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Die kritische Methode oder das Anti-Guru-Prinzip
Das sokratische Diktum „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ soll daran erinnern, dass es revidierbares Vermutungswissen ist, aufgrund dessen es dem Menschen gelingt, sich seiner Umwelt ständig besser anzupassen und immer mehr Nützliches über seine Umgebung zu lernen.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ bedeutet, dass der Mensch fehlbar ist, jeder Mensch, auch der brillanteste Wissenschaftler.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ warnt vor dem sophokratischen Prinzip, also dem unsachgerechten und gefährlichen Glauben an Menschen mit überlegenem Wissen. Denn es gibt keinen Menschen, dessen Theorie sich nicht als fehlerhaft herausstellen kann.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ soll uns darauf aufmerksam machen, dass unsere Fehlbarkeit in Verbindung mit einer kritischen Haltung der eigentliche Schlüssel zur Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen ist. So verstanden ist unsere Fehlbarkeit zuträglich und äußerst produktiv.
Der ständige Erkenntnisfortschritt, den wir durch Anwendung der kritischen Methode erzielen, weist ein typisches Muster auf. Dieses Grundschema der kritischen Methode lässt sich wie folgt umreißen:
(1) Der Mensch stößt auf ein Problem. Sagen wir, er möchte einen Computertisch, der es ihm ermöglicht im Bett liegend mit seinem Laptop zu arbeiten.
(2) Er versucht, Klarheit darüber zu gewinnen, worin das Problem besteht, und wie es überwunden werden kann. Das heißt, er entwickelt eine Theorie über das Problem und dessen Lösung. Er macht sich seine Anforderungen klar und versucht, daraus Lösungsansätze abzuleiten. Zum Beispiel mag er herausfinden, dass es spezielle Computermöbel für ähnliche Anlässe gibt.
(3) Er verfeinert seine Theorie, prüft, korrigiert und verbessert sie, damit das Problem gut erfasst und eine befriedigende Lösung erkennbar wird. Das heißt, die Unzulänglichkeiten und Fehler dieser Theorie werden identifiziert und beseitigt. In unserem Beispiel kann dies bedeuten, dass er solange nach einem Möbelgeschäft sucht, bis er eines mit Computermöbeln gefunden hat. Er studiert das vielfältige Angebot an Computermöbeln, bis er einen Tisch findet, der ihm geeignet erscheint. Die Endmontage ist aber ihm überlassen. Zuhause wiederholt sich der Prozess der Theorieverbesserung. Er hat einige Ideen, wie er den Tisch zusammenbauen kann, doch erst nach einigen Fehlversuchen, anhand derer er die Irrtümer seiner Theorie erkennt, gelingt es ihm, die Einzelteile schließlich zu einem tadellos montierten Möbelstück zusammenzusetzen.
(4) Das Problem ist ganz oder teilweise behoben. Er hat einen Computertisch. Aber nun wird ein neues Probleme sichtbar. Die Auflagefläche des Computertisches ist selbst in der höchsten Stellung zu niedrig. Ein im Bett liegender Mensch passt nicht darunter. Neues Problem. Was tun? Der grundsätzliche Ablauf (1) – (4) spielt sich auf ein Neues ab. Bald wird er auch dieses neue Problem überwunden haben und bequem im Bett liegend, seinen Computer bedienen. Doch dann kommt ihm die Idee, ob es nicht möglich wäre, ganz auf das Tippen zu verzichten, und stattdessen, dem Computer wie einer Sekretärin zu diktieren …
Nach dem Grundschema der kritischen Methode - (1) bis (4) - gehen zweifelsohne auch andere Tiere vor. Aber warum ist der Mensch so viel erfolgreicher bei der Anwendung der kritischen Methode als andere Lebewesen?
Der Mensch verfügt über ein weitaus differenzierteres Kritikvermögen. Dies wegen der kritischen und argumentativen Funktionsschichten, die nur die menschliche Sprache besitzt. Milliarden von Menschen vernetzen sich untereinander, indem sie ihr durch die menschliche Sprache ermöglichtes Kritikvermögen ausüben. Sie tun dies in der Gegenwart, aber auch wegen der Möglichkeit mündlicher und schriftlicher Überlieferung, über große Entfernungen und Zeiträume. Dadurch, dass der Mensch aus der geschlossenen Welt seiner Subjektivität heraustritt, sein Wissen Menschen mit anderen Sichtweisen, Erfahrungen und Möglichkeiten zur Verfügung stellt, kommt ein Prozess in Gang, der Wissen ohne ein wissendes Subjekt möglich macht.
Die Grenze der Intelligenz ist nicht mehr der vereinzelte Verstand, das Hirn des Individuums. Die Wissensbildung ist nicht mehr ausschließlich eine subjektive, individuelle Angelegenheit, sondern ein globaler Prozess, bei dem Wissen entsteht, das uns allen zugute kommen kann, ohne dass dieses Wissen einem einzigen Menschen annähernd in Gänze erzeugbar oder auch nur bekannt sein kann.
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