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Die Grenzen des Laissez Faire
I — Gefangen in einem Dilemma
Dass vieles in einer Wirtschaft
automatisch abläuft, berechtigt nicht zur Annahme, dass eine dem Menschen
gemäße Wirtschaftsordnung zustande kommt, wenn man diese sich selbst überlässt.
Es gibt vieles das schief gehen
kann, wenn man selbstgängige Abläufe gewähren lässt — z.B. lauern an allen
Ecken und Enden Probleme vom Typ des Gefangenendilemmas.
Wenn zwei oder mehr Akteure
jeweils das tun, was die rationale Verfolgung ihrer persönlichen Interessen
gebietet, ist es in einer nicht kleinen Klasse von Fällen so, dass das
Zusammenwirken der einzelnen Vorgehensweisen eine Situation erzeugt, die die
Beteiligten — mitunter dramatisch — schlechterstellt, als wenn sie sich
absprechen würden oder Regeln unterworfen wären, so dass ein kollektives Kalkül
aus der Sackgasse herausführt, in die die individualistische Logik die Parteien
lockt. Um in solchen Fällen Schaden abzuwenden, bedarf es also eines
intelligenten und sozial koordinierten Eingreifens in die zwangsläufigen
Abläufe der unkorrigierten Ordnung.
Nur eines von vielen Beispielen:
Finanzkapital ist mobil heutzutage — binnen Sekunden fließt es weltweit von Ort
zu Ort – immer auf der Suche nach den höchsten Zinssätzen. Um eine
Wechselkurskrise zu vermeiden, die durch den plötzlichen Abfluss von Kapital
aus der eigenen Währung ausgelöst würde, sind viele Staaten bemüht, ihre Zinsen
ein wenig höher zu halten als andere Staaten. So treiben die Konkurrenten die
Zinsen allenthalben auf ein hohes Niveau, was ihnen wiederum Platz raubt für
zinspolitische Steuerungsmaßnahmen. Sie büßen nun auf diese Weise an
staatlicher Souveränität ein. Ein vordergründiges Eigeninteresse führt zu
negativen Konsequenzen, die sich nur vermeiden ließen, wenn die betroffenen
Staaten sich auf konzertierte Regeln verständigen könnten, mit denen sich schädliche
Nebeneffekte ungehinderter Kapitalmobilität eindämmen lassen.
Die Grenzen des Laissez Faire II — Die Freiheit einzugreifen
Der Kapitalismus beruht auf
Formen der Freiheit, die es erlauben grundlegende Dinge, die uns alle
betreffen, umzuwälzen. Nicht alles, was der in die schöpferische Freiheit
entlassene Mensch an Neuerungen bewerkstelligt, mag zuträglich sein. Und wenn
ja, dann stellt sich oft die berechtigte Frage, für wen diese Veränderungen
zuträglich und für wen sie es nicht sind.
Freiheit bedeutet Heterogenität, Aufspaltung der Interessen in Vielheit
und damit mehr Wettbewerb um gesellschaftliche Geltung, verglichen mit Zeiten,
in denen eine Elite ihre Interessen über die aller anderen stellen und den
Großteil der Bevölkerung zur Unterordnung nötigen konnte. Freiheit also
vervielfältigt und veröffentlicht die Menge der Ansprüche, die nach Anerkennung
durch die Gemeinschaft streben.
Diese Vorbetrachtung ist nötig,
um klarzustellen, dass Vorstellungen von der Freiheit als einer sich selbst
erzeugenden und sich selbst stabilisierenden Ordnung grundsätzlich unvereinbar
sind mit den elementarsten Postulaten einer freien Gesellschaft: der Forderung
nach Gestaltungsfreiheit, dem Anspruch auf abweichende Ideen und Ziele, dem
Recht auf Widerspruch und Verwirklichung neuer Leistungen und Produkte, neuer
Werte, Lebensbedingungen und Lebensweisen. Die Regeln der Freiheit, die allen
die Grenzen ihrer Autonomie aufzeigen, sind nicht solcher Art, dass sie die
Unbestimmtheit der durch freie Menschen gestalteten Zukunft verhindern. Die
Ergebnisse der Freiheit können nicht vorherbestimmt werden. Die Regeln, auf
denen sie fußt, zumindest die grundsätzlichen und besonders wichtigen, mögen eindeutig
benennbar und stabil sein, niemals aber die Resultate der durch sie geschützten
freiheitlichen Prozesse.
Deshalb kann weder die Freiheit
noch das wirtschaftliche Geschehen, das sich in einer freien Gesellschaft
abspielt, ausschließlich oder vornehmlich den Charakter eines natürlichen, sich
selbst überlassenen Ablaufs haben. Menschliches Zutun ist immer im Spiel, und
es ist unverzichtbar, wenn die Bedingungen and Folgen des Wirtschaftens nicht
blind wuchern, sondern dem besseren Ratschluss menschlicher Einsicht und
berechtigten menschlichen Interessen gehorchen sollen.
Eine freie Wirtschaft ist demnach
in dem Maße frei als sie eben nicht Naturprozess, sondern Politikum ist:
Resultat eines offenen Prozesses der Geltendmachung und des Ausgleichs vielgestaltiger
Interessen.
Im Übrigen krankt die Parole vom
„laissez faire“ an einem fundamentalen logischen Widerspruch: wenn wir nämlich
„alles sich selbst überlassen“, beginnen die sich selbst überlassenen Menschen,
die Dinge in die Hand zu nehmen und so zu organisieren, wie sie sich das
vorstellen — kurz gesagt: es gibt keine Möglichkeit nicht einzugreifen, ohne
dass dies zu Eingriffen führt. Den Vertretern bleibt dann nur noch der Rückzug
auf den Standpunkt, dass sie bestimmen sollten, welche minimalen Eingriffe
erforderlich sind, damit das System im Großen und Ganzen ohne Eingriffe
auskomme. Nur ist das keine Position, die sich mit der Freiheit vereinbaren
lässt, wie oben erklärt. Es ist also besser das Eingreifen zu organisieren als
das Nichteingreifen, und mit Freiheit meinen wir nichts anderes als ein
zweckmäßig-rücksichtsvoll organisiertes Eingreifen, welches viel Platz dafür
lässt, dass Individuen nach ihren eigenen Vorstellungen in Wirtschaft und
Gesellschaft eingreifen können.
Die Grenzen des Laissez Faire
III: ökonomischer Naturalismus und politische Verantwortung
Thomas Palley spricht vom ökonomischen Naturalismus („economic naturalism“), wenn er die Eigenart der modernen Ökonomie meint, naturgesetzliche Automatismen im Wirken der Wirtschaft zu unterstellen: den natürlichen Zinssatz, die natürliche Arbeitslosenquote, die natürliche Wachstumsrate. Der ökonomische Naturalismus suggeriert ein von Natur aus gegebenes Optimum, das sich über kurz oder lang einspielt, sofern der Mensch diesen Prozess nicht durchkreuzt. Damit verleitet der ökonomische Naturalismus zu einem gewissen Fatalismus. Etwa dergestalt, dass er annimmt die Wirtschaft bedürfe eines gewissen natürlichen Maßes an Arbeitslosigkeit, um ins Gleichgewicht zu kommen, und wenn dieser „gesunde und natürliche“ Grad an Beschäftigungslosigkeit sich eingependelt habe, bliebe nichts mehr zu tun, was die Lage verbessern könne.
Als funktionierendes Verfahren
profitierte der KEY (Keynesianismus) von 1945-1975 von historischen Umständen,
die dem Erfolg des Nachfrage-Managements sehr entgegenkamen: starke,
gesellschaftlich anerkannte Gewerkschaften; wirkungsvolle Kontrollen des
internationalen Finanzkapitalmobilität;
eine stark eingeschränkte Fähigkeit, Arbeitsstätten zu verlagern; und
ein binnenwirtschaftlicher Nachfrage-Boom. Diese lange bestehenden fast idealen
Bedingungen konnten einen dazu verleiten, das Nachfrage-Management für einen
„Selbstläufer“ zu halten, einen natürlichen Vorgang, der ohne wandelbare
politische Voraussetzungen auskam und einfach per se funktionierte. So verlor
der KEY die Notwendigkeit, um seine Verwirklichung politisch zu kämpfen, aus
den Augen, mit dem Resultat, dass sowohl die Gründe seines Niedergangs als auch
das neue wirtschaftliche Paradigma den Anschein haben, dem natürlichen Wandel
der Dinge geschuldet und unvermeidbar zu sein.
Dieser Mythos wird kräftig
gefördert durch die Hauptströmungen der Ökonomie, die dem KEY vorausgegangen
waren, aber auch die, welche seit Ende der 1970er die Nachfolge des KEY
angetreten haben — sie sind vollends apolitisch und ohne jeden Sinn dafür, dass
es die Rivalitäten, die Kämpfe, die Verhandlungen und die Kompromisse politisch
handelnder Menschen sind, die der Wirtschaft ihren Charakter aufprägen.
Soll die Erosion des Wohlstands
breiter Bevölkerungsschichten aufgehalten und allmählich wieder umgekehrt
werden, gilt es den fatalistischen Glauben an eine natürliche Ordnung der Dinge
im Wirtschaftsleben wieder zu ersetzen durch ein Bewusstsein für die politische
Verantwortung, die wir alle tragen, wenn es gelingen soll, Institutionen und
soziale Kompromisse zu schaffen, die unerlässlich sind für ein breites, alle
sozialen Schichten erfassendes Wohlstandswachstum.
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