Tuesday, 23 August 2016

Ökonomie und Finanzwirtschaft (3) — Über einen maßgeblichen Unterschied



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Fortgesetzt von hier.


Es steht außer Frage, dass Wirtschaftswachstum angewiesen ist auf die Bereitstellung von Krediten für die Realwirtschaft. Jedoch ist es so, dass das Gros an Krediten nur gegen Sicherheiten ausgereicht wird. Diese Art der Kreditvergabe beruht also auf dem Besitz von Vermögenswerten seitens der Kreditnehmer. Wie schon Schumpeter unterstrich ist Kredit somit kein „Produktionsfaktor“, sondern eine Vorbedingung, die erfüllt sein will, bevor Produktion überhaupt stattfinden kann.

Man mag sich fragen, warum besicherte Kredite gewissermaßen einen Fremdkörper darstellen sollen, der den Notwendigkeiten der Realwirtschaft irgendwie äußerlich sei.

Wenn ich Bezemer und Hudson richtig verstehe, wollen sie folgendes sagen: Das Angewiesen-Sein des Produzenten auf den Kreditgeber führt eine Verhaltensoption ein, die zu Missbrauch Anlass geben kann. Der Kreditgeber kann den „Eintrittspreis“ für die Durchführung eines angestrebten Produktionsvorhabens unnötig überhöhen. Doch wann ist die Schwelle überschritten, die den Vorwurf des „Wuchers“, der „Ausbeutung“, der „Überteuerung“, der „ungerechten Bereicherung“ rechtfertigt?

Kredit — eine Art der Vorleistung — ist immer im Spiel, wenn Geschäfte stattfinden, bei denen Erzeugung und Verbrauch zeitlich auseinander liegen. Kredit ist schon im Neolithikum involviert, als die Landwirtschaft aufkommt, namentlich in der Phase zwischen Saat und Ernte, und später sind die ausgeprägte Arbeitsteilung und der zeitaufwendige Fernhandel angewiesen auf Formen der Kreditgewährung.

Doch, wie gesagt, die Kreditvergabe birgt das Risiko in sich, die Wirtschaft über Gebühr zu belasten, denn sie gibt dem Gläubiger Gelegenheit, „Kassenhäuschen“ am Rand des zur Produktion führenden Wegs aufzustellen, in denen der Rentier sitzt, um seine Zugangsgebühren abzukassieren.

Bezemers and Hudsons Analyse ist umso interessanter, als sie ein Schlaglicht wirft auf die Grauzone, in der die Notwendigkeit der Kreditfinanzierung verschwimmt mit dem Übel fehlgeleiteter Kreditzwecke, überteuerter Kredite und wirtschaftlicher Zwänge, die Kreditnehmer zu Überschuldung verleiten oder sogar zwingen. Es dürfte nicht immer leicht sein, Formen unzweifelhaften Missbrauchs auszumachen, geschweige denn mit Hilfe einfach anwendbarere Verallgemeinerungen. Umso wichtiger ist es, genau hinzusehen und die Gefahren zu thematisieren und nach ihnen zu suchen.

So stellen die Autoren fest, dass die uns heute geläufige Ökonomie den Finanz- und Vermögens-Sektor unbeleuchtet lässt. Seit gut zwei Jahrhunderten, d.h. nachdem David Ricardo seine Principles of Political Economy and Taxation im Jahre 1817 veröffentlicht hatte, wurde es zur Gewohnheit, Geld als einen bloßen „Schleier“ anzusehen, der die wirtschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse zwar verdeckt, nicht aber selbst grundlegend beeinflusst. Dementsprechend beschränkt sich bis heute die Ökonomie auf die Analyse der Produktion, des Verbrauchs und der Einkommen ohne wichtige Institutionen und Folgen des Geldes in Betracht zu ziehen.

Diese Ricardianische Tradition hat es sich auch zur Angewohnheit gemacht, das Recht des Landbesitzers, Renten-Einkommen zu beanspruchen, gemeinsam mit der Arbeit und Kapitalbestandteilen der industrieller Produktion in den Rang eines Produktionsfaktors zu erheben. Die Einspeisung von Bank-Krediten in die Volkswirtschaft wird behandelt, als übte sie keinen Einfluss auf die relativen Preise, die Einkommen und ihre Verteilung aus.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, meinen die Autoren, dass Ricardo sich in diesem Sinne äußerte, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt als kurz nach Beendigung der Napoleonischen Kriege im Jahre 1815 Großbritannien wegen seiner Kriegsschulden mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Adam Smith und andere Ökonomen der Vorläufer-Generation hatten noch darauf hingewiesen, dass die Regierung jede neue Kriegsanleihe damit finanzierte, dass sie Verbrauchssteuern erhob, um die entsprechenden Zinsforderungen abzudecken.

Diese Steuern ließen die Lebenshaltungskosten steigen, machten die Geschäftstätigkeit teurer und leiteten Kaufkraft aus der Wirtschaft an die Inhaber der Anleihen ab. Des ungeachtet gelang es dem parlamentarischen Wortführer und Lobbyisten David Ricardo, eine neue Orthodoxie zu etablieren, derzufolge Geld, Kredit und Verbindlichkeiten keine Bedeutung besitzen für die Produktion, ökonomische Werte und Preise. Gemäß seiner Handelstheorie spielten ausschließlich reale Arbeitskosten eine Rolle bei der Bestimmung internationaler Preisrelationen — Geld, Kredit, der Schuldendienst blieben außen vor. Die Bedienung von Bankkrediten und die Verteilung von Finanzaktiven und Verbindlichkeiten unter den Wirtschaftsteilnehmern werden nicht als Einflussgrö0en angesehen, die sich auf die Verteilung des Einkommens und der Vermögen auswirken.

Adam Smith beklagte noch die Monopolrenten (Einkommen aus monopolistischen Vorteilen), besonders die Handelsprivilegien, welche die britische und andere Regierungen sich ausdachten, um sie an Anleiheinhaber zu vergeben, damit sie ihre Kriegsschulden abbauen konnten. Ricardo behandelte Zinsen als einen Kostenpunkt, der mit der normalen Geschäftstätigkeit anfiel. Daher rechnete er die Bedienung von Verbindlichkeiten dem Produktionssektor zu — sie war für ihn keine zusätzliche Abgabe, die dem Produzenten vom Rentier unabhängig von jeder wirtschaftlichen Notwendigkeit abgepresst wurde. Aus diesem Grunde bezog er weder Banken noch Monopole in die Erörterung ökonomischer Renten ein — deren Einkommen beruhten in seinen Augen auf Zahlungen für produktive Dienste, die somit ein unverzichtbarer Teil der Produktionskosten waren.

Die gleiche Annahme liegt noch heute der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zugrunde. Jedermanns Einkommen (Kapitalgewinne nicht eingerechnet) entspricht einem „Produkt“, zum Beispiel einer Dienstleistung des Finanzsektors. Doch sind die Einnahmen des FIRE-Sektors wirklich Teil der Produktionssphäre der Realwirtschaft — also echtes Einkommen ֫— oder sind sie nicht vielmehr Gebühren, die auf diese Sphäre erhoben werden — also Renten? Damit sind wir bei der Unterscheidung angelangt, die Frederick Soddy zwischen „wirklichem Vermögen“ und „virtuellem Vermögen“, das unter den Verbindlichkeiten der Bilanz einer Nation zu verbuchen ist, getroffen hat. Bei Zinseinnahmen und anderen Einnahmen aus Finanzdienstleistungen – handelt es sich dabei nun um Einkommen oder um Rente?

Um diese Frage zu beantworten, muss man die Wirtschaft unterteilen in einen “produktiven” Bereich, der Einkommen und Mehrwert erzeugt, und einen “extraktiven” Rentiers-Bereich, der den geschaffenen Mehrwert durch Zahlungen im Zusammenhang mit Eigentumsrechten (Eigentumsüberlassung), Krediten (Geldüberlassung) und verwandten Privilegien abschöpft.

Ich muss sagen: an diesem Punkt scheinen mir die Autoren uns noch immer eine klare Unterscheidung schuldig zu bleiben zwischen der produktiven, notwendigen und unverzichtbaren Komponente eines Entgelts für Kreditbereitstellung und einer nicht zu rechtfertigenden extraktiven Komponente. Anders betrachtet, es scheint mir noch eine Begründung auszustehen, warum ein Entgelt für Kreditbereitstellung grundsätzlich und ausschließlich extraktiven Charakters sein soll.

Bezemer und Hudson berufen sich an dieser Stelle auf die institutionalistische Schule, die Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem mit der Forderung in Erscheinung trat, die von Versorgungsunternehmen und öffentlichen Monopolen erhobenen Preise und deren Einnahmen zu regeln, so dass diese übereinstimmen mit den rein „wirtschaftlichen“ Produktionskosten, welche die klassische Ökonomik als „Wert“ definiert hatte.

Das erklärte Ziel von Bezemer und Hudson ist es, die in der zeitgenössischen ökonomischen Analyse verloren gegangene Unterscheidung zwischen „Wert“ und „Rente“ wieder aufleben zu lassen.

Erst dann sei es möglich zu verstehen, wie die Schein-Prosperität der Blasenwirtschaft in Wahrheit durch kräftig sprudelnde Kreditflüsse und das Auftürmen von Schulden genährt wurde. Der vermeintliche Wohlstand sei angewiesen gewesen auf die inflationäre Aufblähung von Märkten in bestimmten Vermögenswerten, wobei die Eigentumsrechte an ihnen jenen übertragen wurden, die bereit waren, sich am stärksten zu verschulden.

Wider betonen die Autoren, dass wir in zwei Wirtschaften leben: in der Realwirtschaft werden Waren erzeugt und Dienstleistungen erbracht und die entsprechenden Transaktionen vollzogen, Kapital gebildet, Arbeitskräfte beschäftigt und die Produktivität verbessert.

Produktives Einkommen besteht größtenteils aus Arbeits-Einkommen und Gewinnen. Die zweite Wirtschaft bildet das Rentiers-Netzwerk aus Finanzforderungen und Eigentumsansprüchen. Dort werden Zinsen und ökonomische Renten abgesaugt. Leider werde dieser Unterschied durch die offiziellen Statistiken kaschiert. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden etwa Einnahmen aus Mieten („rental income“) mit Einkommen vermengt, als ob alle Gewinne verdient worden seien. Es fehlt eine Kategorie, in die sich unverdientes und extrahiertes einstellen ließe. Die Einnahmen-Kategorie “Rente” — der Focus von zwei Jahrhunderten klassischer politischer Ökonomie — sei  in einem Orwellschen Schlund des Vergessens verschwunden.

Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist seit den 1980er Jahren neu konzipiert worden, so dass der Finanzsektor und die Immobilienbranche als „produktiv“ erscheinen. In ihr werden denn auch die tatsächlich verfügbaren Einkommen der Haushalte drastisch überzeichnet. Die quasi-„bilanziellen“ Erfassungsformate, die den meisten ökonomischen Analysen zugrunde liegen, sind Ausdruck einer Schuldner-orientierten, pro-Rentiers Ideologie. Haushalte erzielen keine Einnahmen aus den Häusern, die sie selbst bewohnen. Der Wert der “Dienste”, die ihnen ihre Häuser leisten, steigt nicht schon deshalb, weil auch das Niveau der Hauspreise steigt, wie es die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung fingiert.

Der Finanzsektor produziert keine Güter oder „Real-„Vermögen. Insofern, als er Dienstleistungen erbringt, sind diese großenteils darauf gerichtet, Einnahmen an Rentiers umzuleiten, nicht aber Arbeitseinkommen zu ermöglichen und Gewinne aus produktiver Tätigkeit zu erzeugen.

Es wird die fiktive Annahme getroffen, dass sämtliche Verbindlichkeiten dazu benötigt werden, Investitionen in die Produktionsmittel der Wirtschaft zu tätigen. Aber Banken sind dazu in der Lage, Geld zu schöpfen, um Schulden ins Leben zu rufen, die nicht verwendet werden, um produktive Investitionen vorzunehmen, sondern um sich an den bestehenden Produktionsmitteln und den von ihrem Einsatz erwarteten zukünftigen Einnahmeströmen zu beteiligen. Anders gesagt: Banken produzieren keine Güter, sie schaffen kein realwirtschaftlich unterlegtes Vermögen und sie erbringen keine produktiven Dienstleistungen; vielmehr erzeugen sie Ansprüche auf derartiges bereits geschaffenes Vermögen und derartige schon existierende Güter und Dienstleistungen — Soddys „virtuelles Vermögen“. Indem sie dies tun, tragen sie dazu bei, dass der Preis solcher Forderungen und Privilegien in die Höhe getrieben wird, denn der Preis solcher Vermögenswerte steigt solange wie Banken bereit sind, sie als Sicherheiten für ihre Kreditgewährung zu akzeptieren.

Im folgenden Absatz gebe ich einen Passus aus der Abhandlung von Benzemer und Hudson so gut ich kann wieder, der mir, wie vielleicht auch dem Leser, nicht ganz erhellt. Besonders der nächste Satz bereit mir Verständnisschwierigkeiten:

In dem Maße wie der FIRE-Sektor für den Anstieg des BIP verantwortlich ist, muss dieser aus anderen Komponenten des BIP bestritten werden. Der Handel in Vermögenswerten des Finanzsektors und der Immobilienwirtschaft stellt ein Null-Summen-Spiel (oder sogar ein Negativ-Summen-Spiel) dar. Er basiert hauptsächlich nicht auf realer Produktion, sondern auf Spekulation und dem Aufsaugen von Einnahmen, die entweder schuldenfinanziert sind, oder aus der produktiven Wirtschaft stammen. Langfristig muss dies zu einer Zunahme der Schuldenquote (Schulden ins Verhältnis zum BIP gesetzt) und schließlich zu einer Erlahmung des BIP-Wachstums führen, wenn nämlich die geplatzte Finanzblase schließlich eine Spur aus Schuldendeflation, Austeritätsmaßnahmen, Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, Pfändungen und Zwangsversteigerungen zurücklässt. Auf diese Weise lässt sich der moderne Finanzsektor im Sinne der klassischen Theorie der Renten und ihrer Unterscheidung zwischen Realvermögensbildung und schieren Aufschlagskosten („overhead“) einordnen.

„Geld“ entstammt in erster Linie der Kreditschöpfung, denn „Kredite schaffen Einlagen“. Daher spiegelt sich der Anstieg der Summe aller in das BIP eingehenden Transaktionen, die final bereitgestellte Waren und Dienstleistungen betreffen, im Volumen der sie ermöglichenden Bankkredite. Doch seit den 1980er Jahren ist die Kreditausreichung durch Banken stärker als das BIP gestiegen. Ein Großteil der seit diesem Zeitpunkt vergebenen Kredite ist nicht der Produktion zugute gekommen, sondern hat die Preisinflation von Vermögenswerten kräftig angeheizt und für steigende Lebenshaltungskosten gesorgt. Um ihren Lebensstandard zu halten, mussten die Verbraucher sich stärker verschulden. Besonders Immobilienbesitzer und Inhaber von Aktien und Anleihen machten von der Möglichkeit Gebrauch, Kredit mit diesen Vermögenswerten zu besichern. Indes die Realeinkommen sich leicht rückgängig entwickelten, sind die Lebenshaltungskosten (nach Steuern) gestiegen: Sozial- und Krankenversicherung sind stark gestiegen, so auch die Kosten für eine höherer Bildung; die Immobilienblase — von Alan Greenspan als vermögensbildend gepriesen — hat den Preis des Erwerbs von Wohnungen und Häusern nach oben getrieben. Inzwischen wird weithin anerkannt, dass der Lebensstandard in den USA seit den 1970er Jahren vornehmlich durch Schulden statt durch Einkommen finanziert worden ist. Nicht zuletzt, weil die gängige ökonomische Lehre den Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Kreditfinanzierung nicht kennt, blieb dies lange unbemerkt, bis schließlich das Platzen der Blase die Wahrheit an den Tag brachte.


Quelle.


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