Tuesday, 19 July 2016

Minsky und mehr (2) — Eine Bewertung

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Fortgesetzt von hier.

Die nachfolgende Bewertung erfolgt aus (post-)Keynesianischer Sicht und setzt sich schwerpunktmäßig mit den USA auseinander. 


Bewertung


Minskys Instabilitäts-Hypothese überzeugt. Sie hat Platz für wichtige Aspekte, die die herkömmliche Ökonomie nicht zu handhaben vermag: die Logik des Wandels der Institutionen, kulturelle Einflüsse, evolutionäre Entwicklungstendenzen, Dünkel und menschliche Fehlbarkeit und die komplizierten und mitunter schädlichen Auswirkungen von Eigeninteressen, wie sie sich jenseits des Schemas von der unsichtbaren Hand bemerkbar machen.

Aus empirischer Sicht spricht ebenfalls vieles für Minskys kritische Vision: in den 30 Jahren bis zum Ausbruch der Großen Finanzkrise wurden wir Zeugen von drei Konjunkturzyklen: 1981-1990, 1991-2001 und 2002-2009. Jede einzelne dieser einfachen Minsky-Zyklen hat eine Welle an Finanzinnovationen, Deregulierung und Vereinnahmung der Aufsichtsbehörden erlebt, ebenso wie merkliche Verhaltensänderungen bei Investoren, Schuldnern und Gläubigern, die sie offener machten für die Übernahme höherer Risiken.

Insgesamt hat eine massive Ausdehnung des Grads und des Ausmaßes an Verschuldung und der Risikolast der US-amerikanischen Volkswirtschaft stattgefunden, Damit einher ging eine erhöhte finanzwirtschaftliche Fragilität sowohl bei Haushalten und Unternehmen als auch auf systemischer Ebene. Der sich in diesem Zeitraum entfaltende Super-Minsky-Zyklus bewirkte, dass die „konterkarierenden Institutionen“, welche für systemische Stabilität sorgen sollten, ausreichend stark untergraben wurden, so dass sich eine spekulative Blase im Wohnungswesen aufpumpen konnte, die sich durch die aggressive Risikopolitik der Banken zu einem gefährlichen Schneeballsystem ausweitete, das 2007 schließlich in sich zusammenfallen sollte.

Ohne Zweifel ist die Minsky-Hypothese bis zu einem nicht unerheblichen Grade richtig und insoweit ein wertvolles Erklärungsbruchstück. Man sollte sich jedoch davor hüten, in Minskys Ansatz bereits eine erschöpfende Ursachenanalyse der Großen Finanzkrise zu sehen.

Es wäre verfehlt, sich bei der Erforschung der Gründe für die Große Finanzkrise auf Entwicklungen im Finanzsektor zu beschränken — so wichtig diese auch sind. Der Entstehungshorizont der Krise ist viel weiter gespannt. Die erhöhte Bedeutung der Finanzmärkte, die  sie bereits im Vorlauf zur Krise und dann im Hergang ihrer akuten Phase erlangen, ist nur angemessen einzuordnen, wenn man den Blick öffnet für den weit über den Finanzsektor hinausweisenden Ursachenkranz. Dieser wurzelt in einem neuen Wirtschaftsparadigma (NEUWIPA), das gegen Ende der 1970er Jahre das Modell der Goldenen Zeit des Kapitalismus (1945-1975) ablöst, um den krisenhaften Entwicklungen stetig und kumulativ Vorschub zu leisten, die 2007 schließlich in der größten weltweiten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt erleben.


Der größere Kontext der Minsky-Zyklen


Gegen Ende der 1970er Jahre beginnt sich das neue Wachstums-Modell der NEUWIPA durchzusetzen. Es ist uns bis heute erhalten geblieben. In den Jahren davor sah sich die Wirtschaftspolitik verpflichtet, einen Kurs der Vollbeschäftigung und des Gleichschritts in der Entwicklung der Löhne und der Produktivität zu verfolgen. Das Ergebnis war ein Kreislauf steigender Verbesserung: die Bindung der Löhne an den Produktivitätszuwachs gewährleistete ein robustes Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dieses wiederum rechtfertigte Investitionen, die ein höheres Produktivitätsniveau zur Folge hatten, welches wiederum höhere Löhne ermöglichte.

Ab den 1980ern etabliert sich ein neues Wachstums-Modell, bei dem nicht mehr Vollbeschäftigung und die Tandembildung zwischen Lohn- und Produktivitätsanstieg als Motor der Gesamtnachfrage fungieren, sondern eine zunehmende Verschuldung der Wirtschaftsteilnehmer und das Aufpumpen einer inflationären Preisblase bei Vermögenswerten.

Während nunmehr die Löhne hinter der Produktivität zurückbleiben, klappt eine Einkommens-Schere auf zwischen Besserverdienenden und Lohnempfängern. Indem sich das Augenmerk von der Vollbeschäftigung abwendet und sich einer Politik der niedrigen Inflation verschreibt, verlieren die Belange der arbeitenden Bevölkerung auf breiter Front an Gewicht, indes die Interessen besonders der größeren Unternehmen eine neue Vorrangstellung einnehmen. Lohnempfänger sehen sich an vier Fronten eingeschlossen durch (1) die Globalisierung, (2) die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, (3) den Rückzug des Staats aus sozialer und wirtschaftspolitischer Verantwortung („small government“) und dabei insbesondere durch (4) die Abkehr vom Primat der Vollbeschäftigung.


Die Internationale Dimension


Die negative Wirkung des NEUWIPA auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat zudem eine internationale Dimension, die sich durch das US-Handelsdefizit und die Auslagerung der Produktion an ausländische Standorte ("Offshoring") bemerkbar macht. Diese verfehlte Außenwirtschaftspolitik hat die Große Finanzkrise beschleunigt, indem sie Einkommen und Beschäftigung im Inland und damit die Basis für ein Leben auf Pump und die Aufrechterhaltung der inflationären Preisblase bei Vermögenswerten untergrub.

Der außenwirtschaftliche Rahmen, der während der Präsidentschaft von Bill Clinton, Abkommen für Abkommen (NAFTA, WTO, China als gleichberechtigter Handelspartner, Politik des starken Dollars) abgesteckt und so zum Standard für die kommenden Jahrzehnte erhoben wurde, wirkt sich auf die Gesundheit der US-amerikanischen Wirtschaft wie ein dreifacher Aderlass aus:

Erstens, Nachfrage fließt über Importe aus der Binnenwirtschaft ab. Während ein beträchtlicher Teil des Inlandseinkommens im Ausland landet, wächst die Verschuldung der amerikanischen Haushalte.

Zweitens, Arbeitsplätze wandern aus den USA ab. Das Offshoring verringert das Einkommen der Haushalte, und schon die Drohung der Auslagerung drückt die Löhne, senkt das Einkommen und die Fähigkeit, sich durch Kreditaufnahme über Wasser zu halten.

Drittens, Investitionen bleiben aus und werden stattdessen im Ausland getätigt. Nicht nur, dass bestehende Produktionsstätten geschlossen und in andere Teile der Welt ausgelagert werden, auch die Investitionsmittel verlassen das Land. Ein doppelter Beschäftigungsverlust, einmal beim Bau neuer Produktionsstätten und zum anderen später bei deren Ausstattung mit einer Belegschaft.

Das Clintonsche Globalisierungskonzept richtete sich an den Interessen von Firmen aus und hatte niemals das Ziel, weltweite Märkte für den Absatz US-amerikanischer Waren zu erschließen. Vielmehr bestand die Absicht darin, eine globale Produktionszone einzurichten, in der Firmen unter für sie vorteilhaften Bedingungen Güter herstellen konnten, die sich zum Export in die USA eigneten. Diese Vision musste zwangsläufig zu einem dauerhaft wachsenden Handelsdefizit, zur Auslagerung von Beschäftigungsmöglichkeiten und zur Abzweigung von investiven Ressourcen führen.

Anhand der Logik dieses Models wird auch verständlich, dass die betreffenden Unternehmen die Politik des starken Dollars unterstützt hatten. Denn auf diesem Wege wurden die nicht mehr in den USA produzierten Waren umso günstiger für amerikanische Abnehmer. Die Gewinnmargen der Firmen profitierten davon, dass sie ihre Einnahmen in Dollars verbuchten, indes sie die importierten Produkte und Inputs in Währungen bezahlten, die unterbewertet waren.

Das verzerrte außenwirtschaftliche Modell des NEUWIPA erklärt auch, wieso die Große Finanzkrise dermaßen stark auf die Weltwirtschaft durchgeschlagen sollte. Es erlaubte vielen Ländern ein export-getriebenes Wirtschaftswachstum, mit unterbewerteter Währung, hohen Handelsüberschüssen, umfangreichen Fremdwährungsbeständen und starken Zuflüssen an ausländischen Direktinvestitionen.

Das bedeutete aber auch, dass die Weltwirtschaft gewissermaßen mit nur einem Triebwerk flog.
Alles hing sehr stark von der US-Wirtschaft und insbesondere vom Schicksal des amerikanischen Verbrauchers ab. Als es diesem schlecht ging, zog er die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft.


Wo Minskys Puzzle-Steine hineinpassen


Minsky konzentriert sich ganz auf den Finanzsektor. Insofern bleibt das vorherrschende makro-ökonomische Paradigma in seinem vollen Spektrum bei ihm unberücksichtigt. Dennoch liefert er wertvolle Puzzle-Steine, die uns helfen, das Gesamtbild genauer zu erfassen. Minsky rückt die makro-ökonomische Rolle von Schulden und die Instabilität des Finanzsektors als Mitursachen und Gestaltungskomponenten wirtschaftlicher Krisen in den Fokus.

Sein Ansatz liefert eine Erklärung dafür, warum der Krisenausbruch recht lange auf sich warten ließ, warum er über geraume Zeit hinausgezögert werden konnte, um schließlich desto wuchtiger zu explodieren. Er zeigt wie die Ausweitung des Kreditangebots bei gleichzeitiger Erhöhung der finanzwirtschaftlichen Labilität eine Stagnationskrise lange abzuwehren vermag.

Dank steigender Verschuldung sind die Verbraucher in der Lage, trotz stagnierender Löhne und aufscherender Einkommensungleichheit, ihren Lebensstandard zu halten, indes der Boom an den Finanzmärkten, Haushalte und Firmen Sicherheiten liefern, mit denen sich ihre schuldenfinanzierten Ausgaben unterlegen lassen.

Im Rahmen des NEUWIPA basiert Wirtschaftswachstum auf der Einkommensumlenkung von Arbeitnehmern zugunsten von Unternehmensgewinnen und des Einkommens höherer Management-Chargen. Die Arbeitnehmer verschulden sich zunehmend, während Unternehmen durch Aktienrückkauf und fremdfinanzierte Übernahmen zum Finanz-Boom beitragen.

Finanz-Innovationen und die Deregulierung des Finanzsektors erleichtern die Ausweitung des volkswirtschaftlichen Verschuldungsniveaus und werden damit zu Strukturmerkmalen, die unerlässlich sind, um das NEUWIPA-System aufrechtzuerhalten.  Innovationen und Deregulierung sorgen dafür, dass neue Finanz-Produkte einen erhöhten Verschuldungsgrad zulassen und sich das Spektrum von Vermögenswerten, die zu Besicherungszwecken eingesetzt oder besichert werden können, kräftig ausweitet.

Darin kommt der Inflation der Immobilienpreise eine herausragende Stellung zu, da mit ihnen die Bemessungsgrundlage wächst, auf die sich zusätzliche Schulden türmen lassen. Ein größeres Angebot an fremdfinanzierten Immobilienfinanzierungsmöglichkeiten treibt die Immobilienpreise in die Höhe. In diesem Zusammenhang ist der Umstand zu sehen, dass in Zeiten des NEUWIPA Wirtschaftsaufschwünge stets einhergehen mit inflationären Höhenflügen bei Immobilienpreisen.

Freilich ist diese Art von Dynamik auf Dauer nicht durchzuhalten, da sie darauf basiert, dass das Maß der Verschuldung und die Immobilieninflation gleichzeitig mit dem Einkommensrückgang der Haushalte voranschreiten. Ist der Punkt erreicht, an dem die Haushalte keine weiteren Schulden eingehen können, entweder weil sie ihre Verschuldungsgrenze erreicht haben oder die Immobilieninflation zum Stillstand gekommen ist, kann die Aufwärtsspirale, die den Haushalten gewissermaßen einen persönlichen Geldautomaten im neuen Haus mitlieferte und der Bauindustrie eine florierende Auftragslage bescherte, sich nicht mehr höher schrauben — und plötzlich hört die Musik auf zu spielen.

Minsky erlaubt es uns zu verstehen, warum das Modell der NEUWIPA die Stagnation, auf die sie unweigerlich zusteuert, über Jahrzehnte herausschieben konnte: Innovationen (a) zwecks Streckung des Verschuldungspotenzials aber auch (b) zwecks Umgehung aufsichtsbehördlicher Bestimmungen, Deregulierung, und zunehmender, auch zeitgeistgetriebener Heißhunger auf risikoreichere Engagements haben das Finanzsystem dahin gebracht, die Obergrenze für das vertretbare Schuldenvolumen weit nach oben zu versetzen und das Angebot an Krediten dramatisch zu erweitern.

In der so erkauften Zeit konnte das NEUWIPA die Patina eines scheinbaren Wohlstands ansetzen, indes der hoch hinaufgeschraubte Verschuldungsgrad einen umso tieferen Fall für die Zeit der schließlich einsetzenden Krise vorbereitete. Ohne schuldenfinanziertes Wirtschaftswachstum und ohne schuldengetriebene Inflationsblasen bei Vermögenswerten hätte sich das NEUWIPA-Modell schon sehr viel früher in einem Zustand zähfließender Stagnation festgefahren. Damit ist auch klar, wieso es nach dem Crash zu lang anhaltender Stagnation kommen musste.

Fazit

Was Minsky in seiner Analyse des Finanzsektors an grundlegenden Tendenzen und Neigungen offenlegt, liefert aufschlussreiches Material, das uns lehrt, wie der wirtschaftliche Stillstand, den das seit den 1980er Jahren vorherrschende NEUWIPA unweigerlich bewirken muss, nur durch kunstvoll verlängerte Finanzexzesse vorläufig abzuwenden war.

Ein Blick über Minsky hinaus, verrät jedoch, dass die tieferen Ursachen für die Fehlentwicklung der letzten Jahrzehnte in einer Wirtschaftsordnung zu suchen sind, die den Kurs eines leistungsfähigen, sozial ausgewogenen Nachfrage-Managements verlassen hat. Erst eine Rückbesinnung auf eine Wirtschaftspolitik, die bemüht ist, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage binnen- und außenwirtschaftlich ins Gleichgewicht zu bringen, wird die stagnativen Tendenzen des Kapitalismus überwinden und eine neue Ära des Wohlstands für alle ermöglichen.

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