Interaktive
Hyperintelligenz, Wissen ohne Subjekt, agiertes, polyzentrisches und
sedimentiertes Wissen
Wir
haben in diesem Kapitel bereits gesehen, dass die Art wie wir über
(un)zulässige Macht und (un)angemessene Formen staatlichen Handelns denken,
sehr stark beeinflusst ist von unseren mehr oder weniger vagen Vorstellungen,
von dem, was Wissen ist, wie es zu Stande kommt und welche Rolle es im Getriebe
einer Gesellschaft spielt oder spielen sollte. So kann es sein, dass Menschen
sich mit den besten Absichten für problematische Formen des Regierens und der
Gestaltung des Miteinanders stark machen, nur wegen eines verzerrten Bildes von
der Art, wie Wissen in einer modernen Gesellschaft wirkt. Die Vorstellung von
Staat und Regierung als Lenker und Vordenker der wesentlichen Geschehnisse in
einer Gesellschaft erfreut sich großer Beliebtheit, weil Politiker und
Öffentlichkeit der gleichen einseitigen und verkürzten Auffassung von der
gesellschaftlichen Funktion des Wissens zuneigen.
Im
ersten Kapitel haben wir uns mit unterschiedlichen Formen von Ordnung befasst.
Welche Formen von Ordnung wir für möglich halten und wahrzunehmen in der Lage
sind, hängt in starkem Maße davon ab, wie wir das Zustandekommen von Wissen und
sein Wirken im Geflecht der gesellschaftlichen Zusammenhänge einschätzen. Jedes
Individuum ist unentwegt damit beschäftigt, Ordnung zu schaffen. Es bedient
sich dabei seines Verstandes. Mit größtem Erfolg nutzt und erzeugt der
menschliche Verstand unentwegt explizites
Wissen von der Art 1 + 1 = 2,
oder Wenn ich X tue, dann passiert Y.
Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass auch Ordnung in den gesellschaftlichen
Belangen nur durch die ordnungsstiftende Verwertung expliziten Wissens zu gewährleisten
ist. Wenn wir deshalb die Art, wie wir in unserem alltäglichen Leben Wissen
verwenden, um unserem persönlichen Dasein eine zuträgliche Ordnung zu geben,
als das Modell ansehen, anhand dessen Ordnung in einer Gesellschaft mit Millionen
von Menschen entsteht, dann ist es zwingend logisch, die Geschehnisse einer
Gesellschaft durch eine intelligente Autorität steuern zu lassen. Weil die Macht des Denkens für uns jeden Tag
in so vielen wichtigen persönlichen Belangen erfahrbar ist, neigen wir dazu,
sie stärker zu bewerten, als das kritische Denken
über die Macht, über ihre prekären Grenzen und Gefahren.
Doch
es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich eine Gesellschaft durch explizites
Wissen abbilden und lenken lässt. Das Pulsieren des gesellschaftlichen Miteinanders
beruht in noch viel größerem Maße auf der Formierung, dem Austausch und der
Verwertung von Wissen, das nicht nur anders geartet ist als explizites Wissen,
sondern für sein Wachstum, seine Verbreitung und seine Speicherung auch anderer
Medien bedarf, als dem Medium des individuellen Verstandes. Das uns gewohnte,
explizite Wissen ist nur ein Typ und eine Zustandsform unter vielen anderen
Arten des Wissens. Und Wissen in all seinen Formen ist wiederum nur ein kleiner
Bestandteil jener Kräfte, die die Entwicklung unserer Gattung und ihrer
Gesellschaftsformen vorantreiben. Es ist nicht der Verstand, der die Ordnung
einer Gesellschaft in ihrer Gänze und all ihren maßgeblichen Aspekten erzeugt. Es
verhält sich vielmehr umgekehrt: Der Verstand ist das Produkt der kulturellen
Evolution, die uns unsere unentwegt veränderliche gesellschaftliche Ordnung
gibt. Die Werte und zahllosen anderen Voraussetzungen, unter deren Einfluss der
menschliche Verstand steht, werden von der Art, wie die Gesellschaft sich entwickelt,
bestimmt. In großem Maße und in ganz entscheidenden Belangen entwickelt sich
die Gesellschaft hinter dem Rücken der Menschen, völlig unbemerkt vom
menschlichen Verstand. Die Evolution hat mehr Möglichkeiten als der menschliche
Verstand. Sie geht ihm voraus und schafft unzählige Ordnungen, die ihrerseits
den Verstand hervorbringen, erhalten und dessen Entwicklung beeinflussen - von
den kosmologische und planetarischen Bedingungen des menschlichen Lebens bis
zur Physiologie, den neurologischen Voraussetzungen oder den geschichtlichen
Umständen unserer Gattung, die ebenfalls weder das geplante noch das planbare Erzeugnis
des Homo sapiens sind.
Das
Überleben der menschlichen Gattung hängt von unzähligen, uns nicht erfassbaren
Faktoren ab, also nicht nur von solchen, die sich rationalisieren lassen als
könne der Mensch seine eigene Entwicklung verfolgen, wie wenn er sich selbst
beim Kuchenbacken zusieht. Die Entwicklung des Menschen und seiner
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist maßgeblich geprägt von
Selektionsergebnissen, die sich auf der Ebene von Kollektivstrukturen
abspielen. Mit Kollektivstrukturen
meinen wir zunächst den menschheitsgeschichtlich vorherrschenden
Stammesverband, die verhältnismäßig kleine Horde, später größere
Menschenverbände und schließlich die Millionengesellschaft. Nicht das, was dem
einzelnen Verstand in gewohnter Konkretheit, Detailtreue und Kausalität einsichtig
und nachvollziehbar erscheint (am Tag x des Jahres y führten Ereignisse x, y,
und z dazu, dass die Menschen sich von nun an mit Handschlag begrüßten), ist
maßgeblich für die Entwicklung einer Gesellschaft, sondern der Erfolg, das
Überleben, die Dominanz der Kollektivstruktur, auf die das Individuum
angewiesen ist. Die Selektion auf der Ebene der Kollektivstruktur vermag
Aspekte zu berücksichtigen (und unbeabsichtigte Konsequenzen zur Folge haben,
sofern überhaupt Absichten im Spiele sind bei der Herausbildung überlebens- und
überlegenheitssichernder Praktiken), die weit über das hinausgehen, was der
individuelle, denkende Mensch weiß, wissen kann oder wissen will (z.B. wollen
heutzutage viele nichts von selbstregulierenden Eigenschaften einer freien
Wirtschaft wissen, oder von der Überschätzung der Einflussmöglichkeiten des
Staats). Ganz zu schweigen von Möglichkeiten der praktischen Veränderung. Sie
experimentiert mit den Möglichkeiten einer ganzen Gattung in all ihren
physischen und theoretischen Dimensionen, und nicht nur mit den Möglichkeiten,
die dem Intellekt zu bestehen scheinen oder vom Menschen absichtsvoll bewirkt
werden können.
Es
sind komplexe evolutionäre Prozesse, wie jene etwa, die sich in freien Märkten
abspielen – wir kommen gleich dazu-, die zu den überlegenen
Selektionsergebnissen führen, welche eine ausreichend anpassungsfähige,
historisch führende Kollektivstruktur auszeichnen.
Zu
diesen Selektionsergebnissen zählt der menschliche Verstand, der sich
einstweilen als eine unter zahllosen
Überlebens- und Anpassungshilfen unterm Strich bewährt hat.
Doch
der menschliche Verstand, insbesondere der ausdrücklich deduktiv räsonierende
Verstand, hätte sein jetziges Entwicklungsniveau nicht erreicht und könnte es
nicht erhalten und weiterentwickeln, wenn es nicht Formen des Wissens und der
Wissensverarbeitung gäbe, die ihm vorausgehen und solche, die ihm nicht möglich
sind, und ihn wesentlich ergänzen.
No comments:
Post a Comment