Friday, 22 July 2016

Keynes verstehen (5) — Die sonderbaren Methoden des umstrittenen Herrn Jean Baptise Say

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Fortgesetzt von hier.


Was Keynes' Allgemeiner Theorie ihren revolutionären Charakter verleiht, ist der in ihr enthaltene Angriff auf eine Reihe von Grundannahmen der seinerzeit vorherrschenden klassischen Ökonomik.

Im Zentrum der in diesem Werk niedergelegten alternativen Sicht auf die Wirtschaft steht die Frage der Vollbeschäftigung. Wenn Keynes vom Sayschen Gesetz spricht, so meint er damit eine Attitüde und eine Reihe von Annahmen, die sich hinter der Ansicht der arrivierten Ökonomen seiner Zeit verbarg, die von ihnen beschriebene Wirtschaft sei, wenn ungestört in ihrer Funktionslogik, in der Lage, für Vollbeschäftigung zu sorgen, dass Arbeitslosigkeit externen Faktoren zu schulden sei, und dass die vollständige Wiederherstellung der Funktionslogik einer freien Wirtschaft im Sinne der klassischen Ökonomik dazu geeignet sei, Arbeitslosigkeit vollständig zu überwinden. Anders gesagt: in einer freien Wirtschaft herrscht Vollbeschäftigung; und wenn Arbeitslosigkeit aufgrund externer Störungen (falsche Wirtschaftspolitik z.B.) entsteht, so ist das ungestörte Wirken der Mechanismen einer freien Wirtschaft das beste Mittel, den Zustand der Vollbeschäftigung neuerlich herbeizuführen.

Wie kommt die klassische Ökonomik dazu, eine Marktwirtschaft als Vollbeschäftigungsmaschine darzustellen? Das Saysche Gesetz gibt die kürzeste Antwort auf diese Frage. Ausgedrückt in einer Sentenz, die John Stuart Mill zugeschrieben wird, besagt das Saysche Gesetz, dass  jedes Angebot seine eigene Nachfrage erzeugt. Mit anderen Worten, was produziert wird, was am Markt angeboten wird, trifft immer auch schon auf ausreichende Nachfrage. Wenn dem so sei, dann gilt dies auch für den Arbeitsmarkt, und das bedeutet, dass jedem Angebot an Arbeitskraft immer schon eine ausreichende Nachfrage entspricht.

Wenn der Leser sich nun am Kopf kratzt und vielleicht ein wenig mit der Stirn runzelt, so dürfte er sich nur noch mehr wundern, wenn ich ihm versichere, dass die moderne Ökonomie nicht nur diese, sondern noch viele andere befremdliche Annahmen in ihr axiomatisches Fundament aufnimmt — zum Beispiel kennt sie weder Zeit noch Raum, und die Akteure, die in ihr wirtschaften, verfügen über vollkommenes Wissen.

Im Vergleich dazu waren die klassischen Ökonomen noch verhältnismäßig sparsam bei der Wahl theoretischer Voraussetzungen, die uns nicht nur suspekt vorkommen müssen, sondern es auch ganz entschieden sind. Von ihren modernen Kollegen werden sie in der Kunst des Drechselns absurder Annahmen noch kräftig überboten. Das liegt fast schon paradoxerweise daran, dass die Heutigen über bessere mathematische Ressourcen verfügen, die es erlauben, die Wirtschaft als ein logisch in sich geschlossenes Gleichgewichtssystem zu modellieren. Dabei besteht der Ehrgeiz der akademischen Ökonomen, lange bevor sie an die Wirtschaft denken, darin, als Vertreter einer exakten Wissenschaft zu gelten, was ihnen, wie sie fest glauben, durch den Einsatz stimmiger mathematischer Modelle gelingt. Also erst kommt der Wunsch, mit den so genannten exakten Wissenschaft gleichzuziehen. Dann kommt der Wunsch, ein geschlossenes System mathematisch zu realisieren. Die nächste brennende Ambition des Ökonomen besteht nun darin, geeignete Annahmen zu treffen, mit denen er sich seinen Herzenswunsch erfüllen kann, vor der Welt mit einem exakt wissenschaftlichen Modell renommieren zu können. Wenn diese Voraussetzungen eines geschlossenen theoretischen Modells gefunden worden sind, dann erst sieht sich der moderne Ökonom mit einem vagen Interesse nach den Geschehnissen in der Wirtschaft um.

Heute ist es leichter, die Weltfremdheit der ökonomischen Modelle nachzuweisen, die in den Wirtschaftswissenschaften und den großen wirtschaftspolitischen Institutionen zum Einsatz kommen — aber die Ökonomen sind erzieherisch darauf geeicht und verdienen ihr Geld damit, sich um anderes zu kümmern. Verglichen damit war es, rein intellektuell, zu Keynes Zeiten schwieriger, den klassischen Ökonomen auf die Spur zu kommen, da ihre Modelle noch nicht so stark formalisiert waren und es eher möglich war, kritische Annahmen vager darzustellen, zu übersehen, zu verschweigen, oder hilfreiche Unstimmigkeiten mehr oder weniger unbemerkt durchgehen zu lassen. Allein schon deshalb war immer ein gewisses Maß an Stilisierung, an künstlicher Vereinfachung, im Spiel, wenn man, wie Keynes es tat, die Fehler des ökonomischen Kanons benennen wollte. Auch wenn Keynes deswegen immer angreifbar blieb (à la „nein, das hat Say so nicht gesagt“), die Hauptstoßrichtung seiner Attacke war richtig, verheerend und erfolgreich.

Wenn ich die Zeit dazu finde, werde ich in einem späteren Post auf die kontroverse Frage eingehen, was der umstrittene Herr Jean Baptiste Say denn nun wirklich geschrieben habe und ob die diversen Interpretationen des ihm zugeschriebenen gleichnamigen Gesetzes, etwa die von Mill oder Keynes, tatsächlich als bis ins Einzelne sachgerecht gelten dürfen. Maßgeblich für den vorliegenden Post ist, dass sowohl die klassische als auch, ja mehr noch, die moderne neoklassische Ökonomie auf den Annahmen basiert, die Keynes in seiner Kritik des Sayschen Gesetzes, wie mir scheint durchaus zu Recht, an den Pranger stellt.

Eine ausgezeichnete Serie von Blog-Beiträgen und bibliographischen Hinweisen zur Geschichte und kritischen Bewertung des Sayschen Gesetzes findet man hier.

Zurück zu den sonderbaren Annahmen der klassischen Ökonomik:

Wieso erwartete die klassische Ökonomik von dem, was wir heute die freie Marktwirtschaft nennen, ein Regime der Vollbeschäftigung? Welche Annahmen benötigte sie, um sich für die These stark zu machen, dass Arbeitslosigkeit nicht der freien Wirtschaft anzulasten sei und diese vielmehr als Heilmittel gelten durfte gegen Arbeitslosigkeit?


Fortsetzung hier.  

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