinental
europäische Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibnitz) verfolgen das gleiche
Forschungsprogramm, nämlich die Suche nach der Quelle des wahren und sicheren
Wissens. Beide Schulen glauben an die Existenz einer höchsten und letzten
Instanz, die wahres, unumstößliches Wissen beglaubigt. Sie weichen voneinander
ab in der Frage, worin diese letzte Instanz des sicheren Wissens besteht. Der
Empirismus hebt die menschliche Beobachtungsfähigkeit auf diesen Thron. Der Rationalismus
sieht den Quell sicheren Wissens im natürlichen Licht der Vernunft, in dessen
Klarheit und Glanz sich das wahre Wissen in Gestalt unzweifelhafter Gedanken
offenbart.
Mit
dieser zuversichtlichen und selbstbewussten Einstellung gegenüber der
Erkenntnisfähigkeit des Menschen begeben sich die Anhänger des Empirismus und
des Rationalismus allerdings auf eine gefährliche Gratwanderung: Einerseits
erfährt durch ihren Optimismus der Ehrgeiz zu lernen, zu suchen und zu
entdecken, einen kräftigen Anschub. Die dogmatische Überzeugung, dass der
Mensch absolute Wahrheit erkennen und unzweifelhaftes Wissen erwerben kann,
beflügelt den seit der Renaissance einsetzenden Siegeszug von Wissenschaft und
Technik.
Bacon
und Descartes inspirieren eine beispiellose Revolution im Selbstverständnis der
Menschheit. Sie ermutigen die Menschen zum selbstständigen Denken. Sie
entfachen die Hoffnung, dass der Mensch sich durch Wissen aus Knechtschaft und
Elend befreien kann. Ihr Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist
die Grundlage des Kampfes gegen Zensur und die Intoleranz gegenüber neuen,
abweichenden Gedanken und selbstständigem Denken.
Der
erkenntnistheoretische Optimismus, der in den Arbeiten von Bacon und Descartes
Ausdruck findet, wird zur "Grundlage des nonkonformistischen Gewissens,
des Individualismus und eines neuen Gefühls für die Würde des Menschen, für die
Forderung nach Bildung für alle und für einen neuen Traum von einer freien
Gesellschaft. Sie [gibt] den Menschen das Gefühl, für sich selbst und für
andere verantwortlich zu sein, und [weckt] in ihnen das Bestreben, nicht nur
die eigenen Lebensumstände sondern auch die der Mitmenschen zu verbessern. Es ist der klassische Fall einer schlechten
Idee, aus der viele gute Ideen hervorgehen." (Popper, 1989, S. 8,
Übersetzung und Hervorhebung des Verfassers)
Der
klassische Fall einer schlechten Idee? Es kommt nicht selten vor, dass eine
Fehlentwicklung wichtige Neuerungen anschiebt, bevor ihre nachteilige Seite
bemerkbar wird. Die erkenntnistheoretischen Ansätze von Bacon und Descartes
liefern zwei Beispiele dafür, wie machtvoll Ideen sind, ob sie nun falsch oder
richtig sind. Unsere philosophischen Ansichten sind geeignet, Berge zu
versetzen.
Kritik des
Rationalismus und des Empirismus
Kritik
des Rationalismus
Die
Erkenntnistheorien von Bacon und Descartes verdanken sich der anmaßenden
Annahme, dass der Mensch zu absoluter Erkenntnis befähigt ist. Sie machen die
Wissenssuche von vornherein zu einem dogmatischen Projekt. Nach cartesianischer
Lesart bedeutet dies: Was wir in klarer und unzweideutiger Weise als Wahrheit
erkennen, muss wahr sein, denn sonst würde uns Gott betrügen. Die Wahrheitsliebe
Gottes erschließt uns das Geschenk absoluter Erkenntnis: veracitas dei.
Denn
Descartes kommt zu dem Schluss, dass seine Methode des alles erfassenden
Zweifels ihn letztlich zu der vermeintlichen Absurdität verleitet, selbst die
Wahrhaftigkeit Gottes in Frage zu stellen. Da es widersinnig ist, die Wahrhaftigkeit
Gottes zu bezweifeln, ist laut Descartes bewiesen, dass ein alles erfassender
Zweifel eine Absurdität darstellt. Er schlussfolgert, dass wir absolut sicheres
Wissen gewinnen können. Dazu müssen wir lernen, mithilfe des natürlichen Lichts
des Verstandes zwischen klaren und unzweideutigen Ideen, deren Quelle Gott ist,
und allen anderen Ideen, deren Quelle unser eigenes, unreines
Vorstellungsvermögen ist, zu unterscheiden.
Damit
hat Descartes seine Theorie vom absolut sicheren Wissen natürlich keineswegs
bewiesen. Er hat lediglich den Versuch unternommen, sie unter den Schutz einer
Autorität zu stellen, die zu seiner Zeit als die schlechthin höchste gilt. Wenn
man alles Beiwerk beiseitelässt, so geht es bei Descartes’
erkenntnistheoretischem Plädoyer nicht um die Darlegung eines stimmigen
Arguments, sondern darum, einen Autoritätsanspruch zu sichern. Nicht kraft
eines schlüssigen Beweises, sondern durch einen Autorisierungsakt wird einer
Aussage oder einer Überzeugung der Adelstitel des Wissens verliehen.
Kritik des Empirismus
Was
für den cartesianischen Rationalisten die veracitas
dei leistet, erzielt für Bacon die veracitas
naturae: Wer das Buch der Natur mit reinem, geläutertem Geiste zu lesen
versteht, der erkennt die absolute Wahrheit, die in die Natur gelegt ist. Das
erkenntnistheoretische Überzeugungsmuster, wonach die absolute Wahrheit dem
Menschen erkennbar ist und jeder, der nur willens ist, sie zu erkennen, ihrer
gewahr werden kann, liegt jeder Form von Fanatismus zu Grunde. Es erzeugt Nachfrage
nach hohen Priestern, die die absolute Wahrheit kennen, und dazu berufen sind,
die Uneinsichtigen zu verfolgen, zu entlarven, umzuerziehen oder zu maßregeln.
Auch
der Baconsche Empirismus glaubt den Stein der Weisen gefunden zu haben, den
Königsweg zu Wahrheit und Wissen. Es ist alles nur eine Frage der Anwendung der
richtigen Methode. Ihre Befolgung öffnet das Tor zur wahren Erkenntnis, zum
Aussprechen dessen, was im Buch der Natur geschrieben steht. Schau’ nur richtig
und unvoreingenommen hin und du wirst in den Besitz der Wahrheit, des sicheren
Wissens gelangen. Wie Descartes den radikalen Zweifel empfiehlt, um alles aus
dem Geiste zu verbannen, was einem erleuchteten Wissen im Wege steht, gibt auch
Bacon Verfahren an, die es ermöglichen, jene unreinen Vorurteile aus unserer
Seele zu verbannen, die uns davon abhalten, zu lesen, was im Buch der Natur
geschrieben steht.
Gegen
diese Haltung ist anzuführen, dass auch die Sinneswahrnehmungen und
Beobachtungen des solchermaßen geläuterten Geistes keine unfehlbare und sichere
Grundlage für Wissen gewährleisten: Wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu
der Welt, die wir beobachten.
Unsere
Beobachtungen sind Filterprodukte, Interpretationen, selektive Abbildungen, die
unsere Umwelt in einem ganz eigenen Licht, eben als etwas Gedeutetes erscheinen
lassen. Selbst unsere Sinnesorgane zeichnen sich durch interpretative
Voreingenommenheit aus. Was sie uns liefern, geht immer durch einen
Deutungsfilter von Neigungen und Theorien.
Und
so schreibt Goethe: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon
Theorie ist.“ (Goethe, Maximen und
Reflexionen, Bd. XXI, Weimar 1907, Nr.575) Denn ohne Theorie sind die
Fakten stumm.
Bevor
wir Erfahrungen sammeln und Anschauungen entwickeln, die auf sorgfältiger
Reflexion beruhen, folgen wir angeboren Dispositionen - Theorien, wenn man so
will -, die die Struktur unserer Aufmerksamkeit gestalten, indem sie uns
vorgeben, was relevant, wünschenswert oder bei Seite zu lassen ist. Selbst die
primitivsten Organismen haben in diesem Sinne Theorien. Schließlich sind Theorien
nichts anderes als Annahmen über Wesen und Wirken von Zusammenhängen. Die
Amöbe, die ans Licht und ins Warme strebt, folgt einer Theorie dessen, was für
sie gut ist.
Es
ist ideologisch zweckmäßig für den, der unbedingt eine sichere Grundlage unseres
Wissen angeben möchte, aber nichtsdestotrotz wirklichkeitsfremd anzunehmen,
dass die Wahrheit aus unumstößlichen Fakten besteht, die sich dem Menschen
durch Formen besonders reiner Beobachtung in Gestalt von Ideen, Eindrücken oder
Wahrnehmung der äußersten Klarheit oder Unmittelbarkeit erschließen. Gemäß dem
empiristischen Weltbild erreicht uns echtes Wissen gleichsam in Form von
Wahrheitspartikeln, die durch unsere Sinnesorgane in uns gelangen und sich
schließlich unserem Geiste einschreiben.
Die
Erkenntnistheorien von Descartes und Bacon stützten sich auf die Vorstellung
einer absolut unbefleckten, total reinen Quelle von Wissen und Wahrheit: Die
Wahrheitsliebe Gottes bei Descartes. Bacon ersetzt Gott durch die Natur. Das
unreine Denken des Menschen muss sich läutern, um die reine Wahrheit zu
erkennen, die Gott oder die Natur dem willigen Geist darbieten. Sowohl
Descartes als auch Bacon treten nicht aus dem Schatten einer Erkenntnislehre,
die so dogmatisch und autoritär ist, dass sie selbst den Charakter eines
Aberglaubens annimmt. Der empiristische Aberglaube setzt auf die absolute
Autorität der Sinne, während der rationalistische Aberglaube der absoluten
Autorität des Verstandes vertraut.
Die
dogmatischen Erkenntnistheorien von Bacon und Descartes bleiben einem
Sicherheitsbedürfnis verhaftet, das sich nach Schutz und Beglaubigung durch
eine allmächtige Autorität sehnt.
Das
Universum jedoch ist kein geschlossenes System vergleichbar mit einer
Lagerhalle, die einen endlichen Bestand an (Wahrheits-)Paketen beherbergt, die
man nach und nach auspackt, bis alle Rätsel gelüftet sind. Das Universum ist
ein offenes System, das uns jeden Tag mit Ungewissheit und neuen Rätseln
konfrontiert. Unsere Art, Erkenntnisse zu gewinnen, ist nicht dazu geeignet,
absolute Wahrheit und sicheres Wissen zu erzielen.
Denn
unsere Art zu wissen hat sich als leistungsfähige Hilfe zur Anpassung an das
offene System Universum entwickelt.
Deshalb ist unser Wissen (a) fehlbar, (b) endlos lernend und (c) immer
vorläufig. Was ein Nachteil oder ein Mangel zu sein scheint, ist in Wahrheit
eine besondere Stärke. Denn Fehlbarkeit bedeutet, die Notwendigkeit zu lernen,
zu korrigieren, zu verbessern. Und so ist die Fehlbarkeit die Antriebsfeder der
unentwegten Besserstellung des Menschen. Unser Irren zwingt uns, neugierig zu
bleiben, Probleme zu überdenken, neue Lösungen zu entdecken, es lässt uns keine
andere Wahl, als stets flexibel und anpassungsfähig zu sein.
Dogmatismus,
Skeptizismus und kritische Rationalismus
Es
gibt so etwas wie eine innere Labilität des Dogmatikers. Zum einen klammert er
sich an eine allmächtige Autorität, um von außen, von etwas Höherem geschützt
und ermächtigt zu sein in seiner Eigenschaft als der, der es besser (am besten)
weiß. Wenn, zum anderen, ihn erst einmal das Gefühl der Ermächtigung von
höchster Stelle erfasst, verlässt ihn die Furcht, und er sieht keinen Grund,
Andersdenkende neben sich zu dulden. Er wird zum Tyrann mit
Sendungsbewusstsein.
In
diesem Sinne können die dogmatischen Hauptströmungen der klassischen
Erkenntnistheorie, Empirismus und Rationalismus, Intoleranz begünstigen. Denn
sie basieren auf dem Glauben, dass es möglich ist, in den Besitz absoluter Wahrheit
zu gelangen. Wer angeblich Zugang hat zu sicherem Wissen, gilt in der Regel als
denen überlegen, die hiervon ausgeschlossen sind. Wenn einer die Wahrheit kennt
und der andere nicht, wenn einer Recht hat und der andere nicht, wer von beiden
sollte das Sagen haben? Der unausrottbarer Glaube an erleuchtete, charismatische
Führer und die kulthaft übertriebene Verehrung von Experten sind beharrliche
Indizien für eine weiterhin einflussreiche philosophische Grundhaltung, die
letztlich in einer dogmatischen Erkenntnistheorie wurzelt.
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