Saturday, 3 December 2016

Wissen (2)



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(2.1) Erkenntnistheorie und die Kontroverse um absolut sicheres Wissen

Es ist die dritte dieser Bedingungen, um die sich ein Großteil der Diskussionen und Entwicklungen im Bereich der Erkenntnistheorie schon seit den Tagen der vorsokratischen Philosophenschulen dreht: Welcher Art sind die Gründe, die einer Überzeugung den Rang des Wissens verleihen? Wie lassen sich Aussagen als unzweifelhaft wahr begründen? Was wird zu ihrem unumstößlichen Beweis benötigt? Welches sind die Voraussetzungen und Merkmale jener letzten Schlüssigkeit, die einer Überzeugung das Gütesigel gesicherten Wissens aufprägt? Was ist die Quelle der Wissensgewissheit?

Die alten Griechen bezeichneten absolut sicheres Wissen als episteme, im Unterschied zu doxa, bloßer Meinung. Daher auch der griechische Name der Erkenntnistheorie: Epistemologie.

Die philosophische Erkenntnislehre befasst sich in besonderem Maße mit drei grundsätzlichen Fragen:

Können wir überhaupt etwas mit Gewissheit wissen?
Wenn ja, was können wir mit Gewissheit wissen?
Wie können wir derartige Gewissheit erlangen?

Die Erkenntnistheoretiker teilen sich in zwei Lager: Jene, die an ein gesichertes Wissen glauben und sich daher darum bemühen, die Bedingungen gesicherten Wissens zu finden und zu erklären. Das andere Lager bilden jene, die die Möglichkeit gesicherten Wissens prinzipiell ausschließen. Die Kritiker der Lehren vom gesicherten Wissen bezeichnet man als Skeptiker. Die Skeptiker nannten die Anhänger des anderen Lagers Dogmatiker. Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist in großen Teilen die Geschichte der Kontroverse zwischen Skeptikern und Dogmatikern.

(2.1.1) Erkenntnistheoretische Skeptiker

Einer der ersten Erkenntnistheoretiker, der die Haltung eines Skeptikers einnimmt, ist Xenophanes, der etwa 530 vor Christus in Griechenland lebte. Von ihm sind folgende Verse überliefert, in denen er seinen Zweifel an der Möglichkeit sicheren Wissens zum Ausdruck bringt:

Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem auch glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt von Vermutungen.

(Übersetzt nach Karl Popper, 1998, S. 95)

Der Skeptiker zweifelt nicht daran, dass wir auch Überzeugungen haben können, die zutreffend sind. Sein Angriff gilt der dritten Bedingung, an die das Vorliegen gesicherten Wissens gebunden ist, nämlich die Bedingung, dass das, woran wir glauben, wahr ist und letztschlüssig bewiesen werden kann. Der Skeptiker vertritt den Standpunkt, dass uns eine derartige Letztbegründung grundsätzlich nicht gelingen kann.

Der Versuch der Letztbegründung muss scheitern, da er uns immer in eine dreifach ausweglose Lage versetzt - Münchhausens Trilemma wie der deutsche Philosoph Hans Albert (geb. 1921) die dreifache Zwickmühle nennt. Münchhausens Trilemma besagt im Einzelnen, dass das Unterfangen einer Letztbegründung misslingen muss entweder, weil es (a) in einen infiniten Regress führt, (b) einen Zirkelschluss enthält, oder (c) willkürlich und unvollendet abgebrochen wird. Infiniten Regress (a) und willkürlichen Abbruch (b) behandeln wir sogleich. Zum Zirkelschluss (c) kommen wir später im Kapitel.

Betrachten wir zunächst den infiniten Regress: Ein Beispiel: Herr Müller glaubt, mit Sicherheit zu wissen, wann seine Ehefrau Geburtstag hat. Für die erkenntnistheoretische Fundamentalkritik des Skeptikers ist es unerheblich, dass der Tag, den Herr Müller für den Geburtstag seiner Frau hält, möglicherweise tatsächlich der Tag ist, an dem sie geboren wurde. Die Kritik des Skeptikers beruht auf der Behauptung, dass ein letzter Beweis (der Aussage seine Frau habe dann-und-dann Geburtstag) nicht geführt werden kann.

Herr Müller, woher wissen Sie das Ihre Frau am 13. April Geburtstag hat?
Sie hat es mir gesagt.
Woher wissen Sie, dass Ihre Frau die Wahrheit sagt?
Meine Frau lügt nicht.
Woher wissen Sie, dass Ihre Frau nicht lügt?

Und so weiter, und so weiter, ad infinitum.

Es ergibt sich eine unendliche Abfolge von Begründungsanfragen, da für jede bis dahin gebotene Begründung wiederum eine Begründung dieser Begründung verlangt werden kann. Ja, verlangt werden muss, insofern als die jeweils letzte Begründung eben noch keine Letztbegründung liefert.

Aber es steht doch in der Geburtsurkunde.
Woher wissen Sie, dass bei der Ausstellung der Geburtsurkunde kein Fehler unterlaufen ist?
Der ausstellende Arzt ist sich sicher, dass er keinen Fehler gemacht hat.
Kennen Sie den ausstellenden Arzt und die Umstände, unter denen er damals die Urkunde ausstellte, gut genug, um beurteilen zu können, ob er keinen Fehler gemacht hat?

Usw., usw., usw.

Gemessen an den Erfordernissen unseres normalen Lebens muss uns das beharrliche Hinterfragen des Skeptikers in dieser trivialen Frage weltfremd erscheinen. In unserem Alltag und vielen wichtigen Lebenslagen werden wir oft schon sehr früh auf dem Wege zu einer Letztbegründung innehalten, weil uns der Grad der Plausibilität eines Sachverhaltes ohne weiteres Hinterfragen zufriedenstellt. Im praktischen Leben verzichten wir auf Letztbegründung. Wir brechen das Begründungsverfahren an einem bestimmten Punkt ab und geben uns mit dem bis dahin erzielten Plausibilitätsgrad zufrieden („Ich glaube meiner Frau, ihren Eltern und dem Reisepass“). Wir verzichten auf eine Letztbegründung aus dem gleichen Grund, aus dem der Skeptiker gesichertes Wissen für unmöglich hält. Eine Letztbegründung ist nicht praktikabel, da sie offenbar einen endlosen Vorgang anstößt, einen so genannten infiniten Regress.

Scheitert also das Projekt sicheres Wissen an der Unmöglichkeit einer Letztbegründung?
Wenden wir uns den Gegenargumenten zu, die jene aufbieten, welche die Möglichkeit absolut sicheren Wissens verteidigen.

(2.1.2) Dogmatiker - Empirismus und Rationalismus

Die frühen Skeptiker bezeichnen ihre Gegner als Dogmatiker; also als diejenigen, die von einem unerschütterlichen Glauben erfüllt sind. Aber woran glauben die Dogmatiker? Die Dogmatiker vertreten den Standpunkt, dass es bestimmte Überzeugungen gibt, die keiner Begründung durch andere Überzeugungen bedürfen. Für die Dogmatiker gibt es Überzeugungen, von denen unmittelbar einzusehen ist, dass sie wahr sind. Durch den Rückgriff auf diese spezielle Form offenbarungsfähiger Überzeugungen lässt sich der infinite Begründungsregress vermeiden: Unbegründete Überzeugungen lassen sich aus unmittelbar einleuchtenden Überzeugungen ableiten. Gemeinsam bilden die offenbarten und die aus ihnen abgeleiteten Überzeugungen eine stimmige Begründungskette, aufgrund derer eine widerspruchsfreie Letztbegründung und damit die Beglaubigung absolut sicheren Wissens gelingt. Nach dieser Lesart setzt sich Wissen aus zwei Schichten zusammen: unbegründete Überzeugungen und unmittelbar einsichtige oder offenbarungsfähige Überzeugungen.

Welche Quellen des unmittelbaren Wissens um die Wahrheit von Aussagen bieten uns die Dogmatiker an? In der Geschichte der Erkenntnistheorie herrschen zwei rivalisierende Antworten auf diese Frage vor. Die Antwort der empiristischen Dogmatiker lautet: Erfahrung, d.h. untrügliche Beobachtungen. Die Antwort der rationalistischen Dogmatiker lautet: Vernunft, d.h. untrügliche Einsichten des reinen Denkens.

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