Wednesday, 7 December 2016

Wissen (7)



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Sokrates - Objektivität und das objektiv Wahre

Objektivität ist nicht das, wofür sie gemeinhin gehalten wird. Die populäre Vorstellung von Objektivität kommt in Redewendungen zum Ausdruck wie dieser: "Aber das ist doch eine objektive Tatsache!" Wer sich so äußert, will das Unbezweifelbare eines Sachverhaltes hervorheben. Objektivität ist nach dieser Sichtweise gleichbedeutend mit endgültiger Gewissheit. Doch Gewissheit ist genau das, was Objektivität nicht leistet. Ganz im Gegenteil. Sie ist ein unentwegter Unruhestifter. Ein Spielverderber, der sorgfältig errichtete Kartenhäuser zum Einsturz bringt. Ein unablässiger Nörgler. Ein Bilderstürmer. Ein ungläubiger Thomas.

Um Objektivität besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit einigen einzigartigen Merkmalen der menschlichen Sprache zu befassen. Diese wichtigen Besonderheiten der menschlichen Sprache lassen sich leicht übersehen. Denn, was uns oft vor allem auffällt sind die Gemeinsamkeiten, die unsere Sprache mit den Sprachen anderer Lebewesen aufweist. Es ist durchaus so, dass die Sprachen der Tiere einige wichtige Funktionen mit der Sprache des Menschen teilen. So kann z. B ein Hund sich zweifellos ausdrücken, Dinge signalisieren („Ich habe Hunger“) und Antworten erteilen ("Nein, das will ich nicht"). Er kann, wie der Mensch und viele andere Tiere, innere Zustände („Mir ist bange“) und Befindlichkeiten („Du machst mich aggressiv“) ausdrücken und andere Wesen durch sein Ausdrucksvermögen beeinflussen („Lass uns miteinander spielen“).

Es gibt jedoch Funktionsschichten der Sprache, die nur dem Menschen zu Gebote stehen. Die erste dieser Funktionsschichten, die sich bei anderen Tieren nicht feststellen lassen, kann man als die deskriptive Funktion der Sprache bezeichnen. Wenn man von den aller rudimentärsten Ansätzen absieht, so kann man konstatieren, dass die Sprache der Tiere keine deskriptive Dimension umfasst: Ein Pferd ist nicht in der Lage, den kürzesten Weg von Lincoln in Nebraska nach Kaiserslautern in Deutschland zu beschreiben. Es ist zweifelhaft, ob das bei Bienen zu beobachtende Anzeigen der Richtung, in der sich Futter befindet (Bienentanz), vergleichbar ist mit der bewussten, sehr anspruchsvollen Denkleistung, die den Menschen dazu befähigt, die komplizierte Beschreibung eines völlig neuartigen Sachverhalts zu kommunizieren. In jedem Fall ist die Fähigkeit nichtmenschlicher Tiere, Dinge zu beschreiben, unvergleichlich geringer entwickelt als beim Menschen.

Dieser Unterschied ist sehr wichtig. Er zeigt einen Übergangsbereich auf, wo ein deutlicher Unterschied zwischen Tier und Mensch entsteht. Denn mit der Entwicklung einer hoch entwickelten deskriptiven Funktionsschicht schafft die menschliche Sprache ein Instrument, mit dessen Hilfe es möglich ist, Beschreibungen und immer detailliertere Beschreibungen zu vergleichen. Denn wer Beschreibungen geben kann, der ist auch in der Lage, Unterschiede zwischen Beschreibungen zu beschreiben. 

Diese einzigartige Fähigkeit des Menschen begünstigt wiederum die Ausbildung von Vorstellungen der Korrektheit und Falschheit, der Wahrheit und Unwahrheit. Es entsteht eine neue Funktionsschicht der menschlichen Sprache, jene, die uns in die Lage versetzt, Kritik zu üben. 

Auf dieser Grundlage kann sich die nächst höhere Funktionsschicht herausbilden, die argumentative Dimension der menschlichen Sprache, also die Fähigkeit auf immer differenziertere Art und Weise, unterschiedliche Meinungen zu artikulieren. Und so ist schließlich der Mensch, und nur der Mensch, in der Lage, komplizierte Argumentationen durchzuführen, differenzierte Hypothesen zu formulieren, zu analysieren, zu bewerten, kritisch auf Konsistenz und Widerspruchsfreiheit hin zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen.

Im Gegensatz dazu sind Tiere in ihrer Subjektivität gefangen. Es ist das einzigartige Privileg des Menschen, seine Subjektivität aus seinem Inneren heraus zu lösen, zu einem Gegenstand werden zu lassen, der für andere Menschen wahrzunehmen und durch Kommentierung aktiv bewertet und ergänzt werden kann. 

Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch also in der Lage, seine Subjektivität zum  Objekt einer kritischen Debatte zu machen: Objektivität bezeichnet nichts anderes als diese einzigartige Fähigkeit des Menschen. Objektivität bezeichnet das einzigartige menschliche Vermögen, seine inneren Gedanken und Eindrücke anderen offen zu legen, deren Rückmeldungen auszusetzen und auf sie seinerseits zu reagieren. 

Die im Inneren des Menschen verschlossen Subjektivität, kann in Verbindung treten mit der Subjektivität anderer Menschen. Der intime Gesichtskreis eines Individuums wird nun zugänglich für die Bestätigung, die Prüfung oder die Erweiterung durch die Empfindungen, Gedanken und Erfahrungen anderer Individuen. Auf diese Weise vernetzt sich der vereinzelte, rein subjektive Geist mit einer Hyper-Intelligenz, die mit der Erfahrungsfähigkeit aller anderen Menschen verbunden ist, ja es sogar vermag, in die Erfahrungen jener hineinzureichen, die nicht mehr leben, wenn wir die Kulturerrungenschaft einer Schriftsprache und die Fähigkeit zu lesen unterstellen.

Wenn wir von Objektivität in diesem Sinne sprechen, sprechen wir ausdrücklich nicht von Gewissheit. Im Gegenteil, Objektivität ist das Mittel, kraft dessen der Mensch seinen letzten Wissensstand unentwegt zu überholen vermag. Objektivität macht es der Menschheit möglich, ihre letzten Vorstellungen von Wirklichkeit und Wahrheit ununterbrochen zu verfeinern, zu verändern und mitunter auch zu revolutionieren.

Der Mensch ist nicht im Besitze von „objektivem“ Wissen in dem Sinne wie die populären Vorstellungen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit es gerne verheißen. Das vorläufige Wissen des Menschen ist plastisch, veränderlich, vergänglich. Der Mensch hat es mit hypothetischem Wissen zu tun. Gottlob, denn diese Art von transitorischem (vorläufigem) Wissen ist offen für Wachstum, Sanierung, Anpassung und eine fortgesetzte Annäherung an die Wahrheit.

Der Mensch ist somit auf einzigartige Weise darauf vorbereitet, mit der Ungewissheit seiner Umwelt fruchtbar umzugehen. Die höheren Funktionsschichten der menschlichen Sprache, insbesondere die deskriptive, die kritische und die argumentative, sorgen dafür, dass Objektivität ein Menschheitsprojekt von immanenter und endloser Ungewissheit ist.

Dies ist, was Sokrates meinte, als er ausrief:" Ich weiß, dass ich nichts weiß."

Freilich müssen wir unterscheiden zwischen Objektivität und objektiver Wahrheit. Objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung eines behaupteten Sachverhalts mit den Tatsachen. Objektivität ist die spezifisch menschliche Fähigkeit, aus der Subjektivität des eigenen Bewusstseins herauszutreten, indem der Mensch kraft seiner Sprache seine subjektiven Gedanken zum Objekt kritischer Prüfung durch andere Menschen macht. Aber alle Menschen sind fehlbar. Wir können zwar durch Objektivität, d.h. vermöge kritischer Prüfung von Sachverhalten durch viele Menschen, großen Erkenntniszugewinn erzielen, nicht aber letzte Sicherheit in der Frage der Übereinstimmung eines behaupteten Sachverhaltes mit den Tatsachen. Möglicherweise gelingt es uns recht häufig, auf das objektiv Wahre zu stoßen, doch wir können nicht immer absolut sicher sein, dass wir dies in einem gegebenen Fall tatsächlich erreicht haben. Wir können Objektivität erreichen. Das objektiv Wahre können wir nicht erreichen. Genauer: Wir können die Gewissheit, auf das objektiv Wahre gestoßen zu sein, nicht erlangen.

Warum nicht?

Der Mensch kann nur leben, weil er getragen wird von Ordnungen, die er nicht geschaffen hat und niemals wird erzeugen können

Der Mensch hat nicht seine Umwelt geschaffen. Seine Umwelt hat ihn geschaffen. Sie ist unendlich vielfältig und hat sich lange vor dem Menschen entwickelt, bis das Universum sich den Menschen als relativ unbedeutendes Detail hinzufügte. Es ist nur natürlich, dass der Mensch einen verschwindend kleinen Ausschnitt dieser ihn hervorbringenden und tragenden Ordnungen und Einflüsse kennt. Im Verhältnis zu diesem unendlich komplexen und reichhaltigen Kranz an Einflüssen kann sein Wissen nur gering und unvollkommen sein – noch allemal im absoluten Sinne (also bezüglich seiner Fähigkeit, alle Einflüsse zu erfassen), aber auch im relativen Sinne (also bezüglich seiner Fähigkeit, nach und nach mehr über einige dieser Einflüsse zu erfahren). Wir sind nicht allwissend. Und wir werden wahrscheinlich nur einen Bruchteil dessen kennenlernen, was wir im Prinzip wissen könnten.

Es ist wohl mehr zu entdecken, als der Menschheit Zeit bleibt, je zu entdecken. Ganz zu schweigen von dem, was auf die Menschen in dieser oder jener Weise schicksalsbedingend wirkt, aber er nie von uns erkannt oder entdeckt werden kann.

Unter diesen Umständen ist Erfolg für unsere Gattung nicht an die Erwartung sicheren und vollkommenen Wissens zu knüpfen, sondern an die Hoffnung, weiterhin ein flexibler Anpasser an die insgesamt unergründlichen Bedingungen seiner Umwelt zu bleiben. Der Mensch benötigt daher enorm subtile und anpassungsfähige Werkzeuge für den intellektuellen Umgang mit dieser fremden, veränderlichen Umwelt. Er braucht ein wandlungsfähiges, unentwegt verbesserungsfähiges, sich häutendes, erneuerndes, ständig selbst überholendes, korrekturfähiges, umbauendes Wissen.

Daher auch die außergewöhnlich große Bedeutung der zuträglichen Aspekte der menschlichen Fehlbarkeit. Der Traum vom absolut sicheren Wissen verkennt die provisorische und periphere Stellung des Menschen in seinem Universum. Die Sehnsucht nach Wissensgewissheit ist ein weiteres Beispiel für anthropomorphes Denken; hier in Gestalt einer anthropomorph verkürzten Kosmologie, die die tatsächliche Vielfalt und Komplexität des den Menschen beeinflussenden Universums völlig unterschätzt und auf das bescheidene Maß menschlicher Vorstellungsgewohnheiten verkleinert.


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