Sunday, 4 December 2016

Wissen (3)



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(2.1.3) Rationalismus – Das euklidische Ideal

Das Kernanliegen und die äußerste Ambition des Rationalismus bestehen darin durch reines Denken, Wissensgewissheit zu erlangen, und zwar nicht nur hinsichtlich rein abstrakter Zusammenhänge, sondern auch über die Gegenstände unserer raumzeitlichen Erfahrungswelt. Genau das ist Euklid (360 v. Chr. - 280 v. Chr.) in seiner Darstellung der Geometrie gelungen. Jedenfalls in den Augen rationalistischer Philosophen, die ihre eigenen Denksysteme more geometrico, also nach Art der (euklidischen) Geometrie aufzubauen bemüht sind: Spinoza (1632-1677), der ein System der Ethik auf diese Weise zu gestalten versucht, Hobbes (1588-1679), der eine wissenschaftliche Politiklehre schaffen will, oder auch Descartes (1596-1650), der sich anschickt das euklidische Projekt zu verallgemeinern als die Methode schlechthin für das Erlangen unzweifelhaft wahren Wissens.

Was macht die Faszination des euklidischen Vorgehens aus? Warum wollen viele andere große Denker dem Verfahren des Euklids folgen? Betrachten wir ein Beispiel. Pythagoras hat folgenden nach ihm benannten Satz aufgestellt, und Euklid hat dieses Theorem bewiesen: „Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypotenusenquadrat.“ In Kurzform: a2 + b2 = c2. Damit macht Pythagoras eine Aussage über die erfahrbare Welt. Euklid jedoch geht bei seinem Beweis nicht „empirisch“ vor, d.h. er bezieht sich nicht auf die erfahrbare Welt. Er wendet sich nicht konkreten Objekten zu, rechtwinkligen Dreiecken, und misst sie genau nach, um festzustellen, ob sie alle, groß und klein, grau und bunt, der Aussage des pythagoreischen Satzes entsprechen. Stattdessen versucht er es mit reinem Denken. Hierzu schlägt Euklid eine Reihe von anderen, einfacheren Sätzen vor, aus denen die Aussage des pythagoreischen Satzes folgt. Diese einfacheren Sätze sind nicht für sich unmittelbar einsichtig. Euklid leitet sie wiederum aus so genannten Definitionen, Postulaten und Axiomen ab. Diese Grundannahmen sollen das Problem des infiniten Regresses lösen, also die Schwierigkeit, die darin besteht, dass alles, was als Begründung angeführt werden kann, selbst wiederum der Begründung bedarf. In den Augen der Rationalisten, die sich Euklids Methode zum Vorbild nehmen, erübrigt sich die Problematik des infiniten Regresses bei Euklid, da nämlich die Axiome, mit denen das euklidische Begründungsverfahren seinen Abschluss findet, selbst unmittelbar einleuchtend sind. Statt „unmittelbar einleuchtend“ kann man auch sagen „augenfällig“ oder im philosophischen Jargon „selbstevident“, und gemeint sind Aussagen wie etwa „kein X, was immer es auch sei, kann sich zugleich an zwei unterschiedlichen Plätzen befinden“. Derlei ist jedem klar. Da gibt es nicht zu hinterfragen. Will man meinen.

Mit dieser Methode der Ableitung komplexer Zusammenhänge aus einfachen, selbstevidenten Aussagen gelingen Euklid bemerkenswerte Feststellungen über die empirische Welt. Unter anderem beweist er, dass es nur fünf so genannte platonische Körper gibt, zu denen beispielsweise der Würfel gehört, d.h. dreidimensionale Körper, deren Seiten alle gleich sind.
 
2.1.3.1 – Cartesianischer Rationalismus - die erkenntnistheoretische Verallgemeinerung des Euklidischen Ideals

Bewunderer des Euklid und selbst bedeutender Geometer, den wir nicht zuletzt durch das nach ihm benannte Koordinatensystem kennen, schickt sich Descartes an, eine Theorie des unbezweifelbaren Wissens more geometrico, sprich nach Art der euklidischen Geometrie, zu konstruieren.

Zunächst geht Descartes davon aus, dass ein Sachverhalt, über den auch nur der geringste Zweifel besteht, nicht als wahr angesehen werden kann. Mit anderen Worten: Wenn etwas als wahr gelten soll, dann hat man sich seiner Wahrheit absolut sicher zu sein. Die Suche nach Wahrheit beginnt daher für Descartes mit der Suche nach Gewissheit. Die Strategie, die er hierzu anwendet, zielt darauf ab, die Skeptiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Denn Descartes glaubt, durch äußerste Radikalisierung des Skeptizismus in den Bereich zweifelsfreien Wissens durchbrechen zu können. Er wendet seine so genannte Methode des Zweifels an, mit der er alle Irrtümer durchgeht, die dem Menschen unterlaufen können, von optischen Täuschungen verschiedenster Art bis zu jenen Träumen, bei denen der Schläfer sich in der Wirklichkeit zu befinden glaubt. Descartes versucht noch weiter zu gehen und sucht nach den Bedingungen der umfassendsten und vollkommensten Täuschung des Menschen. Zu diesem Zweck stellt er sich eine Welt vor, die von einem bösen Geist beherrscht wird, der sich ganz der Aufgabe verschreibt, den Menschen so gründlich zu täuschen als dies überhaupt möglich ist. Wenn Irrtümer faule Äpfel sind, dann kann man Descartes Methode damit vergleichen, alle faulen Äpfel auszusortieren, bis nur noch die gesunden Äpfel, d.h. Bewusstseinsinhalte, die unbezweifelbar sind, übrigbleiben. Und so stellt Descartes schließlich die Frage: Wenn wir einem solchen vollkommenen Meister der Irreführung ausgesetzt wären, könnte es dennoch irgendetwas geben, worüber er uns nichts vormachen könnte? Descartes Antwort auf diese Frage markiert die Kehrtwende, wo der Pfad des Zweifels umbiegt, um zum Pfad der Gewissheit zu werden. Denn Descartes erkennt: Der böse Dämon mag mich täuschen, wie er will, er kann mich jedoch nicht dazu bringen, dass ich denke, wenn ich tatsächlich nicht denke. Und wenn ich von ihm getäuscht werde und deshalb Falsches denke, so denke ich doch. Und denken kann ich nur, wenn ich existiere. Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Mit dem Cogito ist freilich nicht nur Denken gemeint, sondern jede Form von bewusster Wahrnehmung und Erfahrung. Cogito ergo sum bedeutet daher so viel wie: Mich erfüllt ein Bewusstsein, daher existiere ich. Mit dieser Überlegung glaubt Descartes, den Punkt absoluter Zweifelsfreiheit erreicht zu haben.

Doch schon hat er mit einem neuen Problem zu kämpfen. Denn obwohl er zu Aussagen gelangt ist die, wie er denkt, unbezweifelbar sind, ist sich Descartes darüber im Klaren, dass aus diesen Aussagen nichts zu folgern ist, was zwingend wahr sein muss. Bewusstsein von etwas zu haben, ist nicht gleichbedeutend mit unfehlbarem Wissen.

Was nun? Nachdem er gezeigt zu haben glaubt, dass man sich gewisser Bewusstseinsinhalte absolut sicher sein kann - wie etwa dem Ich denke, also bin ich - ist Descartes bemüht, Bewusstseinsinhalte aufzuspüren, die in der Tat ein sicheres Wissen verbürgen. In seinen Augen ist die Vorstellung von Gott ein solcher Bewusstseinsinhalt. Denn, so argumentiert er, als geringfügiges und endliches Geschöpf kann der Mensch unmöglich die Vorstellung eines unendlichen Wesens (Gott) aus sich erschaffen. Eine derartige Vorstellung muss ihm eingepflanzt werden. Nur Gott vermag dies. Auf diese Weise drückt Gott seinem Werk, dem Menschen, sein Gütesiegel auf. Und Gott, in seiner unendlichen Güte, täuscht den Menschen nicht unnötig. Deshalb gewährt Gott dem gewissenhaften, unermüdlich und ehrlich suchenden Denker Zugang zu sicherem Wissen, zur unverbrüchlichen Wahrheit.

Die Vollendung des kartesischen Arguments für die Möglichkeit sicheren Wissens stützt sich also auf dogmatische Postulate. Sie mögen zutreffen, aber sie sind nicht zwingend logisch. Für Descartes muss Wissen, um echtes Wissen zu sein, durch eine letzte Autorität beglaubigt sein. So betrachtet, entbehrt es nicht einer gewissen inneren Stimmigkeit, dass der Schlussstein seines rationalistischen Wissensmodells aus einem Argument besteht, das man nur dann als fraglos gültig akzeptieren kann, wenn man die unfehlbare Autorität ihres Proponenten unterstellt. In diesem Sinne entspricht der kartesische Rationalismus einem  autoritären Glaubensbekenntnis.

Descartes gerät bei dem Versuch, eine letzte Instanz absolut sicheren Wissens im Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Gottesbeweises zu begründen, in einen Zirkel, also in eine der Sackgassen des Münchhausenschen Trilemmas. Er argumentiert, dass er um die Existenz Gottes mit absoluter Gewissheit weiß und dieser Gewissheit fähig sei, weil es Gott gibt. Die Existenz Gottes gilt ihm als nachgewiesen, weil er diesbezüglich über sicheres Wissen verfüge. Die Gewissheit dieses Wissens wiederum sei verbürgt durch die Existenz Gottes.

Descartes misslingt der Nachweis eines fundamentum absolutum inconcussum veritatis, das heißt eines in sich ruhenden, unerschütterlichen Grunds völlig gewisser Wahrheit. Gescheitert ist das ehrgeizige Projekt des naiven Rationalismus, sich durch bloße Reflexion eines Kriteriums zu bedienen, das als allgemeines Wahrheitsmerkmal fungiert, also systematisch, verlässlich und immer absolut sicheres Wissen für uns untrüglich erkennbar macht.

Doch schon das euklidische Vorbild des cartesianischen Rationalismus kann die in es gesetzten erkenntnistheoretischen Erwartungen nicht erfüllen.

Eine der Grundannahmen Euklids löst eine Kontroverse aus, die sich über zweitausend Jahre hinziehen und die Geometrie schließlich revolutionieren wird. Den Stein des Anstoßes liefert das sogenannte Parallelenaxiom. Früh schon melden sich mathematische Dissidenten, die dieses Axiom keineswegs für selbstevident halten und daher einen Beweis seiner Richtigkeit verlangen. Im 19. Jahrhundert ergibt einer der vielen Anläufe, dieses Axiom zu beweisen oder zu widerlegen, Anhaltspunkte, die schließlich zu alternativen Geometrien ausgebaut werden. Zur euklidischen Geometrie, in der jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad besitzt, gesellen sich zwei neue Geometrien, die sogenannte elliptische oder Riemannsche Geometrie, in der sich die Dreieckswinkel zu mehr als 180 Grad summieren, und die hyperbolische Geometrie, in der jedes Dreieck eine Winkelsumme von weniger als 180 aufweist.
Kommt hinzu, dass Einstein, dessen Raum-Zeit-Model dasjenige der klassischen Physik verdrängt, anders als Newton, dessen Physik auf der euklidischen Geometrie beruht, seine neue Physik auf die Grundlage der elliptischen Geometrie stellt.

Insofern als der Rationalismus in der euklidischen Geometrie den Beweis dafür erbracht sieht, dass sichere Wahrheit auch über die Dinge unserer Erfahrungswelt durch reine Reflexion erzielt werden kann, ist das rationalistische Projekt angesichts des Aufkommens der nichteuklidischen Geometrien aus wenigstens zwei Gründen gescheitert. Zum einen, ist es schwer von einem Axiom als „unmittelbar einleuchtend“ zu sprechen, wenn über Jahrtausende hinweg ein Disput unter den Kundigen darüber herrscht, was es besagt und was nicht. Das für den Rationalismus unverzichtbare Argumentationsstadium der Selbstevidenz wird nicht erreicht. Was der eine für selbstevident hält, ist es dem anderen keineswegs. Und selbst, wenn ein Konsensus über scheinbar selbstevidente Zusammenhänge herrscht, erleben wir immer wieder das Auftauchen neuer Erkenntnisse, die das einst unbezweifelbar erscheinende als Irrtum entlarven („die Sonne dreht sich um die Welt“, „die Erde ist flach“ etc).

Zum anderen hat das Auftreten alternativer Geometrien die Folge, dass eine zutreffende Beschreibung des Raums, die man mit Hilfe der euklidischen Geometrie durch reines Denken erreicht zu haben glaubte, sich letzten Endes als eine Frage herausstellt, die nicht ohne empirische Mittel zu entscheiden ist, und im übrigen inzwischen von einem Großteil der Physiker zuungunsten der nichteuklidischen Geometrie beantwortet wird.


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