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Eine Vorbetrachtung zum Machtkampf zwischen Arbeit und Kapital
Im zweiten Kapitel seines Buchs Plenty of Nothing beschäftigt sich
Thomas Palley mit den Ursachen für den Zerfall des Systems, das von 1945-1975
Wohlstand für alle ermöglichte. Bevor ich fortfahre, seine Argumente
nachzuzeichnen möchte ich eine gewisse Unsicherheit zur Sprache
bringen, die mich angesichts eines zentralen Gesichtspunkts seiner Argumentation beschleicht. Palley
ist der Meinung, dass die Stärkung der Arbeitnehmerrechte, der größere Schutz gegen
Arbeitslosigkeit und das soziale Sicherheitsnetz insgesamt dazu beitragen, die Position der Arbeitnehmer
gegenüber den Arbeitgebern zu stärken. Weder möchte ich derartige Errungenschaft in
Frage stellen — Übertreibungen selbstverständlich ausgenommen — noch bestreite
ich, dass sie der Verhandlungsstärke der Arbeitnehmer
förderlich sein können. Vor allem, wenn sie auf breite Zustimmung stoßen und
tiefe Wurzeln im Bewusstsein der Öffentlichkeit schlagen.
Meine Zweifel rühren daher, dass soziale Absicherung wie wir sie in unseren Breitengraden errungen haben offenbar auch ambivalente Effekte auslösen kann, welche unter Umständen das
Gegenteil dessen bewirken, was angestrebt wird: nämlich sichere Arbeit
und gutes Auskommen.
Ich bin mir keineswegs sicher, ob
meine diesbezügliche Intuition zutrifft, ich empfinde sie zurzeit noch eher
vage — sie lässt sich vielleicht in folgender Hypothese zusammenfassen: mit der
Ausweitung des Sozialstaats und der Gewährleistung eines verlässlichen Schutzes
vor den schlimmsten Folgen von Verhandlungsschwäche seitens der
Beschäftigten und vor allem Arbeitslosigkeit, entsteht ein System, das zum
Konkurrenten der Infrastruktur wird, die sich die Arbeiter aufgebaut haben, um
ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern zu verteidigen. Das Resultat ist
eine Atomisierung und Depolitisierung der Arbeiterschaft, so dass ihr
wichtigstes politisches Kapital schwindet: die Fähigkeit, eine gemeinsame Front
gegenüber dem Kapital aufzustellen. Die Forderung der Arbeiterbewegung nach
einem wirkungsvollen Sozialstaat nimmt irgendwann den Charakter einer
Selbst-Kannibalisierung an. Wenn Familien und Arbeitergemeinden schwächer
werden und der Arbeitslose aufgefangen wird durch den Sozialstaat, gehen
wichtige Elemente verloren, die zu einer starken Solidarität unter Arbeitnehmern
Anlass geben.
Ich meine, Palley argumentiert
überzeugend, wie ich hoffentlich werde zeigen können, dass der Faktor Arbeit über
ausreichende Macht verfügen muss, um dem natürlichen Interessensgegensatz
gegenüber dem Kapital gewachsen zu sein. Doch frage ich mich: ist der Niedergang der alle Schichten umfassenden Wohlstandgesellschaft
nicht vor allem deshalb zustande gekommen, weil der Faktor Arbeit keinen Weg
gefunden hat, ein gleichwertiger Kontrahent für das Kapital zu bleiben? Vor
allem, wie mir scheint, weil der von den Beschäftigten gewollte Sozialstaat, die „Klassen“-Solidarität der
Arbeiter erfolgreich verdrängt und (scheinbar) überflüssig gemacht hat.
Geringst verdienend oder gar arbeitslos zu sein, ist keine soziale Schande
mehr, die eine Gemeinschaft von Gemeinschaften — von der klassenbewussten
Arbeiterfamilie und dem Arbeiterviertel bis zur nationalen Volkspartei und
Gewerkschaftsbewegung — zu entschlossenem Widerstand mobilisiert. Früher
undenkbar und in seiner Undenkbarkeit konstituierend für das Klassenbewusstsein
der Arbeiter, kann heute eine minderjährige alleinerziehende Mutter halbwegs
überleben und in dieser Rolle Anspruch auf soziale Anerkennung genießen. Der
Ansprechpartner in Sachen persönlich-existenzieller Belange ist nicht mehr die
Kulturgemeinschaft der Arbeitergenossen, sondern eine Behörde. Es geht nicht
mehr darum, einer Klasse Arbeit und die dazu erforderliche gesellschaftliche
Macht zu sichern. Die relevante Frage ist, ob einem ein neuer Kühlschrank von Staats
wegen zusteht — was ich nicht ironisch-herablassend meine. Vielmehr vermute
ich, dass wir mit einem schwerwiegenden Dilemma konfrontiert sind, dahingehend,
dass die Wiederkehr der Wohlstandsgesellschaft davon abzuhängen scheint, dass der
Faktor Arbeit wieder als geschlossene politische Kraft auftritt, während die
gesellschaftlichen Bedingungen weit davon entfernt sind, dies zu gestatten.
Die Standpunkte der Arbeitgeber
und der Arbeitnehmer sind in vielen wichtigen Aspekten gegensätzlicher und
schwer zu vereinbarender Art. Soll sich aber der Auftrag der Freiheit erfüllen,
soll eine wohlhabende und sozial ausgewogene Gesellschaft entstehen, sind beide
Seiten darauf angewiesen, miteinander auszukommen. Wenn ihre unterschiedlichen
Interessen partout als unversöhnlich und unüberwindlich gelten, kann keine gute Gesellschaft
heranwachsen.
Auch wenn sie miteinander
konfligieren, beide Seiten haben ein Anrecht, ihre Interessen so weit als
allgemein verträglich anzumelden und durchzusetzen. Die entstehenden Spannungen
müssen zugelassen, ausgehalten und bewältigt werden. Aber die Notwendigkeit
eines zivilisierten Konflikts trägt ein gefährliches Paradoxon in sich — wenn
eine der beiden Seiten nicht in der Lage ist, sich in diesen Kampf als
gleichwertigen Kontrahenten einzubringen, droht Gefahr für das gesellschaftliche
Gleichgewicht.
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