Monday, 5 December 2016

Wissen (5)



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Die klassische Erkenntnistheorie - das gemeinsame Anliegen von Empirismus und Rationalismus

Der britische Empirismus (Bacon, Locke, Hume, Berkeley, Mill) und der kontinental europäische Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibnitz) verfolgen das gleiche Forschungsprogramm, nämlich die Suche nach der Quelle des wahren und sicheren Wissens. Beide Schulen glauben an die Existenz einer höchsten und letzten Instanz, die wahres, unumstößliches Wissen beglaubigt. Sie weichen voneinander ab in der Frage, worin diese letzte Instanz des sicheren Wissens besteht. Der Empirismus hebt die menschliche Beobachtungsfähigkeit auf diesen Thron. Der Rationalismus sieht den Quell sicheren Wissens im natürlichen Licht der Vernunft, in dessen Klarheit und Glanz sich das wahre Wissen in Gestalt unzweifelhafter Gedanken offenbart.

Mit dieser zuversichtlichen und selbstbewussten Einstellung gegenüber der Erkenntnisfähigkeit des Menschen begeben sich die Anhänger des Empirismus und des Rationalismus allerdings auf eine gefährliche Gratwanderung: Einerseits erfährt durch ihren Optimismus der Ehrgeiz zu lernen, zu suchen und zu entdecken, einen kräftigen Anschub. Die dogmatische Überzeugung, dass der Mensch absolute Wahrheit erkennen und unzweifelhaftes Wissen erwerben kann, beflügelt den seit der Renaissance einsetzenden Siegeszug von Wissenschaft und Technik.

Bacon und Descartes inspirieren eine beispiellose Revolution im Selbstverständnis der Menschheit. Sie ermutigen die Menschen zum selbstständigen Denken. Sie entfachen die Hoffnung, dass der Mensch sich durch Wissen aus Knechtschaft und Elend befreien kann. Ihr Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist die Grundlage des Kampfes gegen Zensur und die Intoleranz gegenüber neuen, abweichenden Gedanken und selbstständigem Denken.

Der erkenntnistheoretische Optimismus, der in den Arbeiten von Bacon und Descartes Ausdruck findet, wird zur "Grundlage des nonkonformistischen Gewissens, des Individualismus und eines neuen Gefühls für die Würde des Menschen, für die Forderung nach Bildung für alle und für einen neuen Traum von einer freien Gesellschaft. Sie [gibt] den Menschen das Gefühl, für sich selbst und für andere verantwortlich zu sein, und [weckt] in ihnen das Bestreben, nicht nur die eigenen Lebensumstände sondern auch die der Mitmenschen zu verbessern. Es ist der klassische Fall einer schlechten Idee, aus der viele gute Ideen hervorgehen." (Popper, 1989, S. 8, Übersetzung und Hervorhebung des Verfassers)

Der klassische Fall einer schlechten Idee? Es kommt nicht selten vor, dass eine Fehlentwicklung wichtige Neuerungen anschiebt, bevor ihre nachteilige Seite bemerkbar wird. Die erkenntnistheoretischen Ansätze von Bacon und Descartes liefern zwei Beispiele dafür, wie machtvoll Ideen sind, ob sie nun falsch oder richtig sind. Unsere philosophischen Ansichten sind geeignet, Berge zu versetzen.

Kritik des Rationalismus und des Empirismus

Kritik des Rationalismus

Die Erkenntnistheorien von Bacon und Descartes verdanken sich der anmaßenden Annahme, dass der Mensch zu absoluter Erkenntnis befähigt ist. Sie machen die Wissenssuche von vornherein zu einem dogmatischen Projekt. Nach cartesianischer Lesart bedeutet dies: Was wir in klarer und unzweideutiger Weise als Wahrheit erkennen, muss wahr sein, denn sonst würde uns Gott betrügen. Die Wahrheitsliebe Gottes erschließt uns das Geschenk absoluter Erkenntnis: veracitas dei.

Denn Descartes kommt zu dem Schluss, dass seine Methode des alles erfassenden Zweifels ihn letztlich zu der vermeintlichen Absurdität verleitet, selbst die Wahrhaftigkeit Gottes in Frage zu stellen. Da es widersinnig ist, die Wahrhaftigkeit Gottes zu bezweifeln, ist laut Descartes bewiesen, dass ein alles erfassender Zweifel eine Absurdität darstellt. Er schlussfolgert, dass wir absolut sicheres Wissen gewinnen können. Dazu müssen wir lernen, mithilfe des natürlichen Lichts des Verstandes zwischen klaren und unzweideutigen Ideen, deren Quelle Gott ist, und allen anderen Ideen, deren Quelle unser eigenes, unreines Vorstellungsvermögen ist, zu unterscheiden.

Damit hat Descartes seine Theorie vom absolut sicheren Wissen natürlich keineswegs bewiesen. Er hat lediglich den Versuch unternommen, sie unter den Schutz einer Autorität zu stellen, die zu seiner Zeit als die schlechthin höchste gilt. Wenn man alles Beiwerk beiseitelässt, so geht es bei Descartes’ erkenntnistheoretischem Plädoyer nicht um die Darlegung eines stimmigen Arguments, sondern darum, einen Autoritätsanspruch zu sichern. Nicht kraft eines schlüssigen Beweises, sondern durch einen Autorisierungsakt wird einer Aussage oder einer Überzeugung der Adelstitel des Wissens verliehen.


Kritik des Empirismus

Was für den cartesianischen Rationalisten die veracitas dei leistet, erzielt für Bacon die veracitas naturae: Wer das Buch der Natur mit reinem, geläutertem Geiste zu lesen versteht, der erkennt die absolute Wahrheit, die in die Natur gelegt ist. Das erkenntnistheoretische Überzeugungsmuster, wonach die absolute Wahrheit dem Menschen erkennbar ist und jeder, der nur willens ist, sie zu erkennen, ihrer gewahr werden kann, liegt jeder Form von Fanatismus zu Grunde. Es erzeugt Nachfrage nach hohen Priestern, die die absolute Wahrheit kennen, und dazu berufen sind, die Uneinsichtigen zu verfolgen, zu entlarven, umzuerziehen oder zu maßregeln.

Auch der Baconsche Empirismus glaubt den Stein der Weisen gefunden zu haben, den Königsweg zu Wahrheit und Wissen. Es ist alles nur eine Frage der Anwendung der richtigen Methode. Ihre Befolgung öffnet das Tor zur wahren Erkenntnis, zum Aussprechen dessen, was im Buch der Natur geschrieben steht. Schau’ nur richtig und unvoreingenommen hin und du wirst in den Besitz der Wahrheit, des sicheren Wissens gelangen. Wie Descartes den radikalen Zweifel empfiehlt, um alles aus dem Geiste zu verbannen, was einem erleuchteten Wissen im Wege steht, gibt auch Bacon Verfahren an, die es ermöglichen, jene unreinen Vorurteile aus unserer Seele zu verbannen, die uns davon abhalten, zu lesen, was im Buch der Natur geschrieben steht.

Gegen diese Haltung ist anzuführen, dass auch die Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen des solchermaßen geläuterten Geistes keine unfehlbare und sichere Grundlage für Wissen gewährleisten: Wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu der Welt, die wir beobachten.

Unsere Beobachtungen sind Filterprodukte, Interpretationen, selektive Abbildungen, die unsere Umwelt in einem ganz eigenen Licht, eben als etwas Gedeutetes erscheinen lassen. Selbst unsere Sinnesorgane zeichnen sich durch interpretative Voreingenommenheit aus. Was sie uns liefern, geht immer durch einen Deutungsfilter von Neigungen und Theorien.

Und so schreibt Goethe: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.“ (Goethe, Maximen und Reflexionen, Bd. XXI, Weimar 1907, Nr.575) Denn ohne Theorie sind die Fakten stumm.

Bevor wir Erfahrungen sammeln und Anschauungen entwickeln, die auf sorgfältiger Reflexion beruhen, folgen wir angeboren Dispositionen - Theorien, wenn man so will -, die die Struktur unserer Aufmerksamkeit gestalten, indem sie uns vorgeben, was relevant, wünschenswert oder bei Seite zu lassen ist. Selbst die primitivsten Organismen haben in diesem Sinne Theorien. Schließlich sind Theorien nichts anderes als Annahmen über Wesen und Wirken von Zusammenhängen. Die Amöbe, die ans Licht und ins Warme strebt, folgt einer Theorie dessen, was für sie gut ist.

Es ist ideologisch zweckmäßig für den, der unbedingt eine sichere Grundlage unseres Wissen angeben möchte, aber nichtsdestotrotz wirklichkeitsfremd anzunehmen, dass die Wahrheit aus unumstößlichen Fakten besteht, die sich dem Menschen durch Formen besonders reiner Beobachtung in Gestalt von Ideen, Eindrücken oder Wahrnehmung der äußersten Klarheit oder Unmittelbarkeit erschließen. Gemäß dem empiristischen Weltbild erreicht uns echtes Wissen gleichsam in Form von Wahrheitspartikeln, die durch unsere Sinnesorgane in uns gelangen und sich schließlich unserem Geiste einschreiben.

Die Erkenntnistheorien von Descartes und Bacon stützten sich auf die Vorstellung einer absolut unbefleckten, total reinen Quelle von Wissen und Wahrheit: Die Wahrheitsliebe Gottes bei Descartes. Bacon ersetzt Gott durch die Natur. Das unreine Denken des Menschen muss sich läutern, um die reine Wahrheit zu erkennen, die Gott oder die Natur dem willigen Geist darbieten. Sowohl Descartes als auch Bacon treten nicht aus dem Schatten einer Erkenntnislehre, die so dogmatisch und autoritär ist, dass sie selbst den Charakter eines Aberglaubens annimmt. Der empiristische Aberglaube setzt auf die absolute Autorität der Sinne, während der rationalistische Aberglaube der absoluten Autorität des Verstandes vertraut.

Die dogmatischen Erkenntnistheorien von Bacon und Descartes bleiben einem Sicherheitsbedürfnis verhaftet, das sich nach Schutz und Beglaubigung durch eine allmächtige Autorität sehnt.

Das Universum jedoch ist kein geschlossenes System vergleichbar mit einer Lagerhalle, die einen endlichen Bestand an (Wahrheits-)Paketen beherbergt, die man nach und nach auspackt, bis alle Rätsel gelüftet sind. Das Universum ist ein offenes System, das uns jeden Tag mit Ungewissheit und neuen Rätseln konfrontiert. Unsere Art, Erkenntnisse zu gewinnen, ist nicht dazu geeignet, absolute Wahrheit und sicheres Wissen zu erzielen.

Denn unsere Art zu wissen hat sich als leistungsfähige Hilfe zur Anpassung an das offene System Universum entwickelt. Deshalb ist unser Wissen (a) fehlbar, (b) endlos lernend und (c) immer vorläufig. Was ein Nachteil oder ein Mangel zu sein scheint, ist in Wahrheit eine besondere Stärke. Denn Fehlbarkeit bedeutet, die Notwendigkeit zu lernen, zu korrigieren, zu verbessern. Und so ist die Fehlbarkeit die Antriebsfeder der unentwegten Besserstellung des Menschen. Unser Irren zwingt uns, neugierig zu bleiben, Probleme zu überdenken, neue Lösungen zu entdecken, es lässt uns keine andere Wahl, als stets flexibel und anpassungsfähig zu sein.

Dogmatismus, Skeptizismus und kritische Rationalismus

Es gibt so etwas wie eine innere Labilität des Dogmatikers. Zum einen klammert er sich an eine allmächtige Autorität, um von außen, von etwas Höherem geschützt und ermächtigt zu sein in seiner Eigenschaft als der, der es besser (am besten) weiß. Wenn, zum anderen, ihn erst einmal das Gefühl der Ermächtigung von höchster Stelle erfasst, verlässt ihn die Furcht, und er sieht keinen Grund, Andersdenkende neben sich zu dulden. Er wird zum Tyrann mit Sendungsbewusstsein.

In diesem Sinne können die dogmatischen Hauptströmungen der klassischen Erkenntnistheorie, Empirismus und Rationalismus, Intoleranz begünstigen. Denn sie basieren auf dem Glauben, dass es möglich ist, in den Besitz absoluter Wahrheit zu gelangen. Wer angeblich Zugang hat zu sicherem Wissen, gilt in der Regel als denen überlegen, die hiervon ausgeschlossen sind. Wenn einer die Wahrheit kennt und der andere nicht, wenn einer Recht hat und der andere nicht, wer von beiden sollte das Sagen haben? Der unausrottbarer Glaube an erleuchtete, charismatische Führer und die kulthaft übertriebene Verehrung von Experten sind beharrliche Indizien für eine weiterhin einflussreiche philosophische Grundhaltung, die letztlich in einer dogmatischen Erkenntnistheorie wurzelt.

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