Wednesday, 7 December 2016

Wissen (6)



 
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Ein Freund von mir erzählte mir kürzlich, dass er der Verkäuferin in der Bäckerei bei ihm um die Ecke beim Zahlen eröffnete hatte:

„Alles Wissen ist doch nur Vermutungswissen.“ Daraufhin habe die Verkäuferin  geantwortet:

„Und das wissen Sie aber.“


Sokrates – Verstehen verstehen

Fragen wir nochmals: Was ist Epistemologie? Es ist der Versuch zu verstehen, warum wir glauben, etwas zu verstehen; warum wir meinen, etwas wirklich zu wissen. Wahrhaftig ein schwieriges Unterfangen, das nicht gerade leichter wird, wenn man Sokrates berühmtem Ausspruch einen Sinn abgewinnen will: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Wie kann Sokrates nur behaupten, er wisse, dass er nichts wisse? Wir alle wissen so manches ziemlich genau. Um Sokrates besser zu verstehen, sollte man deshalb zweierlei berücksichtigen: (1) Es gibt definitorische Wahrheiten, wie sie in der Mathematik oder der formalen Logik anzutreffen sind. D.h. in manchen Fällen steht es uns frei zu definieren, was Wahrheit ist oder Aussagen zu machen, die in jedem Fall wahr sind. Einige Beispiele:

Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist. 1 + 1 = 2. Jeder Tisch ist ein Tisch.

Tautologien, definitorische Wahrheiten, ja selbst viele Behauptungen über die Wirklichkeit, die es aus praktischen Gründen nicht zu hinterfragen lohnt, bleiben ausgenommen, von dem, worauf Sokrates mit seiner Aussage aufmerksam machen möchte.

Wir kommen dem, was Sokrates sagen möchte, mit einer zweiten Beobachtung schon ein ganzes Stück näher.

(2) Selbst jene nützlichen Werkzeuge des Denkens, die wie die Mathematik oder die formale Logik mit Tautologien und definitorische Wahrheiten arbeiten, entstehen und gedeihen in der gleichen Weise wie andere Modelle, die uns helfen, mehr über die Welt zu lernen und sie besser zu verstehen: Sie kommen zustande, indem wir Behauptungen versuchsweise aufstellen, um sie dann unter allen möglichen Gesichtspunkten auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu testen. Wenn sie zu Widersprüchen führen, verwerfen wir diese Versuchsbehauptungen (Hypothesen) als irrig. Andernfalls halten wir an ihnen so lange fest, als keine Umstände auftreten, die die bisher unangefochtenen Hypothesen widerlegen.

Das Wissen, das Sokrates meint, ist der gesamte, fortlaufende Prozess, im Zuge dessen wir mehr über die Welt erfahren. Die Pointe des sokratischen Diktums betont, dass wir diesen Lernprozess, aufgrund dessen wir unentwegt mehr und mehr über die Welt erfahren, niemals als abgeschlossen betrachten sollten. Was wir über die Welt wissen, umgibt uns in Gestalt widerruflicher Vermutungen. Es sind Hypothesen, die sich prinzipiell immer durch neue Erkenntnisse, Tatsachen und Entdeckungen als überholt erweisen können, und gegebenenfalls zeigen, dass das, was wir soeben noch als gesichertes Wissen ansahen, nur eine Vermutung, vielleicht keine schlechte, aber eben doch eine verbesserungswürdige Vermutung war. Die Tatsache, dass einige dieser Hypothesen enorm robust erscheinen, sollte uns niemals dazu verleiten, jene sokratische Umsicht aufzugeben, die uns daran erinnert, dass wir alles Wissen als vorläufig und damit letztlich als Vermutungswissen behandeln sollten. Schön, wenn uns gewisse Dinge in einem Lichte erschein als seien sie unumstößlich wahr. Vielleicht sind sie es. Aber derlei sollte uns nicht dazu verleiten, sie auszunehmen von der Prüfung durch neu auftretende Gesichtspunkte. In diesem Geiste macht sich Albert Einstein an die Prüfung der als unerschütterlich geltenden Gewissheiten der Newtonschen Physik und entdeckt in der Tat, was kaum jemand, Newton ausgenommen, zu denken gewagt hatte: Einsteins neue Physik  widerlegt die Vorstellungen von Zeit und Raum, die Newtons Physik zugrunde liegen.

Ich weiß, dass ich nichts weiß. In seinem berühmten Diktum erteilt uns Sokrates den Rat, auf der Suche nach der Wahrheit, nie etwas als selbstverständlich oder endgültig anzusehen.

Der erkenntnistheoretische Dogmatiker, der im Besitz unumstößlicher Wahrheit zu sein oder den Weg dorthin zu kennen glaubt, hat keinen Sinn für den sokratischen Lernprozess. Er glaubt, am Ziel angekommen zu sein, kennt er doch die Quellen, aus denen die Wahrheit strömt. Was soll er weitersuchen? 

Sokrates kritisiert den Standpunkt der Dogmatiker. Er ist Skeptiker. Wie es dazu kommt, dass Sokrates zum Skeptiker wird? Erinnern wir uns an die Umstände, die Sokrates dazu veranlassen, den berühmten Satz auszusprechen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Eines Tages wird dem delphischen Orakel die Frage gestellt: "Gibt es einen Menschen, der weiser als Sokrates ist?" Zur großen Überraschung, ja zum Schrecken Sokrates, antwortet das Orakel: " Nein, es gibt niemanden, der weiser als Sokrates ist." Verwirrt von dieser Aussage, denn Sokrates weiß nur zu genau, wie sehr es ihm an Weisheit und Wissen mangelt, entschließt er sich, diese schmeichelhafte Auskunft zu hinterfragen. Zu diesem Zweck sucht er Menschen auf, die entweder von sich selbst behaupten, weise zu sein, oder von denen es heißt, sie seien Weise: Staatsmänner, Richter, angesehene Künstler, und allerlei andere Honoratioren. 

Doch seine Gespräche mit ihnen erweisen schließlich, dass sie in Wahrheit durchaus nicht weiser sind, als er selbst mit seinem überaus geringen Wissen und seiner allerbescheidensten Weisheit. Und so kommt Sokrates schließlich zum Schluss, dass all diese vermeintlich Weisen und Wissenden tatsächlich weniger weise und wissend sind als er selbst. Ihm geht die Bedeutung des Orakelspruches auf. 

Unter den Menschen sind jene als die weisesten anzusehen, die wie Sokrates erkennen, dass es ihnen an Weisheit mangelt. Das wirkungsvollste Instrument des menschlichen Geistes ist seine Fähigkeit, sich gegen intellektuelle Anmaßung zu feien, und jene geistige Demut zu üben, die uns eine kritische und offene Haltung verleiht.

Diese sokratische Erkenntnis hat auch große Bedeutung für das politische Leben, wie ein Vergleich der Standpunkte von Platon und Sokrates zeigt. Beide Denker erwarten von einem Staatsmann, dass er weise sei. Allein, für Sokrates bedeutet diese Anforderung, dass ein Staatsmann sich immer dessen bewusst sein sollte, wie wenig er weiß, und wie begrenzt seine Weisheit ist. Platon vertritt die Meinung, dass jener Elite, die die bestmögliche Erziehung genossen haben, und alle anderen an Bildung, Wissen und Weisheit übertreffen, das Recht zuwächst, die „Sophokratie“ auszuüben, also die Herrschaft der Weisesten unter den Menschen über die Wenigerwissenden.

Sokrates hingegen unterstreicht das hypothetische Wesen unseres Wissens. Er verwirft daher die Vorstellung, dass Wissen zu einer besonderen Stellung und Macht berechtigt. Er wendet sich gegen die Vorstellung, dass die Inhaber von Wissen kraft ihres Wissens Anspruch auf Ausübung einer besonderen Autorität haben. Jenes Maß an Annäherung an die Wahrheit, das dem Menschen möglich ist, ist die Frucht eines von Umsicht und Demut geprägten kritischen Austausches, in dem jeder Beitrag zählt. Letztlich maßgeblich ist nicht der Guru, ausschlaggebend sind vielmehr die Ergebnisse der fortlaufenden Prüfungsdebatte, der kritischen Diskussionen, in denen jeder berechtigt ist, unser hypothetisches Wissen in Frage zu stellen, herauszufordern, zu widerlegen und zu verbessern.

Sokrates Erkenntnis beruht auf der Einsicht in die unverzichtbare Bedeutung der persönlichen Freiheit. Sokrates glaubt an die Überlegenheit des Zusammenspiels des dezentralen Wissens freier Menschen gegenüber einem Regime sophokratischer Experten. Wie sich dieser sokratische Impuls in der modernen Theorie der Freiheit fortpflanzt, werden wir später in diesem Kapitel verfolgen. Zunächst wenden wir uns der Erkenntnis zu, dass Objektivität ohne persönliche Freiheit nicht zu erzielen ist. Ohne persönliche Freiheit ist weder der Prozess in Gang zu halten, der Objektivität hervorbringt, noch sind dessen Ergebnisse ausreichend geschützt, wenn Sophokraten imstande sind, sich mit ihrem Wahrheitsdiktat über den Diskurs freier Menschen hinwegzusetzen. 

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