Tuesday, 10 January 2017

Wissen (14)



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Sie haben mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ihr nagelneues Auto auf der Autobahn liegen bleibt. Es wird Ihnen wenig nützen, auf dem Wissensstand zu verharren, den Sie bis zur Panne noch hatten. Sie werden Ihren Wissenstand verändern, einem neuen Problem anpassen müssen. Vielleicht erfahren Sie auf diese Weise, dass Ihr Wagen weder einen Keilriemen noch einen Zahnriemen hat, sondern über eine Kettensteuerung verfügt. „Das hätte ich nie gedacht!“ So lautet das Motto des Erkenntnisfortschritts. Im Alltag nicht anders als bei den großen Sternstunden der Menschheit.

Der erkenntnistheoretische Dogmatiker fürchtet sich vor dem Ungewissen. Desto größeren Wert legt er auf Sicherheit und lässt sich dazu verführen, sein Interesse an Phänomen des menschlichen Wissens auf solche Aspekte zu lenken, die dieses Evolutionsprodukt wie ein von klugen Menschen eingerichteter und ausgeführter Kontroll- und Sicherheitsdienst erscheinen lassen.

Ob wegen des Wunsches, die eigene Unsicherheit zu besiegen, seine Ziele als der Weisheit letzter Schluss erscheinen zu lassen und desto eher durchzusetzen, oder aus echtem Glauben an die Notwendigkeit, dass Wissen, wenn es etwas taugen soll, sicheres Wissen sein muss, jene, die für sich und ihre Anliegen mit letzten Wahrheiten suggestiv oder ausdrücklich werben, sind an ein undurchführbares erkenntnistheoretisches Programm gebunden und müssen deshalb über kurz oder lang zu fragwürdigen Mitteln wie Einbildung und Manipulation greifen. Das Bedürfnis, sich mit seinem Anliegen und seiner Sichtweise im Recht zu wissen, ersetzt nun das Motiv der Wahrhaftigkeit und verdrängt so den fallibilistischen Vorbehalt unter den die kritische Methode grundsätzlich jede These stellt.

Umso schlimmer, wenn das autoritäre Modell, von dem, was Wissen sei, in einer Gruppe oder sogar einer Kultur vorherrschend ist. Denn dann hat es sich bereits etabliert und pflanzt sich unentwegt fort als Standard für sozial anerkannte Verständigungsformen, Handlungsweisen und Bedingungen für den Erfolg von Personen und Projekten. Es ist dann gewissermaßen schon Pflicht und gehört zum guten Ton, dümmer zu sein als es eine hochentwickelte Zivilisation verträgt.

Damit autoritäres Wissen seine Funktion, Sicherheit zu vermitteln, erfüllen kann, muss das Wissen des Dogmatikers, das, woran es ihm qua Methode gebricht, mit dem wettmachen, was es qua Institution erreichen kann: Es muss Herrschaft effektiv ausüben, Rivalen nicht aufgrund besserer Argumente, sondern kraft Vormachtstellung ausschalten können, so dass keine weißen Flecken des Zweifels und der Opposition übrigbleiben. Dieses falsche erkenntnistheoretische Programm lässt sich nur durch Macht aufrechterhalten, doch auch nur auf begrenzte Zeit und mit schädigender Wirkung. Denn die Ausübung sophokratischer Kontrolle blockiert den Prozess des Erkenntnisfortschritts und damit die zivilisationserhaltende Adaptabilität der Menschen. Deshalb führen politische Systeme, deren propagandistische Selbstlegitimierung auf der Suggestion von Wissensgewissheit beruht, zur Erstarrung - wie der im ersten Kapitel besprochene Feudalismus, oder der „wissenschaftliche“ (soll heißen „unumstößlich wahre“) Kommunismus - und zum Verfall ihrer Anpassungsfähigkeit.

Jeder Mensch kann nur einen sehr kleinen Ausschnitt der vielfältigen Umstände kennen, von denen die Erreichung seiner Ziele und die Gewährleistung seines Wohlergehens abhängen. Zudem ist vieles, was er zu wissen glaubt, in Wirklichkeit sehr viel ungenauer und bestimmter als gedacht oder teilweise oder gänzlich falsch. Verschwindend klein ist sein Wissen, verglichen mit dem, was ihm unbekannt ist. Was er weiß, reicht bei weitem nicht aus, um ihm aus eigener Kraft die Gestaltung der Lebensumstände zu ermöglichen, die er sich wünscht und genießt. Dazu ist viel mehr Wissen ins Spiel zu bringen, als er besitzt.

Von dieser unvermeidlichen Beschränktheit des Wissens ist niemand ausgenommen. Dieses Defizit lässt sich daher auch nicht abbauen, wenn wir das Wissen eines besonders wissenden und weisen Individuums oder einiger weniger in dieser Weise begnadeter Individuen zum informierenden und lenkenden Maßstab aller machen, wie es die Sophokratie vorsieht. Die autoritär-hierarchische Organisation des Wissens ist keine Lösung, wenn das Ziel eine intelligentere Gesellschaft ist. Die autoritär-hierarchische Höherstellung des Wissens einer Person oder einiger weniger mag in bestimmten, funktionell beschränkten Situationen vorteilhaft sein; z.B. wenn eine Gruppe für ihre Reise nach München den einzigen Münchner unter ihnen zu ihrem Stadtführer bestimmt. Doch selbst schon in verhältnismäßig einfachen Organisationen (umso mehr in komplexen Organisationen wie ein großes Unternehmen), wo autoritär-hierarchische Strukturen einen durchaus berechtigten Platz einnehmen, wird die hierarchische Filterung und Bevorzugung von Wissen schnell zu einem kräftig sprudelnden Quell ernster Probleme. In einer Gesellschaft bestehend aus Millionen von Menschen, die sich durch die unterschiedlichsten methodischen Eigenarten, Ziele und Werte auszeichnen, wird das autoritär-hierarchische Wissensmodell unweigerlich zu einer zerstörerischen und zivilisatorisch regressiven Kraft.

Die Menschheit ist groß geworden mit dem autoritär-hierarchischen Wissensmodell. Es entspricht der autoritär-hierarchischen Stammesgesellschaft und hat uns somit während der längsten Zeit unserer Gattungsgeschichte begleitet. Bis heute noch liegt das autoritär-hierarchische Wissensmodell unseren Instinkten und individuellen Denkgewohnheiten näher als die Freiheit, eine abstrakte Ordnung mit Regeln, deren Sinn und konkretes Wirken oft nur durch mühsames Nachdenken, und fast nie konkret und in allen Einzelheiten nachzuvollziehen sind.

Die Freiheit schafft eine Alternative zum autoritär-hierarchischen Wissensmodell.

Die Freiheit erzeugt eine epistemische Arbeitsteilung, welche eine interaktive Hyperintelligenz begründet, die weit über das Leistungsvermögen des individuellen Verstandes hinausreicht.

Diesem 2011 entstanden Text liegt ein sehr breiter und idealistischer Freiheitsbegriff zugrunde, den ich in seiner etwas naiven Urform nicht mehr teile. Aber im Großen und Ganzen scheinen mir die Aussagen des Texts weiterhin vertretbar. Einschränkung verdient die Implikation, dass Freiheit gewissermaßen ein objektives Datum ist, dessen Bedingungen und Zustandsformen als ein Idealtypus vorzufinden sind, von dem sich ohne Kontroversen und Divergenz der Meinungen ableiten lässt, was gut sei für die Hervorbringung menschlichen "Wissen". Allerdings scheint mir schon, dass bestimmte in der Freiheit verankerte Bedingungen des menschlichen Wissensfortschritts (oder wie man auch sagen kann: der bestmöglichen Nutzanwendung der menschlichen Fähigkeit, Wissen zu erwerben) unumstößlich sind. Vor allem die Fähigkeit und das Recht jedes Menschen, Widerspruch anzumelden und seine Meinung zu äußern. 

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