Image credit. |
Von
Whitehead stammt die Sentenz:
Civilization
advances by extending the number of important operations which we can perform
without thinking about them.
Man
könnte die Aussage sinngemäß vielleicht so übersetzen:
Die Zivilisation schreitet voran, indem die Anzahl der
Verrichtungen wächst, die wir durchführen können, ohne sie uns bewusst zu
machen.
Wir
schalten das Licht an, wir drehen die Heizung auf, wir fahren von Berlin nach
Braunschweig, im Auto, in der Bahn. Normalerweise machen wir uns keine Gedanken
darüber, wie diese Verrichtungen überhaupt möglich sind. Von den meisten
Abläufen, die hierzu erforderlich sind, zum Beispiel ein Haus mit elektrischem
Licht zu versorgen, fehlt uns jedes tiefere Verständnis. Wir lassen fremdes
Wissen für uns arbeiten.
Niemand
erfasst das wabernde, wachsende, sich ständig erneuernde Gesamtgebilde unseres
Wissens, aber jeder bedient sich seiner, größtenteils ohne es zu bemerken.
Die große
Bedeutung des tradierten Wissens
Das
sokratische Diktum „ICH weiß, dass ICH
nichts weiß“ soll uns auch daran erinnern, dass jeder Mensch den weitaus
größten Teil seines Wissens aus der Tradition übernimmt, aus dem, was andere Menschen,
lebende und verstorbene, nach und nach beigetragen haben zur Fülle an Wissensbeständen,
die uns Menschen zugänglich sind.
Der
große Wissensvorsprung des Menschen gegenüber anderen Tieren beruht auf seiner
Befähigung zur Objektivität. Das menschliche Individuum ist in der Lage, seine
subjektiven Eindrücke und Vorstellungen zum Gegenstand der Betrachtung, der
Kritik und Ergänzung durch die Gedanken anderer Menschen zu machen. Er kann
seine Subjektivität gewissermaßen auspacken und auf den Tisch legen, damit
andere sie begutachten können. Damit wird der Wissensfortschritt zum Projekt
einer gesamten Gattung, an dem zahllose Menschen und Generationen beteiligt
sind. Insofern der Mensch Objektivität praktiziert, sich am Prozess der
Objektivierung, dem Auspacken und Veröffentlichen des Subjektiven beteiligt,
beinhaltet kreatives, kritisches, sich entwickelndes Denken zugleich auch einen
Akt des Tradierens, der Überlieferung von Wissen an Andere: das Wissen des
Einen gelangt in den Wissenskreislauf eines Anderen.
Es
ist ein Irrtum, die Wissenskultur unserer Gattung auf das Denkvermögen des einzelnen
Menschen, auf etwas, was sich im Hirn abspielt, zu reduzieren. Die Abläufe
unserer Wissenskultur sind in ihrer Gänze größtenteils unsichtbar. Wir erleben
unser persönliches Denken sehr intensiv, als etwas intimes, etwas sich in
uns abspielendes, zu uns gehörendes. Das Denken anderer Menschen verbinden wir
meist mit den Merkmalen einer persönlichen Leistung, sei es einem Redebeitrag,
einer Nachricht oder einem Buch. Es ist daher verlockend, aber eben irrig und
sogar gefährlich das für den Bestand und die gedeihliche Entwicklung unserer
Zivilisation benötigte Wissen (und Denken) im Wesentlichen gleichzusetzen mit
dem Wissen (und Denken) des Individuums. Dieser Irrtum begünstigt den naiven
Rationalismus und andere Vorstellungen, die echtes, gültiges, zu befolgendes,
herrschaftsberechtigtes Wissen dem entsprechend geschulten Individuum zuordnen,
und letzten Endes zu einer Sache persönlicher Autorität machen.
In
Wirklichkeit sind die Denkfähigkeit und das Wissen des Individuums nur ein Teil
einer weitläufigen spontanen Ordnung, über die kein noch so weiser Mensch,
Herrschaft auszuüben vermag. Innerhalb dieser spontanen Ordnung taugt unser
Denken desto mehr, je besser es verzahnt ist mit anderen Mitteln der
Wissensbildung und intellektuellen Orientierung, die sich autonom entwickelt
haben und Autonomie genießen, also nicht das Geschöpf oder der Befehlsempfänger
unseres Verstandes sind.
So muss sich das Versuchswissen des Menschen (a) abarbeiten
am Hindernisparcour der Welt 3, die unsere Anschauungen der unerbittlichen
Disziplin von nach und nach entdeckten Fakten und Implikationen unterwirft, die
unabhängig von unserem Gutdünken sind.
Und so ist es auch nicht unser Verstand,
der die menschliche Sprache erschafft, sondern (b) erst im Zuge der Evolution
unserer Sprache prägen sich die Leistungsmerkmale, aber auch die Grenzen
unseres Verstandes aus. Die Möglichkeiten des Verstands sind ein Geschenk, kein
Eigenerzeugnis.
Zwei weitere Gesichtspunkte gilt es zu berücksichtigen, um sich
klar zu machen, dass unser Denken und Wissen in hohem Maße abhängig ist von
seiner Stellung in einer großen spontanen, eben nicht menschengemachten
Ordnung. Selbst die besten Früchte der Wissensbildung sind das Resultat von
Prozessen, die nicht der individuellen Geistestätigkeit, sondern der
Interaktion vieler Menschen und einem über das Individuum weit hinausreichenden
Spiel der Anpassung an andere autonome Einflüsse entspringt, siehe Punkt (a) in
diesem Abschnitt. Das gilt nicht nur für explizites Wissen, wie etwa die ausdrücklich
formulierten Theorien Albert Einsteins, der, bei aller Genialität und
Originalität, seine Theorien nie ohne die Überlieferung und die Einflüsse
zahllose Vorgänger und Zeitgenossen hätte entwickeln können.
Dass
unser Wissen eine Anpassung an einen gewaltigen endogenen, nicht von uns
erzeugten Kontext darstellt, erkennt man auch am umfangreichen Gebrauch, den
wir Menschen von nichtexplizitem Wissen machen. Wissen, das man sich per
Imitation und intuitives Geschick aneignet, wie die Fähigkeit Fahrrad zu
fahren, oder solches Wissen, in dem Erfahrungen komprimiert sind, mitunter
sogar von vielen Generationen, die wir uns in Form von Gepflogenheiten oder
Regeln („Du sollst nicht stehlen“) zueigen machen, ohne ermessen zu können,
aufgrund welcher millionenfacher Umstände die in ihnen vermittelten Lehren zu
einem stabilen Teil unserer Kultur geworden sind.
In
ihrer Suche nach einer persönlichen oder einer methodischen Autorität, eben
einer letzten Instanz, die ihnen verrät, wann oder dass sie Wissensgewissheit
erreicht haben, verkennen die erkenntnistheoretischen Dogmatiker, das der
Erkenntnisfortschritt ein offener Prozess ist, von dem niemand wissen kann,
welche Einflüsse seine nächste Erweiterung- und Umgestaltungsetappe bestimmen
werden und wie der neue Grenzverlauf unseres Wissen aussehen wird. Erkenntnis entsteht aus
Ungewissheit und erzeugt neue Ungewissheit. Die kritische Methode, die den
Erkenntnisfortschritt vorantreibt, ist ein spontaner Anpassungsprozess im
Dienste der Bewältigung einer veränderlichen Welt voller Rätsel und
unvorhersehbarer Ereignisse. Erkenntnisfortschritt ist uns nur deshalb möglich,
weil wir in Ungewissheit leben und
fehlbar sind; weil wir es verstehen,
mit unserer unüberwindlichen Wissensungewissheit und Fehlbarkeit geschickt
umzugehen.
Der
Traum vom sicheren Wissen ist ein verfehlter und gefährlicher Traum. Denn wenn
wir Wissensgewissheit besäßen, bezöge sie sich, wegen unserer Geringfügigkeit
relativ zum Universum, nur auf einen verschwindend kleinen Ausschnitt des für
uns maßgebenden Kosmos. Wissensgewissheit wäre nichts anderes als radikale
Borniertheit. Wir würden nicht mehr lernen, weil wir glaubten, alles bereits zu
wissen.
Wir
kommen gar nicht über das vorläufige Stadium eines Gedankenexperiments hinaus,
wenn wir uns vorzustellen versuchen, was es bedeuten würde, Wissensgewissheit
in der menschlichen Gemeinschaft zu erzielen. Denn selbst in den
veränderungsfeindlichsten Stadien der menschlichen Geschichte, ist es nie
gelungen, den aus Neugier, Zweifel und Ungewissheit entstehenden Drang des
Menschen, bestehendes Wissen in Frage zu stellen und neues Wissen zu erproben,
ganz und gar auszuschalten. Denn ohne den ständigen Ausbruch aus dem gewohnten
Denken könnten wir nicht überleben. Nicht nur wissenschaftliche Expeditionen
ins Reich des Ungedachten und Unversuchten verschieben die Grenze unseres
Wissens. Schon der gewöhnliche Alltag verlangt von uns, dass wir ins Ungewisse
hinausschreiten, dass wir unser bisheriges Wissen in Frage stellen,
herausfordern, revidieren, erneuern.
No comments:
Post a Comment