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Ein Freund von
mir erzählte mir kürzlich, dass er der Verkäuferin in der Bäckerei bei ihm um die Ecke beim Zahlen eröffnete hatte:
„Alles Wissen
ist doch nur Vermutungswissen.“ Daraufhin habe die Verkäuferin geantwortet:
„Und das
wissen Sie aber.“
Sokrates –
Verstehen verstehen
Fragen
wir nochmals: Was ist Epistemologie? Es ist der Versuch zu verstehen, warum wir
glauben, etwas zu verstehen; warum wir meinen, etwas wirklich zu wissen.
Wahrhaftig ein schwieriges Unterfangen, das nicht gerade leichter wird, wenn
man Sokrates berühmtem Ausspruch einen Sinn abgewinnen will: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Wie
kann Sokrates nur behaupten, er wisse, dass er nichts wisse? Wir alle wissen so
manches ziemlich genau. Um Sokrates besser zu verstehen, sollte man deshalb
zweierlei berücksichtigen: (1) Es gibt definitorische Wahrheiten, wie sie in
der Mathematik oder der formalen Logik anzutreffen sind. D.h. in manchen Fällen
steht es uns frei zu definieren, was Wahrheit ist oder Aussagen zu machen, die
in jedem Fall wahr sind. Einige Beispiele:
Wenn
der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.
1 + 1 = 2. Jeder Tisch ist ein Tisch.
Tautologien,
definitorische Wahrheiten, ja selbst viele Behauptungen über die Wirklichkeit,
die es aus praktischen Gründen nicht zu hinterfragen lohnt, bleiben ausgenommen,
von dem, worauf Sokrates mit seiner Aussage aufmerksam machen möchte.
Wir
kommen dem, was Sokrates sagen möchte, mit einer zweiten Beobachtung schon ein
ganzes Stück näher.
(2)
Selbst jene nützlichen Werkzeuge des Denkens, die wie die Mathematik oder die
formale Logik mit Tautologien und definitorische Wahrheiten arbeiten, entstehen
und gedeihen in der gleichen Weise wie andere Modelle, die uns helfen, mehr
über die Welt zu lernen und sie besser zu verstehen: Sie kommen zustande, indem
wir Behauptungen versuchsweise aufstellen, um sie dann unter allen möglichen
Gesichtspunkten auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu testen. Wenn sie zu
Widersprüchen führen, verwerfen wir diese Versuchsbehauptungen (Hypothesen) als
irrig. Andernfalls halten wir an ihnen so lange fest, als keine Umstände
auftreten, die die bisher unangefochtenen Hypothesen widerlegen.
Das
Wissen, das Sokrates meint, ist der
gesamte, fortlaufende Prozess, im Zuge dessen wir mehr über die Welt erfahren.
Die Pointe des sokratischen Diktums betont, dass wir diesen Lernprozess,
aufgrund dessen wir unentwegt mehr und mehr über die Welt erfahren, niemals als
abgeschlossen betrachten sollten. Was wir über die Welt wissen, umgibt uns in
Gestalt widerruflicher Vermutungen. Es sind Hypothesen, die sich prinzipiell
immer durch neue Erkenntnisse, Tatsachen und Entdeckungen als überholt erweisen
können, und gegebenenfalls zeigen, dass das, was wir soeben noch als
gesichertes Wissen ansahen, nur eine Vermutung, vielleicht keine schlechte,
aber eben doch eine verbesserungswürdige Vermutung war. Die Tatsache, dass
einige dieser Hypothesen enorm robust erscheinen, sollte uns niemals dazu
verleiten, jene sokratische Umsicht aufzugeben, die uns daran erinnert, dass wir
alles Wissen als vorläufig und damit letztlich als Vermutungswissen behandeln
sollten. Schön, wenn uns gewisse Dinge in einem Lichte erschein als seien sie
unumstößlich wahr. Vielleicht sind sie es. Aber derlei sollte uns nicht dazu
verleiten, sie auszunehmen von der Prüfung durch neu auftretende Gesichtspunkte.
In diesem Geiste macht sich Albert Einstein an die Prüfung der als
unerschütterlich geltenden Gewissheiten der Newtonschen Physik und entdeckt in
der Tat, was kaum jemand, Newton ausgenommen, zu denken gewagt hatte: Einsteins
neue Physik widerlegt die Vorstellungen
von Zeit und Raum, die Newtons Physik zugrunde liegen.
Ich weiß, dass ich nichts weiß. In seinem berühmten Diktum erteilt uns Sokrates den
Rat, auf der Suche nach der Wahrheit, nie etwas als selbstverständlich oder
endgültig anzusehen.
Der
erkenntnistheoretische Dogmatiker, der im Besitz unumstößlicher Wahrheit zu
sein oder den Weg dorthin zu kennen glaubt, hat keinen Sinn für den sokratischen
Lernprozess. Er glaubt, am Ziel angekommen zu sein, kennt er doch die Quellen,
aus denen die Wahrheit strömt. Was soll er weitersuchen?
Sokrates
kritisiert den Standpunkt der Dogmatiker. Er ist Skeptiker. Wie es dazu kommt,
dass Sokrates zum Skeptiker wird? Erinnern wir uns an die Umstände, die
Sokrates dazu veranlassen, den berühmten Satz auszusprechen: „Ich weiß, dass
ich nichts weiß.“
Eines
Tages wird dem delphischen Orakel die Frage gestellt: "Gibt es einen
Menschen, der weiser als Sokrates ist?" Zur großen Überraschung, ja zum
Schrecken Sokrates, antwortet das Orakel: " Nein, es gibt niemanden, der
weiser als Sokrates ist." Verwirrt von dieser Aussage, denn Sokrates weiß
nur zu genau, wie sehr es ihm an Weisheit und Wissen mangelt, entschließt er
sich, diese schmeichelhafte Auskunft zu hinterfragen. Zu diesem Zweck sucht er
Menschen auf, die entweder von sich selbst behaupten, weise zu sein, oder von
denen es heißt, sie seien Weise: Staatsmänner, Richter, angesehene Künstler,
und allerlei andere Honoratioren.
Doch seine Gespräche mit ihnen erweisen schließlich, dass sie in Wahrheit durchaus nicht weiser sind, als er selbst mit seinem überaus geringen Wissen und seiner allerbescheidensten Weisheit. Und so kommt Sokrates schließlich zum Schluss, dass all diese vermeintlich Weisen und Wissenden tatsächlich weniger weise und wissend sind als er selbst. Ihm geht die Bedeutung des Orakelspruches auf.
Unter den Menschen sind jene als die weisesten anzusehen, die wie Sokrates erkennen, dass es ihnen an Weisheit mangelt. Das wirkungsvollste Instrument des menschlichen Geistes ist seine Fähigkeit, sich gegen intellektuelle Anmaßung zu feien, und jene geistige Demut zu üben, die uns eine kritische und offene Haltung verleiht.
Doch seine Gespräche mit ihnen erweisen schließlich, dass sie in Wahrheit durchaus nicht weiser sind, als er selbst mit seinem überaus geringen Wissen und seiner allerbescheidensten Weisheit. Und so kommt Sokrates schließlich zum Schluss, dass all diese vermeintlich Weisen und Wissenden tatsächlich weniger weise und wissend sind als er selbst. Ihm geht die Bedeutung des Orakelspruches auf.
Unter den Menschen sind jene als die weisesten anzusehen, die wie Sokrates erkennen, dass es ihnen an Weisheit mangelt. Das wirkungsvollste Instrument des menschlichen Geistes ist seine Fähigkeit, sich gegen intellektuelle Anmaßung zu feien, und jene geistige Demut zu üben, die uns eine kritische und offene Haltung verleiht.
Diese
sokratische Erkenntnis hat auch große Bedeutung für das politische Leben, wie
ein Vergleich der Standpunkte von Platon und Sokrates zeigt. Beide Denker
erwarten von einem Staatsmann, dass er weise sei. Allein, für Sokrates bedeutet
diese Anforderung, dass ein Staatsmann sich immer dessen bewusst sein sollte,
wie wenig er weiß, und wie begrenzt seine Weisheit ist. Platon vertritt die
Meinung, dass jener Elite, die die bestmögliche Erziehung genossen haben, und
alle anderen an Bildung, Wissen und Weisheit übertreffen, das Recht zuwächst,
die „Sophokratie“ auszuüben, also die Herrschaft der Weisesten unter den
Menschen über die Wenigerwissenden.
Sokrates
hingegen unterstreicht das hypothetische Wesen unseres Wissens. Er verwirft
daher die Vorstellung, dass Wissen zu einer besonderen Stellung und Macht
berechtigt. Er wendet sich gegen die Vorstellung, dass die Inhaber von Wissen kraft ihres Wissens Anspruch auf
Ausübung einer besonderen Autorität haben. Jenes Maß an Annäherung an die
Wahrheit, das dem Menschen möglich ist, ist die Frucht eines von Umsicht und
Demut geprägten kritischen Austausches, in dem jeder Beitrag zählt. Letztlich maßgeblich ist nicht der
Guru, ausschlaggebend sind vielmehr die Ergebnisse der fortlaufenden Prüfungsdebatte, der
kritischen Diskussionen, in denen jeder berechtigt ist, unser hypothetisches
Wissen in Frage zu stellen, herauszufordern, zu widerlegen und zu verbessern.
Sokrates
Erkenntnis beruht auf der Einsicht in die unverzichtbare Bedeutung der
persönlichen Freiheit. Sokrates glaubt an die Überlegenheit des Zusammenspiels
des dezentralen Wissens freier Menschen gegenüber einem Regime sophokratischer Experten. Wie sich
dieser sokratische Impuls in der modernen Theorie der Freiheit fortpflanzt,
werden wir später in diesem Kapitel verfolgen. Zunächst wenden wir uns der
Erkenntnis zu, dass Objektivität ohne persönliche Freiheit nicht zu erzielen
ist. Ohne persönliche Freiheit ist weder der Prozess in Gang zu halten, der
Objektivität hervorbringt, noch sind dessen Ergebnisse ausreichend geschützt,
wenn Sophokraten imstande sind, sich
mit ihrem Wahrheitsdiktat über den Diskurs freier Menschen hinwegzusetzen.
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