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Die Moderne Geldtheorie (MGT / engl. ModernMoneyTheory) sieht in der Geldwirtschaft ein System zur Verwaltung von komplexen gegenseitigen Schuldverpflichtungen, eine Handelsplattform für IOUs, wenn man so will.
Vor diesem Hintergrund ist der unten wiedergegebene englische Beitrag recht interessant. Darin wird argumentiert, dass das Phänomen gegenseitiger Verschuldung schon sehr alt sei. Es sei falsch, dass es, entwicklungsgeschichtlich recht spät, erst als Nachfolger des Naturaltausches auftritt, wie Adam Smith es lehrte und zeitgenössische Lehrbücher es noch immer darstellen.
Schulden — ein Fundament des Menschseins
Das Prinzip der gegenseitigen Verschuldung sei grundlegend für das Zusammenleben von Menschen. Es helfe, das Leben miteinander berechenbar zu gestalten und Vertrauen zu institutionalisieren (siehe auch meine Ausführungen an der Uni Witten zur Kategorie des effektiven Vertrauens).
Die anthropologische Forschung liefere keine Hinweise auf reine Naturaltauschgesellschaften; die frühsten Belege verwiesen vielmehr auf Techniken zur Registrierung von Forderungen und Verbindlichkeiten.
Die reine Naturaltauschgesellschaft sei eine nachträgliche Rationalisierung von Ökonomen, die keinerlei Entsprechung in der historischen Forschung findet.
Dennoch behaupte die ökonomische Theorie, Geld — und später eine Verschuldungsordnung — hätten sich aus Schwierigkeiten entwickelt, die im Urstadium des Naturaltausches aufgetreten seien — z.B. aus dem Problem der Notwendigkeit der doppelten Übereinstimmung der Bedürfnisse, sprich: in einer Gesellschaft, die kein Geld kennt, kann einer, der eine Henne anzubieten hat, nur mit dem einen gegenseitig befriedigenden Tausch vollziehen, der genau die angebotene Henne braucht und - doppelte Übereinstimmung der Bedürfnisse - seinerseits etwas anbietet, das genau dem Bedürfnis des Hennenbesitzers entspricht, z.B. ein Fahrradpedal vom Hersteller Genauderundkeinanderer; Geld hingegen lässt sich gegen beliebige Angebotsprodukte eintauschen. Es erzeugt pure Kaufkraft, die es gestattet den Lohn für die Befriedigung des Bedürfnisses nur einer von zwei Handelsparteien zu speichern bis sich für die andere Partei eine Gelegenheit bietet, etwas zu erwerben, das seinem Bedürfnis gemäß ist.
In kleinen, frühen Gemeinschaften hätte jedoch der reine Naturaltausch sich kaum durchsetzen können, behauptet der Autor David Graeber. Ein strenges Tausch-Regime basiere auf Antagonismen zwischen den Menschen, da der Handel ein Nullsummen-Spiel darstelle — ein Punkt, den ich freilich nicht teile. Demgegenüber sei es eine Überlebensbedingung kleiner Gruppen, dass Vertrauen zwischen den Mitgliedern herrsche, und ein solches Vertrauen könne nur entstehen, wenn die Menschen gegenseitige Verpflichtungen (Schulden) eingingen.
Was ich mitnehme
An dieser Stelle frage ich mich jedoch, warum der Tausch im Sinne des Handels (zwischen Individuen) grundsätzlich antagonistisch sei, während nur die (in einer engen Gemeinschaft praktizierte) Reziprozität von Verpflichtungen Platz lasse für ein nicht-antagonistisches Miteinander.
Tatsächlich werden zwar nicht alle, aber doch zahlreiche Handelstransaktionen beide Seiten befriedigen — und wer will das friedensstiftende Potenzial des Handels grundsätzlich bestreiten? —, während viele gegenseitigen Verpflichtungen, die einem die Gemeinschaft auferlegt, als ungerecht und repressiv empfunden werden — z.B. wenn starke Machtungleichgewichte bestehen.
Man sollte die Harmonie, die angeblich in engen Gemeinschaften herrsche, nicht überschätzen; es gibt viele anthropologische Belege dafür, dass Repression und leidvolle Unterdrückung des Individuums sehr häufig anzutreffen sind in closely knit communities.
Kann es überhaupt eine trennscharfe Grenze geben zwischen Naturaltausch, sonstigen Handelsformen und gemeinschaftlichen Reziprozitätserwartungen/verabredungen/bestimmungen? Ich kann nicht sehen, warum Formen des gemeinschaftlichen Geben-und-Nehmens von Natur aus weniger kontrovers sein sollen als Tauschrelationen, die bei Gegengeschäften oder am Markt verhandelt werden.
Richtig scheint mir jedoch die Einsicht, dass das Leben in menschlichen Gemeinschaften immer auf einer Schuldenordnung beruht. Wir sind aufeinander angewiesen, weswegen wir schnell an den Punkt gelangen, wo geklärt sein will, wer wen unterstützen soll, auf welche Weise und welche Erwartungen damit verbunden werden dürfen.
Richtig scheint mir die Einsicht, dass eine Schuldenordnung jeder Form von Handel und Geldwirtschaft zugrunde liegt.
Richtig scheint mir daher auch die Einsicht, dass es eine reine Naturalwirtschaft nie gegeben haben kann und dass vielmehr der Naturaltausch — ebenso wie andere Formen des Handels — eine Variante darstellt im Spektrum der Verfahren, mit denen wir eine brauchbare Schuldenordnung zu gestalten trachten.
[The below article inspired me to conclude that debt is indeed a fundamental human relationship underlying all forms of trade, including barter and money-based exchanges. However, I do not think that barter and money-based exchanges are naturally antagonistic, while only certain forms of communal reciprocity are capable of being non-antagonistic. Instead, all three categories represent attempts at organising the fundamental human relationship of debt or mutual obligation. None of which is entirely benign or totally detrimental by nature. Money-based exchanges are a vital institutional innovation that is indispensable in a populous civilisation that is peaceful and highly productive, because effective trust is spread among humans, who for the most part do not know each other in person.]
Ich beziehe mich auf diesen Post:
See also The Myth of the Barter Economy, which I discovered when I had finalised this post.
Schulden — ein Fundament des Menschseins
Das Prinzip der gegenseitigen Verschuldung sei grundlegend für das Zusammenleben von Menschen. Es helfe, das Leben miteinander berechenbar zu gestalten und Vertrauen zu institutionalisieren (siehe auch meine Ausführungen an der Uni Witten zur Kategorie des effektiven Vertrauens).
Die anthropologische Forschung liefere keine Hinweise auf reine Naturaltauschgesellschaften; die frühsten Belege verwiesen vielmehr auf Techniken zur Registrierung von Forderungen und Verbindlichkeiten.
Die reine Naturaltauschgesellschaft sei eine nachträgliche Rationalisierung von Ökonomen, die keinerlei Entsprechung in der historischen Forschung findet.
Dennoch behaupte die ökonomische Theorie, Geld — und später eine Verschuldungsordnung — hätten sich aus Schwierigkeiten entwickelt, die im Urstadium des Naturaltausches aufgetreten seien — z.B. aus dem Problem der Notwendigkeit der doppelten Übereinstimmung der Bedürfnisse, sprich: in einer Gesellschaft, die kein Geld kennt, kann einer, der eine Henne anzubieten hat, nur mit dem einen gegenseitig befriedigenden Tausch vollziehen, der genau die angebotene Henne braucht und - doppelte Übereinstimmung der Bedürfnisse - seinerseits etwas anbietet, das genau dem Bedürfnis des Hennenbesitzers entspricht, z.B. ein Fahrradpedal vom Hersteller Genauderundkeinanderer; Geld hingegen lässt sich gegen beliebige Angebotsprodukte eintauschen. Es erzeugt pure Kaufkraft, die es gestattet den Lohn für die Befriedigung des Bedürfnisses nur einer von zwei Handelsparteien zu speichern bis sich für die andere Partei eine Gelegenheit bietet, etwas zu erwerben, das seinem Bedürfnis gemäß ist.
In kleinen, frühen Gemeinschaften hätte jedoch der reine Naturaltausch sich kaum durchsetzen können, behauptet der Autor David Graeber. Ein strenges Tausch-Regime basiere auf Antagonismen zwischen den Menschen, da der Handel ein Nullsummen-Spiel darstelle — ein Punkt, den ich freilich nicht teile. Demgegenüber sei es eine Überlebensbedingung kleiner Gruppen, dass Vertrauen zwischen den Mitgliedern herrsche, und ein solches Vertrauen könne nur entstehen, wenn die Menschen gegenseitige Verpflichtungen (Schulden) eingingen.
Was ich mitnehme
An dieser Stelle frage ich mich jedoch, warum der Tausch im Sinne des Handels (zwischen Individuen) grundsätzlich antagonistisch sei, während nur die (in einer engen Gemeinschaft praktizierte) Reziprozität von Verpflichtungen Platz lasse für ein nicht-antagonistisches Miteinander.
Tatsächlich werden zwar nicht alle, aber doch zahlreiche Handelstransaktionen beide Seiten befriedigen — und wer will das friedensstiftende Potenzial des Handels grundsätzlich bestreiten? —, während viele gegenseitigen Verpflichtungen, die einem die Gemeinschaft auferlegt, als ungerecht und repressiv empfunden werden — z.B. wenn starke Machtungleichgewichte bestehen.
Man sollte die Harmonie, die angeblich in engen Gemeinschaften herrsche, nicht überschätzen; es gibt viele anthropologische Belege dafür, dass Repression und leidvolle Unterdrückung des Individuums sehr häufig anzutreffen sind in closely knit communities.
Kann es überhaupt eine trennscharfe Grenze geben zwischen Naturaltausch, sonstigen Handelsformen und gemeinschaftlichen Reziprozitätserwartungen/verabredungen/bestimmungen? Ich kann nicht sehen, warum Formen des gemeinschaftlichen Geben-und-Nehmens von Natur aus weniger kontrovers sein sollen als Tauschrelationen, die bei Gegengeschäften oder am Markt verhandelt werden.
Richtig scheint mir jedoch die Einsicht, dass das Leben in menschlichen Gemeinschaften immer auf einer Schuldenordnung beruht. Wir sind aufeinander angewiesen, weswegen wir schnell an den Punkt gelangen, wo geklärt sein will, wer wen unterstützen soll, auf welche Weise und welche Erwartungen damit verbunden werden dürfen.
Richtig scheint mir die Einsicht, dass eine Schuldenordnung jeder Form von Handel und Geldwirtschaft zugrunde liegt.
Richtig scheint mir daher auch die Einsicht, dass es eine reine Naturalwirtschaft nie gegeben haben kann und dass vielmehr der Naturaltausch — ebenso wie andere Formen des Handels — eine Variante darstellt im Spektrum der Verfahren, mit denen wir eine brauchbare Schuldenordnung zu gestalten trachten.
[The below article inspired me to conclude that debt is indeed a fundamental human relationship underlying all forms of trade, including barter and money-based exchanges. However, I do not think that barter and money-based exchanges are naturally antagonistic, while only certain forms of communal reciprocity are capable of being non-antagonistic. Instead, all three categories represent attempts at organising the fundamental human relationship of debt or mutual obligation. None of which is entirely benign or totally detrimental by nature. Money-based exchanges are a vital institutional innovation that is indispensable in a populous civilisation that is peaceful and highly productive, because effective trust is spread among humans, who for the most part do not know each other in person.]
Ich beziehe mich auf diesen Post:
David Graeber: Debt: the Myth of Barter
Adam Smith got it wrong about primitive society where he said that people bartered, says David Graeber. What they had was a kind of mental debt system. You'd help someone one day, or give them something, but you expected the favour returned on another day if you needed it.
In the second chapter David Graeber explodes a foundational myth of economics. In textbooks all around the world the history of economics is summarized thusly: first came barter, then money, only later were credit and debt invented. The problem with this presentation is that “barter” economies pretty much never existed. We don’t find them either in anthropological study of any human cultures around the world, nor in historical records anywhere. In fact, the very first records of any kind are of credits and debits in Mesopotamian tablets.
But the story of barter is so ingrained in us we probably find the fact that it didn’t really happen dumbfounding. I mean, of course people barter. Don’t they? If I have wheat and you have ham and I want ham but I don’t have any money I just trade you my wheat for your ham, right?
Graeber shows how the idea of barter was created in exactly this way: as a thought experiment by economists trying to explain their discipline. But the myth of barter was never really compared against actual human societies. It was was simply assumed that barter must be what people do when they don’t have money and all sorts of imaginary scenarios were concocted, without reference to historical records, to explain the invention of money and gradually increasing complexity of this new thing they called “the economy”.
Economists imagine that complications arising from barter are what gave the impetus for creating money. For example they describe something called the double coincidence of needs: you and I both have to need what the other has for a direct trade to work. But the truth is much simpler. Barter doesn’t work in a small village or tribal setting because it presumes antagonism between the people involved in the exchange. If we live in a village where we see each other on a daily basis though, we can’t afford this kind of antagonism. I can’t seek my own gain at your loss because we are in a long-term relationship. Instead we will come up with a way of accounting for debts. When you need wheat I will give it to you with the understanding that when I need ham you will return the favour.
Here is what I think the take-away from this mistaken historiography should be: the foundational myth of economics establishes the entire system on the basis of antagonistic transactions of self-interest when in truth the story of debt is a story about human relationships. Debt was originally the answer to the question of how you and I can meet each others’ needs and remain friends.
See also The Myth of the Barter Economy, which I discovered when I had finalised this post.
Wie wurden Schulden geregelt in einer Zeit, als es noch kein Geld gab?
ReplyDeleteWar es einfacher, etwas über eine längere Zeitspanne abzubezahlen (z.B. in Form von gesammelten Beeren),
da man sowieso auf engem Raum lebte? Oder hatte man eine Art Geldersatz - wie z.B. die Zigaretten im Krieg?
wenn geld ein schuldanerkenntnis ist (dazu mehr in meinem nächsten post), dann sind in der vor- und frühgeschichte die übergänge zwischen geld als zahlungsmittel (münzen etc.) und der regelung von schulden bestimmt fließend gewesen. die frühsten anthropologischen funde weisen darauf hin, dass man verzeichnisse hatte, in denen die jeweiligen schuldverhältnisse registriert wurden. außerdem werden gesellschaftliche konventionen und das machtwort der herrschenden eine rolle gespielt haben beim festlegen dessen, wer wem was schuldet.
ReplyDeletezum thema geld als schuldanerkenntnis:
ich arbeite für meinen arbeitgeber, der schuldet mir etwas für meine arbeitsleistung (er ist mein schuldner, ich sein gläubiger). er überweist geld auf mein konto (damit wird meine bank zu meinem schuldner, ich zu deren gläubiger); ich zahle beim penny mit kreditkarte, ich werde zum schuldner von penny, penny mein gläubiger, penny "geht" zu meiner bank, die zunächst noch pennys schuldner ist (weil meine bank mir das geld schuldet, was ich penny schulde), diese ist schuldner penny und mir gegenüber, doch hebt sie diese schulden durch überweisung des geschuldeten geldes an penny auf - die bank hat damit meine schuld bei penny und ihre schuld mir gegenüber beglichen (ich habe ja ein guthaben aus dem lohneingang, das für die bank eine verbindlichkeit mir gegenüber ist, dergestalt, dass sie schulden, die ich wo anders mache, mit hilfe dieses guthabens begleichen muss, wenn ich dies verlange) ...
modernes geld ist also ein "spreadsheet system", dass unsere gegenseitigen schulden und veränderungen in unseren schuldverhältnissen verzeichnet.
das ist auch ein grund, warum buchhaltung wichtig ist, wenn man geld verstehen will.