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(2.1.3) Rationalismus – Das euklidische
Ideal
Das
Kernanliegen und die äußerste Ambition des Rationalismus bestehen darin durch reines Denken, Wissensgewissheit zu
erlangen, und zwar nicht nur hinsichtlich rein abstrakter Zusammenhänge,
sondern auch über die Gegenstände unserer raumzeitlichen Erfahrungswelt.
Genau das ist Euklid (360 v. Chr. - 280 v. Chr.) in seiner Darstellung der
Geometrie gelungen. Jedenfalls in den Augen rationalistischer Philosophen, die
ihre eigenen Denksysteme more geometrico,
also nach Art der (euklidischen) Geometrie aufzubauen bemüht sind: Spinoza
(1632-1677), der ein System der Ethik auf diese Weise zu gestalten versucht,
Hobbes (1588-1679), der eine wissenschaftliche Politiklehre schaffen will, oder
auch Descartes (1596-1650), der sich anschickt das euklidische Projekt zu
verallgemeinern als die Methode schlechthin für das Erlangen
unzweifelhaft wahren Wissens.
Was
macht die Faszination des euklidischen Vorgehens aus? Warum wollen viele andere
große Denker dem Verfahren des Euklids folgen? Betrachten wir ein Beispiel.
Pythagoras hat folgenden nach ihm benannten Satz aufgestellt, und Euklid hat
dieses Theorem bewiesen: „Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate
gleich dem Hypotenusenquadrat.“ In Kurzform: a2 + b2 = c2.
Damit macht Pythagoras eine Aussage über die erfahrbare Welt. Euklid jedoch
geht bei seinem Beweis nicht „empirisch“ vor, d.h. er bezieht sich nicht auf
die erfahrbare Welt. Er wendet sich nicht konkreten Objekten zu, rechtwinkligen
Dreiecken, und misst sie genau nach, um festzustellen, ob sie alle, groß und
klein, grau und bunt, der Aussage des pythagoreischen Satzes entsprechen.
Stattdessen versucht er es mit reinem Denken. Hierzu schlägt Euklid eine Reihe
von anderen, einfacheren Sätzen vor, aus denen die Aussage des pythagoreischen
Satzes folgt. Diese einfacheren Sätze sind nicht für sich unmittelbar
einsichtig. Euklid leitet sie wiederum aus so genannten Definitionen,
Postulaten und Axiomen ab. Diese Grundannahmen sollen das Problem des infiniten
Regresses lösen, also die Schwierigkeit, die darin besteht, dass alles, was als
Begründung angeführt werden kann, selbst wiederum der Begründung bedarf. In den
Augen der Rationalisten, die sich Euklids Methode zum Vorbild nehmen, erübrigt
sich die Problematik des infiniten Regresses bei Euklid, da nämlich die Axiome,
mit denen das euklidische Begründungsverfahren seinen Abschluss findet, selbst unmittelbar einleuchtend sind. Statt
„unmittelbar einleuchtend“ kann man auch sagen „augenfällig“ oder im
philosophischen Jargon „selbstevident“, und gemeint sind Aussagen wie etwa
„kein X, was immer es auch sei, kann sich zugleich an zwei unterschiedlichen
Plätzen befinden“. Derlei ist jedem klar. Da gibt es nicht zu hinterfragen.
Will man meinen.
Mit
dieser Methode der Ableitung komplexer Zusammenhänge aus einfachen,
selbstevidenten Aussagen gelingen Euklid bemerkenswerte Feststellungen über die
empirische Welt. Unter anderem beweist er, dass es nur fünf so genannte platonische Körper gibt, zu denen
beispielsweise der Würfel gehört, d.h. dreidimensionale Körper, deren Seiten
alle gleich sind.
2.1.3.1 – Cartesianischer Rationalismus
- die erkenntnistheoretische Verallgemeinerung des Euklidischen Ideals
Bewunderer
des Euklid und selbst bedeutender Geometer, den wir nicht zuletzt durch das
nach ihm benannte Koordinatensystem kennen, schickt sich Descartes an, eine
Theorie des unbezweifelbaren Wissens more
geometrico, sprich nach Art der euklidischen Geometrie, zu konstruieren.
Zunächst
geht Descartes davon aus, dass ein Sachverhalt, über den auch nur der geringste
Zweifel besteht, nicht als wahr angesehen werden kann. Mit anderen Worten: Wenn
etwas als wahr gelten soll, dann hat man sich seiner Wahrheit absolut sicher zu
sein. Die Suche nach Wahrheit beginnt daher für Descartes mit der Suche nach
Gewissheit. Die Strategie, die er hierzu anwendet, zielt darauf ab, die
Skeptiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Denn Descartes glaubt, durch
äußerste Radikalisierung des Skeptizismus in den Bereich zweifelsfreien Wissens
durchbrechen zu können. Er wendet seine so genannte Methode des Zweifels an, mit der er alle Irrtümer durchgeht, die
dem Menschen unterlaufen können, von optischen Täuschungen verschiedenster Art
bis zu jenen Träumen, bei denen der Schläfer sich in der Wirklichkeit zu
befinden glaubt. Descartes versucht noch weiter zu gehen und sucht nach den
Bedingungen der umfassendsten und vollkommensten Täuschung des Menschen. Zu
diesem Zweck stellt er sich eine Welt vor, die von einem bösen Geist beherrscht
wird, der sich ganz der Aufgabe verschreibt, den Menschen so gründlich zu
täuschen als dies überhaupt möglich ist. Wenn Irrtümer faule Äpfel sind, dann
kann man Descartes Methode damit vergleichen, alle faulen Äpfel auszusortieren,
bis nur noch die gesunden Äpfel, d.h. Bewusstseinsinhalte, die unbezweifelbar
sind, übrigbleiben. Und so stellt Descartes schließlich die Frage: Wenn wir
einem solchen vollkommenen Meister der Irreführung ausgesetzt wären, könnte es
dennoch irgendetwas geben, worüber er uns nichts vormachen könnte? Descartes
Antwort auf diese Frage markiert die Kehrtwende, wo der Pfad des Zweifels
umbiegt, um zum Pfad der Gewissheit zu werden. Denn Descartes erkennt: Der böse
Dämon mag mich täuschen, wie er will, er kann mich jedoch nicht dazu bringen,
dass ich denke, wenn ich tatsächlich nicht denke. Und wenn ich von ihm
getäuscht werde und deshalb Falsches denke, so denke ich doch. Und denken kann
ich nur, wenn ich existiere. Cogito ergo
sum. Ich denke, also bin ich. Mit dem Cogito
ist freilich nicht nur Denken gemeint, sondern jede Form von bewusster
Wahrnehmung und Erfahrung. Cogito ergo
sum bedeutet daher so viel wie: Mich erfüllt ein Bewusstsein, daher
existiere ich. Mit dieser Überlegung glaubt Descartes, den Punkt absoluter
Zweifelsfreiheit erreicht zu haben.
Doch
schon hat er mit einem neuen Problem zu kämpfen. Denn obwohl er zu Aussagen
gelangt ist die, wie er denkt, unbezweifelbar sind, ist sich Descartes darüber
im Klaren, dass aus diesen Aussagen nichts zu folgern ist, was zwingend wahr
sein muss. Bewusstsein von etwas zu haben, ist nicht gleichbedeutend mit
unfehlbarem Wissen.
Was
nun? Nachdem er gezeigt zu haben glaubt, dass man sich gewisser
Bewusstseinsinhalte absolut sicher sein kann - wie etwa dem Ich denke, also bin ich - ist Descartes
bemüht, Bewusstseinsinhalte aufzuspüren, die in der Tat ein sicheres Wissen
verbürgen. In seinen Augen ist die Vorstellung von Gott ein solcher
Bewusstseinsinhalt. Denn, so argumentiert er, als geringfügiges und endliches
Geschöpf kann der Mensch unmöglich die Vorstellung eines unendlichen Wesens
(Gott) aus sich erschaffen. Eine derartige Vorstellung muss ihm eingepflanzt
werden. Nur Gott vermag dies. Auf diese Weise drückt Gott seinem Werk, dem
Menschen, sein Gütesiegel auf. Und Gott, in seiner unendlichen Güte, täuscht
den Menschen nicht unnötig. Deshalb gewährt Gott dem gewissenhaften, unermüdlich
und ehrlich suchenden Denker Zugang zu sicherem Wissen, zur unverbrüchlichen
Wahrheit.
Die
Vollendung des kartesischen Arguments für die Möglichkeit sicheren Wissens
stützt sich also auf dogmatische Postulate. Sie mögen zutreffen, aber sie sind
nicht zwingend logisch. Für Descartes muss Wissen, um echtes Wissen zu sein,
durch eine letzte Autorität beglaubigt sein. So betrachtet, entbehrt es nicht
einer gewissen inneren Stimmigkeit, dass der Schlussstein seines
rationalistischen Wissensmodells aus einem Argument besteht, das man nur dann
als fraglos gültig akzeptieren kann, wenn man die unfehlbare Autorität ihres
Proponenten unterstellt. In diesem Sinne entspricht der kartesische
Rationalismus einem autoritären
Glaubensbekenntnis.
Descartes
gerät bei dem Versuch, eine letzte Instanz absolut sicheren Wissens im
Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Gottesbeweises zu begründen, in einen
Zirkel, also in eine der Sackgassen des Münchhausenschen Trilemmas. Er
argumentiert, dass er um die Existenz Gottes mit absoluter Gewissheit weiß und
dieser Gewissheit fähig sei, weil es Gott gibt. Die Existenz Gottes gilt ihm
als nachgewiesen, weil er diesbezüglich über sicheres Wissen verfüge. Die
Gewissheit dieses Wissens wiederum sei verbürgt durch die Existenz Gottes.
Descartes
misslingt der Nachweis eines fundamentum
absolutum inconcussum veritatis, das heißt eines in sich ruhenden,
unerschütterlichen Grunds völlig gewisser Wahrheit. Gescheitert ist das
ehrgeizige Projekt des naiven Rationalismus, sich durch bloße Reflexion eines
Kriteriums zu bedienen, das als allgemeines Wahrheitsmerkmal fungiert, also
systematisch, verlässlich und immer absolut sicheres Wissen für uns untrüglich
erkennbar macht.
Doch
schon das euklidische Vorbild des cartesianischen Rationalismus kann die in es
gesetzten erkenntnistheoretischen Erwartungen nicht erfüllen.
Eine
der Grundannahmen Euklids löst eine Kontroverse aus, die sich über zweitausend
Jahre hinziehen und die Geometrie schließlich revolutionieren wird. Den Stein
des Anstoßes liefert das sogenannte Parallelenaxiom. Früh schon melden sich
mathematische Dissidenten, die dieses Axiom keineswegs für selbstevident halten
und daher einen Beweis seiner Richtigkeit verlangen. Im 19. Jahrhundert ergibt
einer der vielen Anläufe, dieses Axiom zu beweisen oder zu widerlegen,
Anhaltspunkte, die schließlich zu alternativen Geometrien ausgebaut werden. Zur
euklidischen Geometrie, in der jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad
besitzt, gesellen sich zwei neue Geometrien, die sogenannte elliptische oder
Riemannsche Geometrie, in der sich die Dreieckswinkel zu mehr als 180 Grad summieren, und die hyperbolische Geometrie, in
der jedes Dreieck eine Winkelsumme von weniger
als 180 aufweist.
Kommt
hinzu, dass Einstein, dessen Raum-Zeit-Model dasjenige der klassischen Physik verdrängt,
anders als Newton, dessen Physik auf der euklidischen Geometrie beruht, seine
neue Physik auf die Grundlage der elliptischen Geometrie stellt.
Insofern
als der Rationalismus in der euklidischen Geometrie den Beweis dafür erbracht
sieht, dass sichere Wahrheit auch über die Dinge unserer Erfahrungswelt durch
reine Reflexion erzielt werden kann, ist das rationalistische Projekt
angesichts des Aufkommens der nichteuklidischen Geometrien aus wenigstens zwei
Gründen gescheitert. Zum einen, ist es schwer von einem Axiom als „unmittelbar
einleuchtend“ zu sprechen, wenn über Jahrtausende hinweg ein Disput unter den
Kundigen darüber herrscht, was es besagt und was nicht. Das für den
Rationalismus unverzichtbare Argumentationsstadium der Selbstevidenz wird nicht
erreicht. Was der eine für selbstevident hält, ist es dem anderen keineswegs.
Und selbst, wenn ein Konsensus über scheinbar selbstevidente Zusammenhänge
herrscht, erleben wir immer wieder das Auftauchen neuer Erkenntnisse, die das
einst unbezweifelbar erscheinende als Irrtum entlarven („die Sonne dreht sich
um die Welt“, „die Erde ist flach“ etc).
Zum
anderen hat das Auftreten alternativer Geometrien die Folge, dass eine
zutreffende Beschreibung des Raums, die man mit Hilfe der euklidischen
Geometrie durch reines Denken erreicht zu haben glaubte, sich letzten Endes als
eine Frage herausstellt, die nicht ohne empirische Mittel zu entscheiden ist,
und im übrigen inzwischen von einem Großteil der Physiker zuungunsten der nichteuklidischen
Geometrie beantwortet wird.
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