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Fortgesetzt von hier.
Die nachfolgende Bewertung erfolgt aus (post-)Keynesianischer Sicht und setzt sich schwerpunktmäßig mit den USA auseinander.
Bewertung
Minskys Instabilitäts-Hypothese überzeugt. Sie
hat Platz für wichtige Aspekte, die die herkömmliche Ökonomie nicht zu
handhaben vermag: die Logik des Wandels der Institutionen, kulturelle
Einflüsse, evolutionäre Entwicklungstendenzen, Dünkel und menschliche
Fehlbarkeit und die komplizierten und mitunter schädlichen Auswirkungen von
Eigeninteressen, wie sie sich jenseits des Schemas
von der unsichtbaren Hand bemerkbar machen.
Aus empirischer Sicht spricht ebenfalls vieles
für Minskys kritische Vision: in den 30 Jahren bis zum Ausbruch der Großen
Finanzkrise wurden wir Zeugen von drei Konjunkturzyklen: 1981-1990, 1991-2001
und 2002-2009. Jede einzelne dieser einfachen Minsky-Zyklen hat eine Welle an
Finanzinnovationen, Deregulierung und Vereinnahmung der Aufsichtsbehörden
erlebt, ebenso wie merkliche Verhaltensänderungen bei Investoren, Schuldnern
und Gläubigern, die sie offener machten für die Übernahme höherer Risiken.
Insgesamt hat eine massive Ausdehnung des Grads
und des Ausmaßes an Verschuldung und der Risikolast der US-amerikanischen
Volkswirtschaft stattgefunden, Damit einher ging eine erhöhte
finanzwirtschaftliche Fragilität sowohl bei Haushalten und Unternehmen als auch
auf systemischer Ebene. Der sich in diesem Zeitraum entfaltende
Super-Minsky-Zyklus bewirkte, dass die „konterkarierenden Institutionen“,
welche für systemische Stabilität sorgen sollten, ausreichend stark untergraben
wurden, so dass sich eine spekulative Blase im Wohnungswesen aufpumpen konnte,
die sich durch die aggressive Risikopolitik der Banken zu einem gefährlichen
Schneeballsystem ausweitete, das 2007 schließlich in sich zusammenfallen
sollte.
Ohne Zweifel ist die Minsky-Hypothese bis zu
einem nicht unerheblichen Grade richtig und insoweit ein wertvolles
Erklärungsbruchstück. Man sollte sich jedoch davor hüten, in Minskys Ansatz
bereits eine erschöpfende Ursachenanalyse der Großen Finanzkrise zu sehen.
Es wäre verfehlt, sich bei der Erforschung der
Gründe für die Große Finanzkrise auf Entwicklungen im Finanzsektor zu
beschränken — so wichtig diese auch sind. Der Entstehungshorizont der Krise ist
viel weiter gespannt. Die erhöhte Bedeutung der Finanzmärkte, die sie bereits im Vorlauf
zur Krise und dann im Hergang ihrer akuten Phase erlangen, ist nur angemessen einzuordnen,
wenn man den Blick öffnet für den weit über den Finanzsektor hinausweisenden
Ursachenkranz. Dieser wurzelt in einem neuen Wirtschaftsparadigma (NEUWIPA),
das gegen Ende der 1970er Jahre das Modell der Goldenen Zeit des Kapitalismus
(1945-1975) ablöst, um den krisenhaften Entwicklungen stetig und kumulativ
Vorschub zu leisten, die 2007 schließlich in der größten weltweiten
Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt erleben.
Der größere Kontext der Minsky-Zyklen
Gegen Ende der 1970er Jahre
beginnt sich das neue Wachstums-Modell der NEUWIPA durchzusetzen. Es ist uns
bis heute erhalten geblieben. In den Jahren davor sah sich die
Wirtschaftspolitik verpflichtet, einen Kurs der Vollbeschäftigung und des
Gleichschritts in der Entwicklung der Löhne und der Produktivität zu verfolgen.
Das Ergebnis war ein Kreislauf steigender Verbesserung: die Bindung der Löhne
an den Produktivitätszuwachs gewährleistete ein robustes Wachstum der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dieses wiederum rechtfertigte Investitionen,
die ein höheres Produktivitätsniveau zur Folge hatten, welches wiederum höhere
Löhne ermöglichte.
Ab den 1980ern etabliert sich ein
neues Wachstums-Modell, bei dem nicht mehr Vollbeschäftigung und die
Tandembildung zwischen Lohn- und Produktivitätsanstieg als Motor der
Gesamtnachfrage fungieren, sondern eine zunehmende Verschuldung der
Wirtschaftsteilnehmer und das Aufpumpen einer inflationären Preisblase bei
Vermögenswerten.
Während nunmehr die Löhne hinter
der Produktivität zurückbleiben, klappt eine Einkommens-Schere auf zwischen
Besserverdienenden und Lohnempfängern. Indem sich das Augenmerk von der
Vollbeschäftigung abwendet und sich einer Politik der niedrigen Inflation
verschreibt, verlieren die Belange der arbeitenden Bevölkerung auf breiter
Front an Gewicht, indes die Interessen besonders der größeren Unternehmen eine
neue Vorrangstellung einnehmen. Lohnempfänger sehen sich an vier Fronten
eingeschlossen durch (1) die Globalisierung, (2) die Flexibilisierung des
Arbeitsmarkts, (3) den Rückzug des Staats aus sozialer und
wirtschaftspolitischer Verantwortung („small government“) und dabei
insbesondere durch (4) die Abkehr vom Primat der Vollbeschäftigung.
Die Internationale Dimension
Die negative Wirkung des NEUWIPA auf die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat zudem eine internationale Dimension, die
sich durch das US-Handelsdefizit und die Auslagerung der Produktion an
ausländische Standorte ("Offshoring") bemerkbar macht. Diese verfehlte Außenwirtschaftspolitik hat die
Große Finanzkrise beschleunigt, indem sie Einkommen und Beschäftigung im Inland
und damit die Basis für ein Leben auf Pump und die Aufrechterhaltung der
inflationären Preisblase bei Vermögenswerten untergrub.
Der außenwirtschaftliche Rahmen, der während der
Präsidentschaft von Bill Clinton, Abkommen für Abkommen (NAFTA, WTO, China als
gleichberechtigter Handelspartner, Politik des starken Dollars) abgesteckt und
so zum Standard für die kommenden Jahrzehnte erhoben wurde, wirkt sich auf die
Gesundheit der US-amerikanischen Wirtschaft wie ein dreifacher Aderlass aus:
Erstens, Nachfrage fließt über Importe aus der
Binnenwirtschaft ab. Während ein beträchtlicher Teil des Inlandseinkommens im
Ausland landet, wächst die Verschuldung der amerikanischen Haushalte.
Zweitens, Arbeitsplätze wandern aus den USA ab.
Das Offshoring verringert das Einkommen der Haushalte, und schon die Drohung
der Auslagerung drückt die Löhne, senkt das Einkommen und die Fähigkeit, sich
durch Kreditaufnahme über Wasser zu halten.
Drittens, Investitionen bleiben aus und werden
stattdessen im Ausland getätigt. Nicht nur, dass bestehende Produktionsstätten
geschlossen und in andere Teile der Welt ausgelagert werden, auch die Investitionsmittel
verlassen das Land. Ein doppelter Beschäftigungsverlust, einmal beim Bau neuer
Produktionsstätten und zum anderen später bei deren Ausstattung mit einer
Belegschaft.
Das Clintonsche Globalisierungskonzept richtete
sich an den Interessen von Firmen aus und hatte niemals das Ziel, weltweite
Märkte für den Absatz US-amerikanischer Waren zu erschließen. Vielmehr bestand
die Absicht darin, eine globale Produktionszone einzurichten, in der Firmen
unter für sie vorteilhaften Bedingungen Güter herstellen konnten, die sich zum
Export in die USA eigneten. Diese Vision musste zwangsläufig zu einem dauerhaft
wachsenden Handelsdefizit, zur Auslagerung von Beschäftigungsmöglichkeiten und
zur Abzweigung von investiven Ressourcen führen.
Anhand der Logik dieses Models wird auch
verständlich, dass die betreffenden Unternehmen die Politik des starken Dollars
unterstützt hatten. Denn auf diesem Wege wurden die nicht mehr in den USA
produzierten Waren umso günstiger für amerikanische Abnehmer. Die Gewinnmargen
der Firmen profitierten davon, dass sie ihre Einnahmen in Dollars verbuchten,
indes sie die importierten Produkte und Inputs in Währungen bezahlten, die
unterbewertet waren.
Das verzerrte außenwirtschaftliche Modell des
NEUWIPA erklärt auch, wieso die Große Finanzkrise dermaßen stark auf die
Weltwirtschaft durchgeschlagen sollte. Es erlaubte vielen Ländern ein
export-getriebenes Wirtschaftswachstum, mit unterbewerteter Währung, hohen
Handelsüberschüssen, umfangreichen Fremdwährungsbeständen und starken Zuflüssen
an ausländischen Direktinvestitionen.
Das bedeutete aber auch, dass die
Weltwirtschaft gewissermaßen mit nur einem Triebwerk flog.
Alles hing sehr stark von der US-Wirtschaft und
insbesondere vom Schicksal des amerikanischen Verbrauchers ab. Als es diesem
schlecht ging, zog er die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft.
Wo Minskys Puzzle-Steine hineinpassen
Minsky konzentriert sich ganz auf den
Finanzsektor. Insofern bleibt das vorherrschende makro-ökonomische Paradigma in
seinem vollen Spektrum bei ihm unberücksichtigt. Dennoch liefert er wertvolle
Puzzle-Steine, die uns helfen, das Gesamtbild genauer zu erfassen. Minsky rückt
die makro-ökonomische Rolle von Schulden und die Instabilität des Finanzsektors
als Mitursachen und Gestaltungskomponenten wirtschaftlicher Krisen in den
Fokus.
Sein Ansatz liefert eine Erklärung dafür, warum
der Krisenausbruch recht lange auf sich warten ließ, warum er über geraume Zeit
hinausgezögert werden konnte, um schließlich desto wuchtiger zu explodieren. Er
zeigt wie die Ausweitung des Kreditangebots bei gleichzeitiger Erhöhung der
finanzwirtschaftlichen Labilität eine Stagnationskrise lange abzuwehren vermag.
Dank steigender Verschuldung sind die Verbraucher
in der Lage, trotz stagnierender Löhne und aufscherender Einkommensungleichheit,
ihren Lebensstandard zu halten, indes der Boom an den Finanzmärkten, Haushalte
und Firmen Sicherheiten liefern, mit denen sich ihre schuldenfinanzierten
Ausgaben unterlegen lassen.
Im Rahmen des NEUWIPA basiert Wirtschaftswachstum
auf der Einkommensumlenkung von Arbeitnehmern zugunsten von
Unternehmensgewinnen und des Einkommens höherer Management-Chargen. Die
Arbeitnehmer verschulden sich zunehmend, während Unternehmen durch
Aktienrückkauf und fremdfinanzierte Übernahmen zum Finanz-Boom beitragen.
Finanz-Innovationen und die Deregulierung des
Finanzsektors erleichtern die Ausweitung des volkswirtschaftlichen
Verschuldungsniveaus und werden damit zu Strukturmerkmalen, die unerlässlich
sind, um das NEUWIPA-System aufrechtzuerhalten. Innovationen und
Deregulierung sorgen dafür, dass neue Finanz-Produkte einen erhöhten
Verschuldungsgrad zulassen und sich das Spektrum von Vermögenswerten, die zu
Besicherungszwecken eingesetzt oder besichert werden können, kräftig ausweitet.
Darin kommt der Inflation der Immobilienpreise
eine herausragende Stellung zu, da mit ihnen die Bemessungsgrundlage wächst,
auf die sich zusätzliche Schulden türmen lassen. Ein größeres Angebot an
fremdfinanzierten Immobilienfinanzierungsmöglichkeiten treibt die Immobilienpreise
in die Höhe. In diesem Zusammenhang ist der Umstand zu sehen, dass in Zeiten
des NEUWIPA Wirtschaftsaufschwünge stets einhergehen mit inflationären
Höhenflügen bei Immobilienpreisen.
Freilich ist diese Art von Dynamik auf Dauer
nicht durchzuhalten, da sie darauf basiert, dass das Maß der Verschuldung und
die Immobilieninflation gleichzeitig mit dem Einkommensrückgang der Haushalte
voranschreiten. Ist der Punkt erreicht, an dem die Haushalte keine weiteren
Schulden eingehen können, entweder weil sie ihre Verschuldungsgrenze erreicht
haben oder die Immobilieninflation zum Stillstand gekommen ist, kann die
Aufwärtsspirale, die den Haushalten gewissermaßen einen persönlichen
Geldautomaten im neuen Haus mitlieferte und der Bauindustrie eine florierende
Auftragslage bescherte, sich nicht mehr höher schrauben — und plötzlich hört
die Musik auf zu spielen.
Minsky erlaubt es uns zu verstehen, warum das
Modell der NEUWIPA die Stagnation, auf die sie unweigerlich zusteuert, über
Jahrzehnte herausschieben konnte: Innovationen (a) zwecks Streckung des
Verschuldungspotenzials aber auch (b) zwecks Umgehung aufsichtsbehördlicher
Bestimmungen, Deregulierung, und zunehmender, auch zeitgeistgetriebener
Heißhunger auf risikoreichere Engagements haben das Finanzsystem dahin gebracht,
die Obergrenze für das vertretbare Schuldenvolumen weit nach oben zu versetzen
und das Angebot an Krediten dramatisch zu erweitern.
In der so erkauften Zeit konnte das NEUWIPA die
Patina eines scheinbaren Wohlstands ansetzen, indes der hoch hinaufgeschraubte
Verschuldungsgrad einen umso tieferen Fall für die Zeit der schließlich
einsetzenden Krise vorbereitete. Ohne schuldenfinanziertes Wirtschaftswachstum
und ohne schuldengetriebene Inflationsblasen bei Vermögenswerten hätte sich das
NEUWIPA-Modell schon sehr viel früher in einem Zustand zähfließender Stagnation
festgefahren. Damit ist auch klar, wieso es nach dem Crash zu lang anhaltender
Stagnation kommen musste.
Fazit
Was Minsky in seiner Analyse des Finanzsektors an
grundlegenden Tendenzen und Neigungen offenlegt, liefert aufschlussreiches
Material, das uns lehrt, wie der wirtschaftliche Stillstand, den das seit den
1980er Jahren vorherrschende NEUWIPA unweigerlich bewirken muss, nur durch
kunstvoll verlängerte Finanzexzesse vorläufig abzuwenden war.
Ein Blick über Minsky hinaus, verrät jedoch, dass
die tieferen Ursachen für die Fehlentwicklung der letzten Jahrzehnte in einer
Wirtschaftsordnung zu suchen sind, die den Kurs eines leistungsfähigen, sozial
ausgewogenen Nachfrage-Managements verlassen hat. Erst eine Rückbesinnung auf
eine Wirtschaftspolitik, die bemüht ist, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage
binnen- und außenwirtschaftlich ins Gleichgewicht zu bringen, wird die
stagnativen Tendenzen des Kapitalismus überwinden und eine neue Ära des
Wohlstands für alle ermöglichen.
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