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Sokrates -
Objektivität und das objektiv Wahre
Objektivität
ist nicht das, wofür sie gemeinhin gehalten wird. Die populäre Vorstellung von
Objektivität kommt in Redewendungen zum Ausdruck wie dieser: "Aber das ist
doch eine objektive Tatsache!" Wer sich so äußert, will das Unbezweifelbare
eines Sachverhaltes hervorheben. Objektivität ist nach dieser Sichtweise
gleichbedeutend mit endgültiger Gewissheit. Doch Gewissheit ist genau das, was
Objektivität nicht leistet. Ganz im Gegenteil. Sie ist ein unentwegter
Unruhestifter. Ein Spielverderber, der sorgfältig errichtete Kartenhäuser zum
Einsturz bringt. Ein unablässiger Nörgler. Ein Bilderstürmer. Ein ungläubiger
Thomas.
Um
Objektivität besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit einigen einzigartigen
Merkmalen der menschlichen Sprache zu befassen. Diese wichtigen Besonderheiten
der menschlichen Sprache lassen sich leicht übersehen. Denn, was uns oft vor
allem auffällt sind die Gemeinsamkeiten, die unsere Sprache mit den Sprachen
anderer Lebewesen aufweist. Es ist durchaus so, dass die Sprachen der Tiere
einige wichtige Funktionen mit der Sprache des Menschen teilen. So kann z. B
ein Hund sich zweifellos ausdrücken, Dinge signalisieren („Ich habe Hunger“)
und Antworten erteilen ("Nein, das will ich nicht"). Er kann, wie der
Mensch und viele andere Tiere, innere Zustände („Mir ist bange“) und
Befindlichkeiten („Du machst mich aggressiv“) ausdrücken und andere Wesen durch
sein Ausdrucksvermögen beeinflussen („Lass uns miteinander spielen“).
Es
gibt jedoch Funktionsschichten der Sprache, die nur dem Menschen zu Gebote
stehen. Die erste dieser Funktionsschichten, die sich bei anderen Tieren nicht
feststellen lassen, kann man als die deskriptive
Funktion der Sprache bezeichnen. Wenn man von den aller rudimentärsten
Ansätzen absieht, so kann man konstatieren, dass die Sprache der Tiere keine
deskriptive Dimension umfasst: Ein Pferd ist nicht in der Lage, den kürzesten
Weg von Lincoln in Nebraska nach Kaiserslautern in Deutschland zu beschreiben.
Es ist zweifelhaft, ob das bei Bienen zu beobachtende Anzeigen der Richtung, in
der sich Futter befindet (Bienentanz), vergleichbar ist mit der bewussten, sehr
anspruchsvollen Denkleistung, die den Menschen dazu befähigt, die komplizierte
Beschreibung eines völlig neuartigen Sachverhalts zu kommunizieren. In jedem
Fall ist die Fähigkeit nichtmenschlicher Tiere, Dinge zu beschreiben,
unvergleichlich geringer entwickelt als beim Menschen.
Dieser
Unterschied ist sehr wichtig. Er zeigt einen Übergangsbereich auf, wo ein
deutlicher Unterschied zwischen Tier und Mensch entsteht. Denn mit der
Entwicklung einer hoch entwickelten deskriptiven Funktionsschicht schafft die
menschliche Sprache ein Instrument, mit dessen Hilfe es möglich ist,
Beschreibungen und immer detailliertere Beschreibungen zu vergleichen. Denn wer
Beschreibungen geben kann, der ist auch in der Lage, Unterschiede zwischen
Beschreibungen zu beschreiben.
Diese einzigartige Fähigkeit des Menschen
begünstigt wiederum die Ausbildung von Vorstellungen der Korrektheit und
Falschheit, der Wahrheit und Unwahrheit. Es entsteht eine neue Funktionsschicht
der menschlichen Sprache, jene, die uns in die Lage versetzt, Kritik zu üben.
Auf dieser Grundlage kann sich die nächst höhere Funktionsschicht herausbilden,
die argumentative Dimension der menschlichen Sprache, also die Fähigkeit auf
immer differenziertere Art und Weise, unterschiedliche Meinungen zu
artikulieren. Und so ist schließlich der Mensch, und nur der Mensch, in der
Lage, komplizierte Argumentationen durchzuführen, differenzierte Hypothesen zu formulieren,
zu analysieren, zu bewerten, kritisch auf Konsistenz und Widerspruchsfreiheit
hin zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen.
Im
Gegensatz dazu sind Tiere in ihrer Subjektivität gefangen. Es ist das
einzigartige Privileg des Menschen, seine Subjektivität aus seinem Inneren
heraus zu lösen, zu einem Gegenstand werden zu lassen, der für andere Menschen
wahrzunehmen und durch Kommentierung aktiv bewertet und ergänzt werden kann.
Im
Gegensatz zum Tier ist der Mensch also in der Lage, seine Subjektivität zum Objekt
einer kritischen Debatte zu machen: Objektivität bezeichnet nichts anderes
als diese einzigartige Fähigkeit des Menschen. Objektivität bezeichnet das
einzigartige menschliche Vermögen, seine inneren Gedanken und Eindrücke anderen
offen zu legen, deren Rückmeldungen auszusetzen und auf sie seinerseits zu
reagieren.
Die im Inneren des Menschen verschlossen Subjektivität, kann in
Verbindung treten mit der Subjektivität anderer Menschen. Der intime
Gesichtskreis eines Individuums wird nun zugänglich für die Bestätigung, die
Prüfung oder die Erweiterung durch die Empfindungen, Gedanken und Erfahrungen
anderer Individuen. Auf diese Weise vernetzt sich der vereinzelte, rein
subjektive Geist mit einer Hyper-Intelligenz,
die mit der Erfahrungsfähigkeit aller anderen Menschen verbunden ist, ja es
sogar vermag, in die Erfahrungen jener hineinzureichen, die nicht mehr leben,
wenn wir die Kulturerrungenschaft
einer Schriftsprache und die Fähigkeit zu lesen unterstellen.
Wenn
wir von Objektivität in diesem Sinne sprechen, sprechen wir ausdrücklich nicht
von Gewissheit. Im Gegenteil, Objektivität ist das Mittel, kraft dessen der
Mensch seinen letzten Wissensstand unentwegt zu überholen vermag. Objektivität
macht es der Menschheit möglich, ihre letzten Vorstellungen von Wirklichkeit
und Wahrheit ununterbrochen zu verfeinern, zu verändern und mitunter auch zu
revolutionieren.
Der
Mensch ist nicht im Besitze von „objektivem“ Wissen in dem Sinne wie die
populären Vorstellungen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit es gerne
verheißen. Das vorläufige Wissen des Menschen ist plastisch, veränderlich,
vergänglich. Der Mensch hat es mit hypothetischem Wissen zu tun. Gottlob, denn
diese Art von transitorischem (vorläufigem) Wissen ist offen für Wachstum,
Sanierung, Anpassung und eine fortgesetzte Annäherung an die Wahrheit.
Der
Mensch ist somit auf einzigartige Weise darauf vorbereitet, mit der Ungewissheit
seiner Umwelt fruchtbar umzugehen. Die höheren Funktionsschichten der
menschlichen Sprache, insbesondere die deskriptive, die kritische und die
argumentative, sorgen dafür, dass Objektivität ein Menschheitsprojekt von
immanenter und endloser Ungewissheit ist.
Dies ist, was Sokrates meinte, als er ausrief:"
Ich weiß, dass ich nichts weiß."
Freilich
müssen wir unterscheiden zwischen Objektivität
und objektiver Wahrheit. Objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung eines behaupteten
Sachverhalts mit den Tatsachen. Objektivität
ist die spezifisch menschliche Fähigkeit, aus der Subjektivität des eigenen Bewusstseins
herauszutreten, indem der Mensch kraft seiner Sprache seine subjektiven
Gedanken zum Objekt kritischer Prüfung durch andere Menschen macht. Aber alle
Menschen sind fehlbar. Wir können zwar durch Objektivität, d.h. vermöge kritischer Prüfung von Sachverhalten
durch viele Menschen, großen Erkenntniszugewinn erzielen, nicht aber letzte
Sicherheit in der Frage der Übereinstimmung eines behaupteten Sachverhaltes mit
den Tatsachen. Möglicherweise gelingt es uns recht häufig, auf das objektiv Wahre zu stoßen, doch wir
können nicht immer absolut sicher sein, dass wir dies in einem gegebenen Fall
tatsächlich erreicht haben. Wir können Objektivität erreichen. Das objektiv
Wahre können wir nicht erreichen. Genauer: Wir können die Gewissheit, auf das
objektiv Wahre gestoßen zu sein, nicht erlangen.
Warum nicht?
Der Mensch kann nur leben, weil er
getragen wird von Ordnungen, die er nicht geschaffen hat und niemals wird
erzeugen können
Der
Mensch hat nicht seine Umwelt geschaffen. Seine Umwelt hat ihn geschaffen. Sie
ist unendlich vielfältig und hat sich lange vor dem Menschen entwickelt, bis
das Universum sich den Menschen als relativ unbedeutendes Detail hinzufügte. Es
ist nur natürlich, dass der Mensch einen verschwindend kleinen Ausschnitt
dieser ihn hervorbringenden und tragenden Ordnungen und Einflüsse kennt. Im
Verhältnis zu diesem unendlich komplexen und reichhaltigen Kranz an Einflüssen
kann sein Wissen nur gering und unvollkommen sein – noch allemal im absoluten
Sinne (also bezüglich seiner Fähigkeit, alle Einflüsse zu erfassen), aber auch
im relativen Sinne (also bezüglich seiner Fähigkeit, nach und nach mehr über
einige dieser Einflüsse zu erfahren). Wir sind nicht allwissend. Und wir werden
wahrscheinlich nur einen Bruchteil dessen kennenlernen, was wir im Prinzip
wissen könnten.
Es
ist wohl mehr zu entdecken, als der Menschheit Zeit bleibt, je zu entdecken.
Ganz zu schweigen von dem, was auf die Menschen in dieser oder jener Weise
schicksalsbedingend wirkt, aber er nie von uns erkannt oder entdeckt werden
kann.
Unter diesen Umständen ist Erfolg für
unsere Gattung nicht an die Erwartung sicheren und vollkommenen Wissens zu
knüpfen, sondern an die Hoffnung, weiterhin ein flexibler Anpasser an die
insgesamt unergründlichen Bedingungen seiner Umwelt zu bleiben. Der Mensch benötigt daher enorm subtile und
anpassungsfähige Werkzeuge für den intellektuellen Umgang mit dieser fremden,
veränderlichen Umwelt. Er braucht ein wandlungsfähiges, unentwegt
verbesserungsfähiges, sich häutendes, erneuerndes, ständig selbst überholendes,
korrekturfähiges, umbauendes Wissen.
Daher
auch die außergewöhnlich große Bedeutung der zuträglichen Aspekte der menschlichen Fehlbarkeit. Der Traum vom
absolut sicheren Wissen verkennt die provisorische und periphere Stellung des Menschen
in seinem Universum. Die Sehnsucht nach Wissensgewissheit ist ein weiteres
Beispiel für anthropomorphes Denken; hier in Gestalt einer anthropomorph
verkürzten Kosmologie, die die tatsächliche Vielfalt und Komplexität des den
Menschen beeinflussenden Universums völlig unterschätzt und auf das bescheidene
Maß menschlicher Vorstellungsgewohnheiten verkleinert.
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