Image credit. |
Sokrates -
Wissenschaft und Politik
Wir
haben eingangs dieses Kapitels betont, dass alle Menschen philosophische
Anschauungen besitzen. Ihre Haltungen wichtigen Fragen, ebenso wie ihr
konkretes Verhalten können sehr stark beeinflusst sein von diesen oftmals eher
unterschwelligen philosophischen Überzeugungen. Der Philosophie kommt die
Aufgabe zu, diese grundlegenden Strömungen unseres Denkens zu thematisieren, zu
überprüfen und vielleicht in neue und geeignetere Bahnen zu lenken.
Wir
wollen uns hier mit zwei wichtigen Beispielen befassen, die verdeutlichen, wie
sehr wir uns in unserer Grundhaltung nach philosophischen Annahmen richten, die
uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie uns kaum noch bewusst
machen, geschweige denn in kritischer Manier.
So
gibt es zwei sehr populäre und überaus einflussreiche Auffassungen von der
Rolle des Staates und der der Wissenschaft, denen gemeinsam ist, dass sie
Antwort geben auf eine falsch gestellte Frage. In seiner Staatstheorie bemüht
sich Plato, die Frage zu beantworten: " Wer soll regieren?" Bis heute
sind wir von dieser Frage fasziniert. Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt dem
Bemühen, eine möglichst kluge Antwort auf diese Frage zu finden. Und so fällt
kaum auf, dass unser beflissener Eifer einer gefährlich irreführenden Frage
gilt, die, in den richtigen Kontext gestellt, eher nachrangig ist.
Irreführend
ist diese Frage, weil sie eine einseitige Antwort präjudiziert. Eine Antwort,
die andere, bessere Antworten von vorneherein ausschließt. Platons Frage „Wer
soll regieren?“ verleitet uns dazu, eine Antwort zu finden, die ihrem Wesen
nach immer autoritär sein muss. Wer soll herrschen? Die Antwort kann nur lauten:
die Besten, die Weisesten, und selbst Antworten, die uns heute schmackhaft
erscheinen - "das Volk soll herrschen, die Mehrheit soll herrschen" -
haben in Wahrheit ihren autoritären Charakter nicht abgelegt (- ein Aspekt, den
wir im Kapitel „Politik“ in großer Ausführlichkeit behandeln).
Die
Frage, wer herrschen soll, ist analog derer, die von der traditionellen
Erkenntnistheorie gestellt wird. "Welches ist die letztgültige Quelle des
Wissens?“ Ist es der Intellekt, wie der Rationalismus behauptet? Ist es die
Beobachtungsfähigkeit, wie der Empirismus behauptet? Wie immer die Antwort im
Einzelnen ausfallen mag, sie ist beeinflusst von einer Annahme, die wie
selbstverständlich durch die Fragestellung vorausgesetzt wird: Es muss eine
letztgültige Autorität geben, die uns - politisch - die beste Regierung sein
wird, oder - erkenntnistheoretisch - uns unumstößliches Wissen und wahre
Wissenschaft möglich macht.
Statt
uns Gedanken darüber zu machen, wer uns regieren soll, können wir uns auch mit
einer anderen Frage beschäftigen: Wie können wir unsere politischen
Institutionen so gestalten, dass die Staatsmacht auf sinnvolle
Regierungsaufgaben und in ihrer Macht strikt und wirkungsvoll beschränkt ist,
damit selbst eine schlechte, unfähige und ineffiziente Regierung nur geringen
Schaden anrichten kann?
Wie
können wir, ohne Blut zu vergießen und ohne Unrecht zu begehen, eine Regierung
loswerden, die ihren klar definierten und stark beschränkten Aufgaben nicht
gerecht wird? Damit wird die Frage, wer regiert, zweitrangig gegenüber der
Herausforderung, dafür zu sorgen, dass eine Regierung keinen Schaden stiftet. Das
maßgebliche Kriterium ist nicht mehr das Ausmaß der Macht, die einer Regierung
zugestanden wird, sondern die Qualität der ihr aufgegebenen Tätigkeiten und
ihre Fähigkeit, sich diesen Aufgaben würdig und gewachsen zu zeigen.
Indem
die alten Griechen sich diese zweite Frage stellen, stoßen sie auf eine Lösung,
der sie den Namen Isonomie geben – die
Herrschaft des Rechts: Die
Unterwerfung aller, und damit natürlich auch die Unterordnung der Regierenden
unter ein allen gemeinsames Recht. Die Demokratie
der alten Griechen versteht sich nicht als Selbstzweck oder als höchste Form
der politischen Weisheit in allen Belangen, sondern als ein der Isonomie dienendes Hilfsmittel, dessen
wichtigste Funktion darin besteht, gewaltlosen und doch wirksamen Schutz gegen
Tyrannis zu gewähren, und zwar, wenn man so will, nach dem Motto: „Besser Köpfe
zählen als sie einschlagen“. [B1: Man kann mit Fug und Recht in Frage stellen,
inwieweit dieser Zug in Reinkultur vorherrschte; er dürfte allerdings eine
wichtige Rolle bei der Entwicklung der griechischen Demokratie gespielt haben,
besonders im Zusammenhang mit der Befriedung der sich zur Polis
zusammenschließenden Stämme.]
Der
Vorrang, den Plato der Frage einräumt „Wer soll uns regieren?“, prägt auch das
zeitgenössische Demokratieverständnis. Man verlässt sich heute wieder voll und
ganz auf die Quelle der Regierungsmacht,
der man uneingeschränkte Macht zugesteht, wenn sie durch ihren Ursprung
legitimiert erscheint. Diese Quelle ist das Volk, das, verkörpert durch seine
parlamentarischen Vertreter, als der Souverän gilt, sprich: als unumschränkter
Herrscher. Einst als Gegengewicht zum monarchistischen Absolutismus auf den
Plan tretend, um den Gefahren unbeschränkter Macht zu trotzen, ist das Prinzip
der Volksvertretung heutzutage selbst zu einer Form des Absolutismus, des
parlamentarischen Absolutismus geworden. [B2: Das sieht der Autor inzwischen
anders, insofern als Demokratie sowohl als formaler Institutionen-Parcours
(checks and balances) als auch als auch durch ihre informelle kulturelle
Vielfalt (politisches Engagement und öffentlicher Diskurs, Alltags-Gepflogenheiten,
z.B. die freie Wissenschaft, die pluralistisch-demokratische Werte verkörpern)
ein wirkungsvolle Barriere gegen autoritäre Machtausübung bilden kann und immer
in diese Richtung entwickelt werden sollte.]
Das
im Westen weit verbreitete politische System der Demokratie ist die Antwort auf
eine Frage, die falsch gestellt sein dürfte, oder zumindest anders gestellt
werden könnte, in welchem Fall unsere politische Ordnung wahrscheinlich eine
gänzlich andere Qualität aufweisen würde. [B3: Auch dies sieht der Autor inzwischen
anders, da die westlichen Demokratien nicht wirklich in erster Linie als
Instrumente totalitärer Mehrheitsherrschaft angesehen werden können – siehe
auch B2.]
Wieder
sehen wir, wie unsere philosophischen Neigungen, unsere oftmals nur unterschwelligen
philosophischen Annahmen, Konsequenzen von außerordentlich großer Tragweite
zeitigen. Es ist die Aufgabe der Philosophie, uns auf unbeabsichtigte und
unbemerkte Konsequenzen dieser Art aufmerksam zu machen, um auf diesem Wege
vielleicht einiges anders und besser zu gestalten.
No comments:
Post a Comment