Tuesday, 13 December 2016

Wissen (11)

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Wenn es auch keine reinen Urquellen gibt, aus denen die Wahrheit, die Weisheit oder absolut sicheres Wissen fließen, so gibt es freilich zahllose Quellen, die unser versuchsweises Wissen speisen. Keine von ihnen ist privilegiert, keine per se besser als die andere, keine von vorneherein besonders wünschenswert, keine grundsätzlich unwillkommen. Sie sind alle gleich vor dem Gericht der Objektivität: die falsche Theorie eines Nobelpreisträgers nicht anders als das Gestammel eines Dorftrottels, der darin die Relativitätstheorie vorwegnimmt.

Die mit Abstand am üppigsten sprudelnde Quelle unseres Wissens ist die Überlieferung. Fast alles, was wir wissen, haben wir von anderen übernommen, durch Imitation, durch Belehrung, durch die Lektüre von Büchern, durch das Erlernen der Techniken rationaler Kritik. Unser Wissen entsteht nicht aus dem Nichts. Es tropft auch nicht auf eine leere Platte (tabula rasa). Denn es ist uns zum einen angeboren, in Form von Erwartungen und Verhaltensdispositionen. Zum anderen übernehmen wir es von unserer Kultur, von unseren lebenden und unseren verstorbenen Mitmenschen.

Und so gelingt uns der Wissensfortschritt in erster Linie durch Abwandlung und Fortentwicklung bestehenden Wissens. Der Verstand, den der cartesianische Rationalismus als autoritative Wissensquelle ansieht, ist von dem in uns vorgeformten und dem tradierten Wissen abhängig. Das gilt ebenso für die vermeintlichen Quellen sicheren Wissens, die der Empirismus benennt: Wahrnehmung, Beobachtungen, Erfahrungen, die Lehren, die uns durch unsere Sinnesorgane erreichen. Somit können Erfahrung bzw. Verstand nicht die reinen Quellen des Wissens sein, die der Empirismus bzw. der Rationalismus in ihnen sieht. Keine Garanten unumstößlicher Erkenntnis, sind Erfahrung und Verstand jedoch wichtige Werkzeuge bei unseren Bemühungen, der Wahrheit durch kritische Prüfung und ständige Erneuerung unserer Theorien näher zu kommen.

Für den Menschen gibt es weder einen Direktzugang zur Wahrheit, noch die Gewissheit, ihrer teilhaftig zu sein. Die Umwelt, in der unsere Gattung irgendwann auftaucht - so viel später und so viel weniger maßgeblich als andere Bestimmungsfaktoren unseres Schicksals - ist zu tief gestaffelt, zu verschachtelt, zu kompliziert, zu verknotet, zu sehr verpackt in komplexe Rückkoppelungsschleifen, als dass es für uns ein Wahrheitskriterium geben könnte, wenn wir darunter ein Siegel verstehen wollen, das eine Wahrheit als vollständig und endgültig beglaubigt. Immer kann aus der Fülle des Universums etwas Neues, Unerwartetes hervortreten, das uns zwingt, unsere bisherigen Annahmen zu verwerfen. Es scheint vielleicht zunächst befremdlich und paradox, aber sicheren Boden finden wir auf dem Weg zu besserer Erkenntnis nicht im Nachweis der Wahrheit, sondern im Nachweis des Irrtümlichen. Während wir nicht dazu ausgestattet sind, die Wahrheit sicher zu erkennen (d.h. zu verifizieren), sind wir recht gut darin, Unstimmiges, Widersprüchliches oder Unwahres aufzuspüren (d.h. zu falsifizieren).

Warum aber sind wir so schlechte Wahrheitsfinder, und desto bessere Entlarver des Unwahren? Woher die Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation? Warum können wir uns beim Ausbau unseres Wissens besser auf die Erkenntnis eines Irrtums, als auf die Erkenntnis der Wahrheit verlassen?

Vielleicht hat es etwas damit zu tun, wie geringfügig der Mensch gemessen am Universum ist? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass das Angebot an Wirklichkeit, das Angebot an Möglichkeiten, die das Universum bereithält, unendlich ist, während der Mensch immer nur an einem kleinen, wandernden, stets Neues anbietenden Ausschnitt dieser Fülle beteiligt sein kann. (Man mache sich beispielsweise bewusst, wie die Menschen vor 100 000 Jahren über das Phänomen des Feuers dachten und wie sie mit ihm umgingen, und was wir heute über dieses Phänomen wissen und wie wir es für uns nutzen. Vor zweihundert Jahren war Erdöl, das, sagen wir, auf einer Weide austrat, um eine Lache zu bilden, ein nutzloser Dreck oder gar ein Ärgernis; nicht viel später wurde der gleiche Rohstoff zur Grundlage einer beispiellos mobilen Weltgesellschaft.)

Vielleicht hat der größere Erfolg der fallibilistischen Vorgehensweise etwas damit zu tun, dass der Mensch immer nur Segmente einer weit über ihn hinausreichenden Realität zu erfassen vermag, indes große Teile dieser Realität ihm auf immer unbekannt bleiben, auch wenn sie zum Teil bestimmend für sein Schicksal sind. Vielleicht kann der Mensch sich immer nur vorläufig vergewissern, ob er für diesen oder jenen Streifen Realität geschaffen ist, ob er mit ihm zurechtkommt und sich dort wohlfühlt, um sich andererseits fernzuhalten, sich zurückzuziehen von Territorien der Wirklichkeit, für deren Wahrnehmung und Besiedelung er (noch) nicht geschaffen ist.

Vielleicht kommen wir der Stellung des Menschen im Universum mit einem Bild ein wenig näher: Ein Insekt krabbelt über den Rücken eines Elefanten, der bald in Gefangenschaft geraten wird, um per Flugzeug von Afrika nach Australien verfrachtet zu werden, wo er als Teil eines Zirkus schließlich auf Weltreise geht – immerzu in Begleitung dieses Insekts, das freilich auch unentwegt Neues erfährt und sich vor ihm bewähren muss. Vielleicht ist der Mensch wie ein dicker, großer Fisch, der ein nagelneues Auto, das ins Meer gestürzt ist, mit seinen Möglichkeiten erkundet und nach und nach besiedelt. Er kann die Situation nur bis zu einem gewissen Grade verstehen und für sich nutzen. Bis zur vollen Wahrheit ist es noch ein langer Weg. Vielleicht ein unendlicher. Dass wir mit Falsifikation - der Suche nach Fehlern und Irrtümern, dem Weniger-Falschen, statt dem Absolut-Richtigen - besser beraten sind, als mit Verifikation - der Suche nach vollkommener und endgültiger Wahrheit - ist wahrscheinlich eine Frage der wirkungsvollsten Anpassung an unsere Umgebung. Wir konzentrieren uns schlichtweg auf das, was wir wirklich erfassen und praktisch bewältigen können.

Wie wir es tun, wenn wir des Nachts in einem fremden, stockfinsteren Haus umherschleichen, orientiert sich das fallibilistische Denken an dem, was sich einstweilen zu bewähren scheint. Wir rennen nicht los als kennten wir selbst im Dunkeln jeden Millimeter des unvertrauten Hauses. Nein, wir gehen vorsichtig tastend zu Werke, und bewegen uns erst, wenn wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass wir einen falschen Schritt tun werden. Selbst wenn uns dieses Vorgehen glückt (Erkenntnisfortschritt), wissen wir nur sehr wenig über das fremde Haus (die Wahrheit).


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