Friday, 30 September 2016

FV (12) — Klassischer Liberalismus: tot oder lebendig?

 
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Über FV.


Klassischer Liberalismus – tot oder lebendig

An drei Fragen mag sich entscheiden, ob man den klassischen Liberalismus für tot oder für lebendig hält. Ich nenne sie die politischen Grundprobleme des klassischen Liberalismus.

Problem 1: Wenn es zur Sicherung der Freiheit des Staats bedarf, wenn der Staat sich nicht über freiwillige Zuwendungen finanzieren lässt, und ihm deshalb das Privileg der Steuererhebung eingeräumt wird, dann ist das System des klassischen Liberalismus in einen grundlegenden Widerspruch verwickelt. Denn Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von Willkür. Doch das Besteuerungsprivileg gestattet es dem Staat Willkür zu üben, d.h. Menschen gegen deren Willen zum Mittel seiner Zwecke zu machen.

Problem 2: Vielleicht lässt sich Problem 1 so stark eingrenzen, d.h. die Ausübung von Willkür durch den Staat soweit einschränken, dass Steuern tatsächlich nur für Zwecke des Schutzes und der Förderung der Freiheit erhoben werden, so dass Problem 1 nur noch geringfügig und durchaus hinnehmbar ist. Damit ergibt sich aber

Problem 2: Ist es überhaupt möglich, die Willkürherrschaft des Staats angemessen einzuschränken?

Problem 3: Wenn Problem 1 und Problem 2 sich nicht überwinden lassen, ist es dann nicht so, dass Freiheit nur möglich ist, wenn sie sich ohne den Staat verwirklichen lässt? Problem 3 lautet daher: Wenn es ein sehr schwieriges und bestenfalls langwieriges, erst in ferner Zukunft zu erwartendes Unterfangen ist, Freiheit ohne den Staat herbeizuführen, oder wenn sich der Staat prinzipiell nicht ausschalten lässt, ist damit das Projekt des klassischen Liberalismus effektiv gescheitert?

Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob man eine bei dieser Argumentation stillschweigend unterstellte Annahme akzeptiert oder ob man sie zurückweist.

Die Annahme lautet: Freiheit müsse selbsterzeugend sein können.

Erkennt man, dass diese Annahme falsch ist und daher fallen gelassen werden sollte, erweisen sich Probleme 1, 2 und 3 durchaus nicht als fatale Defekte des klassischen Liberalismus, sondern im Gegenteil als Gründe, die gerade für diese Doktrin sprechen, ihr Wert verleihen und ihre Notwendigkeit unterstreichen.

Nur eine Argumentationslogik, die die Freiheit – losgelöst von unabweisbaren empirischen Gegebenheiten – wie ein formales System zu behandeln trachtet, dessen wichtigstes Merkmal die innere Widerspruchsfreiheit ist, kann in Problemen 1, 2, und 3 einen schlagenden Beweis für die Unhaltbarkeit des klassischen Liberalismus sehen.

Freiheit ist aber immer die Umformung von Zuständen, Prozessen und Handlungsweisen, die außerhalb und unabhängig von der Freiheit herrschen und umgestaltet werden müssen, um der Freiheit einen Platz zwischen ihnen zu gewähren.

Zu diesen vorfreiheitlichen und freiheitlich zu gestaltenden Zuständen, Prozessen und Handlungsweisen zählen das politische Handeln, das Streben nach Macht und Vollzugsgewalt bei der Durchsetzung gesellschaftlich bindender Normen, die wettbewerbliche Bildung von Strukturen Maximaler Macht und das dabei unweigerlich sich abspielende Herauskristallisieren staatlicher Strukturen. Aus dem, was noch nicht Freiheit ist, gilt es Freiheit zu gewinnen. Und zwar nicht ein für allemal, sondern immerzu aufs Neue.

Probleme 1, 2 und 3 sind offene, immer aktuelle, stets im Einzelnen neu bestimmte Tagesordnungspunkte der Freiheit, sie beschreiben die wichtigsten Aufgaben im Pflichtenheft der Freiheit, die Herausforderungen, die Freiheit notwendig machen und ihre praktischen Aufgaben definieren.

Ob Problem 1, 2 und 3 den Tod des klassischen Liberalismus besiegeln oder ob sie im Gegenteil den vitalen Bedarf an ihm begründen, ist eine Frage des Standpunkts. Wer in der Freiheit einen endgültigen und vollendet erreichbaren Idealzustand sieht, der sich in einem widerspruchsfreien Formalismus abbilden lässt, muss den klassischen Liberalismus wohl als totgeboren verwerfen. Wer in der Freiheit einen fortlaufenden Anpassungs- und Annäherungsprozess erkennt, im Verlaufe dessen sich die Freiheit immerzu auf Neue durchsetzen muss gegenüber einer veränderlichen Umwelt, die angefüllt ist mit Interessen und Überzeugungen, von denen viele Freiheit ignorieren oder verneinen, der erfährt die lebendige Seite des klassischen Liberalismus.

Geschrieben im April 2013.

Englischer Zwillingsbeitrag.

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