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Drei Sub-Universen des Universums – die Kosmologie des
kritischen Rationalismus
(Quelle: Three World, Karl
Popper, The Tanner Lecture On Human Values, Delivered at the University of
Michigan, April 7, 1978 – http://www.tannerlectures.utah.edu/lectures/documents/popper80.pdf)
Die
menschliche Sprache bringt uns, aufgrund ihrer höheren Funktionsschichten, der
deskriptiven, der argumentativen und der kritischen, in Berührung mit einer
eigentümlichen, nur dem Menschen zugänglichen Dimension des Universums: dem
Sub-Universum der Denkinhalte. Der erste, der uns diesen Teil des Universums erschloss, war wohl der deutsche Philosoph und
Mathematiker Gottlob Frege (1848 – 1925), der zur Bezeichnung dieser Sphäre den
heute belasteten Begriff „das dritte
Reich“ verwendete. Der Fregesche Begriff hat keinerlei Bezug zur Ideologie
und historischen Epoche des Dritten Reichs (1933-1945). Der Philosoph Karl
Popper benutzt den Ausdruck Welt 3,
um das dritte Reich Freges zu
bezeichnen. Ein Sub-Universum des uns erfassbaren Universums, unterscheidet Welt 3 sich von zwei weiteren solchen
Sub-Universen, Welt 1 und Welt 2, die uns viel vertrauter sind.
Welt 1 umfasst die Sphäre der physischen Objekte, der Steine und Sterne, der Pflanzen und Tiere, und anderer materieller Phänomene wie z.B. der Radioaktivität. Begrifflich klar unterschieden von Welt 1 stoßen wir auf Welt 2, das Sub-Universum der subjektiven Zustände wie sie sich in den Empfindungen, den Bewusstseinszuständen und den Verhaltensneigungen des Individuums manifestieren. Dieser Welt 2 gehören unsere Gedanken an, unsere Empfindungen, unsere emotionalen Impulse, unsere Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen, unser Befinden, die Schmerzen etwa, die wir erleiden, ebenso wie Freude und Behagen. Kurzum: Welt 2 umfasst das Reich der mentalen und psychischen Zustände und Vorgänge im Menschen, das Reich unserer subjektiven Erfahrungen.
So
wie Welt 1 und Welt 2 sich voneinander unterscheiden, so sind sie auch jeweils
gegen Welt 3 abgegrenzt: Welt 3
besteht aus den Erzeugnissen des
menschlichen Geistes wie den Märchen, Erzählungen und religiösen Mythen,
die die Menschen hervorbringen. Zum Arsenal von Welt 3 zählen wissenschaftliche
Hypothesen oder Theorien (die vieles gemeinsam haben mit fiktiven Narrationen),
mathematische Konstrukte, eben jede Art von schöpferischen Abstraktionsleistungen
wie wir ihnen z.B. in Form von Symphonien, Gemälden und Skulpturen, Autos und
Autobahnen, Dampfmaschinen und anderen Errungenschaften des Ingenieurwesens
begegnen. Die abstrakten Objekte aus Welt 3 (Theorien z.B.) bilden sich in Welt
2 (Gedanken) ab und finden ihre Verkörperung oft in Welt 1 (Buch).
Zu
den Elementen der Welt 3 rechnet man Hypothesen, Theorien, die Inhalte von
Büchern und der logische Gehalt von Aussagen. Welt 3 umfasst somit auch die
Hervorbringungen der Objektivität, also jenes Prozesses, der es uns erlaubt,
unsere Ideen zum Gegenstand eines kritischen Diskurses zu machen, an dem nicht
nur ein Subjekt, sondern eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl von Subjekten
beteiligt ist. Welt 3 unterscheidet sich von Welt 1, der Sphäre der materiellen
Gegenstände, insofern, als ihre Objekte immateriell und abstrakt sind. Dieser
Unterschied ist der Unterschied zwischen einem Tisch und einem Gedanken. Welt 3
unterscheidet sich von Welt 2, der Sphäre der persönlichen Erfahrungen und Bewusstseinszustände,
insofern, als sie Sachverhalte und Zusammenhänge umfasst, die unabhängig von
derartigen Bewusstseinszuständen existieren. Es ist der Unterschied zwischen
dem Sachverhalt, wonach 3 mal 5 gleich 15, und der persönlichen Kenntnis dieses
Sachverhalts. Der Sachverhalt besteht auch dann, wenn man mit ihm nicht
vertraut ist, wie es uns allen einmal erging, bevor wir die Mathematik
kennenlernten.
Welt
3 ist somit autonom. Ihre Autonomie ergibt sich daraus, dass die Konsequenzen,
Implikationen und gegenseitigen Zusammenhänge ihrer Elemente größtenteils nicht
vom Menschen erdacht oder bestimmt werden, sondern, sofern dies überhaupt
gelingt, von ihm entdeckt werden, wie andere Sachverhalte und Tatsachen, die
nicht das Werk seines bewussten Strebens und Schöpfertums sind. In Gestalt der
Welt 3 begegnet uns abermals eine spontane Ordnung, von der wir in der Wendung
des Adam Ferguson (siehe 1. Kapitel) sagen können, dass sie das Ergebnis menschlichen Handelns ist, nicht
aber das Resultat eines menschlichen Plans.
Welt
3 besteht zwar aus den Produkten des menschlichen Geistes, bei deren Erzeugung
oft auch Absicht und Zielstrebigkeit im Spiele sind, wie wenn z.B. ein
Mathematiker sich vornimmt, alle Eigenschaften der natürlichen Zahlen
kennenzulernen. Nichtsdestotrotz führen die Ergebnisse des menschlichen Geistes
auch ein Eigenleben. Der Mensch mag das System der natürlichen Zahlen kraft
eigener Anstrengungen entwickelt haben. Aber wenn er sich dieses Werk seiner
geistigen Bemühungen genauer ansieht, entdeckt er Vieles, was er niemals dort
hineingelegt hat. Er entdeckt zum Beispiel, dass es gerade und ungerade Zahlen
gibt, dass es Primzahlen gibt, dass irgendwann die unerwartete Frage auftritt,
ob es eine letzte und größte Primzahl gibt, oder ob die Menge der Primzahlen endlich
oder unendlich ist.
Es
könnte zahlreiche Implikationen der speziellen Relativitätstheorie geben, an
die Einstein nie gedacht hat. Sie mögen erst nach seinem Ableben nach und nach
entdeckt werden, oder auch nie. Wären die Menschen vor 4 000 Jahren
ausgestorben, gäbe es heute keine Differentialrechnung. Auch würde niemand aus
Rohöl einen Stoff gewinnen, mit dem man so genannte Autos antreiben kann. Die
Theorien, die Denkinhalte, die uns die Differentialrechung und den Benzinmotor
gegeben haben, sind nicht weniger gültig, nur weil man erst im 19. Jahrhundert
auf sie gestoßen ist, als wenn man schon vor 4 000 Jahren oder selbst heute
noch nicht auf sie gestoßen wäre.
Unser
Wissen ist Anpassungswissen, jedenfalls soweit es am Erkenntnisfortschritt
beteiligt ist. Es ist Wissen auf Abruf. Vergänglich, revidierbar, nie sicher
davor, eines Tages überholt zu sein. Denn wir sind nie sicher, was uns auf der
Odyssee durch Welt 3 alles begegnen mag.
Obwohl
immateriell, ähneln die abstrakten Objekte der Welt 3 in gewisser Hinsicht physischen
Gegenständen. Denn wie Presslufthammer, Dachrinnen oder Ersatzreifen sind sie in
der Lage, eine konkrete Wirkung auf Welt 1 (physische Objekte) und auf Welt 2
(Bewusstseinszustände) auszuüben. Sie machen bestimmte Dinge möglich (die
moderne Physik oder den Bau von Wasserkraftwerken z.B.) und andere unmöglich (die
Addition 2+2 = 5 oder den Verzehr von Fleisch an Freitagen durch Vertreter
einer bestimmten Glaubensrichtung). Ja, sie können viel wirkkräftiger und
folgenschwerer sein als Realobjekte.
Die
sich über lange Zeiträume entspinnende Entwicklung des menschlichen Geistes ist
maßgeblich geprägt durch den ständigen Widerstand, den unser Denken in der
Begegnung mit der objektiven, autonomen Welt 3 erfährt. Der Mensch wird zum
Menschen, indem er lernt, mit Welt 3 gleichsam zu kooperieren. Wir sind von
Welt 1, der materiellen Welt, abhängig. Aber es ist bis zu einem gewissen Grade
eine gegenseitige Abhängigkeit. Die materielle Welt wirkt auf uns ein. Wir
wirken auf sie ein. Ebenso stehen wir Welt 3, der Welt abstrakter Sachverhalte,
gegenüber in einem Verhältnis wechselseitiger
Abhängigkeit (Interpendenz).
Sie
gibt uns Bahnen vor, aus denen wir nicht ausbrechen können. Sie stattet den von
uns bewohnten Teil des Universums für uns mit Möglichkeiten und dem Unmöglichem
aus. Aber im Rahmen dessen, können wir die Welt der Theorien auch zum
Instrument unserer Zwecke machen.
Wir
erproben unsere Bedürfnisse und Wünsche in Welt 3. Dort können wir unsere
Theorien probeweise scheitern lassen, statt im Eigenversuch dieses Schicksal zu
erleiden. Wir nutzen das Exerzierfeld der Welt 3, um besser zu verstehen,
welche unserer Ziele erreichbar sind, in welchem Maße und in welchen Schritten.
Wie Welt 1 und Welt 2 ist auch Welt 3 ein Bestandteil des ökologischen
Habitats, das wir als Gattung besetzen. Der Mensch muss sich dem ihn
umfangenden Lebensraum anpassen; dazu gehört es, Nischen zu suchen und zu
gestalten, die dem Menschen gemäß sind. Die Umwelt selektiert uns. Aber wir
selektieren auch unsere Umwelt.
Wir
haben bereits erwähnt, dass auch Lebewesen, die in ihrer Subjektivität
eingeschlossen sind, nämlich alle Tiere, denen die höheren Funktionsschichten
der menschlichen Sprache fehlen, dennoch von rudimentären Theorien (Annahmen
über die Welt), d.h. von angeborenen Erwartungen, instinktiven
Verhaltensneigungen und elementaren Formen des Lernens, beeinflusst sind.
Doch
erst beim Menschen, der zur Objektivität befähigt ist, wird der Austausch
zwischen Welt 2 (dem subjektiven Bewusstsein) und Welt 3 (der Welt der
theoretischen Visionen und der in ihr enthaltenen unbeugsamen Tatsachen) zum
herausragenden Gattungsmerkmal, das auch nachhaltig auf Welt 1 (die physische
Realität) zurückwirkt. Aufgrund dessen ist der Mensch in seinen Anpassungs- und
Entwicklungsmöglichkeiten als Gattung nicht
wie alle anderen Tiere fast ausschließlich von der genetischen Evolution
abhängig: Ungeplant bringt er im Rahmen der größeren, kosmologisch
dimensionierten Evolution eine spezielle Form von Evolution hervor: die kulturelle Evolution, die gewissermaßen
als Evolutionsturbo fungiert, vermöge dessen der Mensch zivilisationsfähig wird,
d.h. seine Fähigkeit, die Umwelt (natürlich nicht als Ganzes, sondern bestimmte
Aspekte von ihr) zu selektieren, erreicht ein ganz neues Niveau an
Durchschlagskraft.
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