Thursday, 24 March 2016

Das Paradoxon der Freiheit (17) - Ein Vortrag (Ende)


Fortsetzung des sechzehnten Teils.

Wir haben in der letzten Folge betont, dass Freiheit kein festes, ein für alle Mal bestücktes Inventar beansprucht. Vielmehr verlangt sie von uns, immer auf der Suche zu sein nach 
der besten Konstellation zwischen den elastischen Beziehungen, in denen die Freiheitsrechte zu einander stehen. 
Daher sollte es kaum überraschen, dass Freiheit als Methode viel Platz für Entwicklungen lässt, die der ideologische Liberalismus, wie etwa viele Leistungen des Sozialstaats, empört verwirft.

Wie funktioniert nun Freiheit als Methode? Das Verfahren gleicht dem endlosen Verbesserungsprozess, den Karl Popper in seiner Formel für den wissenschaftlichen Fortschritt einfängt. 

Es beginnt alles mit Problemen, die an uns nagen - zum Beispiel die quälende Frage, wie schütze ich mich vor einem Tyrannen. Wenn wir kein Problem haben, können wir unsere Wahrnehmung nicht in einer Weise strukturieren, die systematisch auf ein Ziel hinführt. Ausnahmen bestätigen die Regeln - doch selbst eine Zufallsentdeckung, die uns zu einem Durchbruch verhilft, will eingeordnet sein in einen systematischen Kontext, wenn sie wirklich fruchten soll.

ἤλεκτρον ēlektron ist das griechische Wort für Bernstein. Am Bernstein haben die Menschen das Phänomen der elektrostatischen Aufladung schon vor tausenden von Jahren beobachtet. Seine Erklärung war ein Problem, um das sich vorläufige Theorien bildeten, die dazu dienen sollten, das Rätsel beängstigender Stromschläge zu lüften. Im Laufe der Zeit wurden schlechtere Theorien von verbesserten Theorien verdrängt, solchen, die weniger fehlerbehaftet sind, besser mit den beobachteten Tatsachen übereinstimmen. Diesen Zyklus beschreibt die Poppersche Fortschritts-Formel der Wissenschaft:
  • wir haben eine Problemsituation 1 ("problem situation 1" - PS1) in Gestalt vieler Fragezeichen, 
  • geben vorläufige Antworten ("tentative theories" - TT) auf die Fragen, die unserer Problem definieren,  
  • testen diese Hypothesen, merzen ihre Unvollkommenheiten/Fehler aus ("error elimination" - EE) und 
  • erreichen auf diese Weise einen neuen Erkenntnisstand, der eine neue Problemsituation ( "problem situation 2" - PS2) - ungeklärte Aspekte unserer frisch gewonnenen Erklärung - mit sich bringt. 
Nun kann das Spiel auf ein Neues beginnen.

Die besten Aussichten auf wissenschaftlichen Fortschritt haben wir, wenn unsere Erklärungsversuche sich der Kritik stellen, wenn sie offen bleiben gegenüber Anfechtungen durch andere Ansätze, die möglicherweise besser sind. Diese für die Wissenschaft essentielle Offenheit erreichen wir im höchsten Maß, wenn alle Menschen frei sind, sich am Wettbewerb um unser wissenschaftliche Vermutungswissen zu beteiligen. Dies wiederum setzt eine freie Gesellschaft voraus. Wissenschaft bedarf der Freiheit. Wissenschaft beruht auf Freiheit als Methode.


Auch in der Wirtschaft einer freien Gesellschaft beobachten wir, dass Freiheit als Methode am Werke ist. Ganz analog zur Popperschens Fortschritts-Formel für die Wissenschaft, gehen wir auch in der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft von Problemen aus, für die wir Lösungen suchen, die wir testen und um ihre Mängel bereinigen, damit wir einen verbesserten Stand erzielen gegenüber den Problemen, die uns umgeben.

PS 1

Im wirtschaftlichen Wettbewerb starten wir mit dem Problem, wie sich die Versorgungslage der Bevölkerung oder einer bestimmten Zielgruppe verbessern lässt. Können wir "den-Computer-für-alle" anbieten?

TT

Wir entwickeln Theorien, wie die ins Auge gefasste Verbesserung zu bewerkstelligen sei - schließlich verwerfen wir den Gedanken oder aber wir finden eine Lösung in Gestalt eines neuen Produkts und eines dazu passenden Geschäftsmodells.

EE

Damit treten wir an den Markt und setzen uns der Kritik und dem Wettbewerb aus. Dieser Wettbewerb testet unsere Profit-Hypothese. Daran, dass wir Verluste erleiden, erkennen wir, dass unsere Erfolgserwartung unzutreffend war. Gewinne hingegen zeigen an, dass wir mit unserer Erfolgsvermutung richtig liegen.

PS 2

Mit unserem erfolgreichen Versuch, "den-Computer-für-alle" zu lancieren, haben wir eine neue Versorgungslage geschaffen. Nun haben wir Gelegenheit, uns neue Fragen zu stellen, neue Probleme wahrzunehmen, die neue Lösungen und neue Erfolgsbedingungen und eine neue Welle an Verbesserungen anschieben.

Fazit: Wie die Wissenschaft ist auch die Wirtschaft auf Freiheit als Methode angewiesen.


Und auch in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben stützen wir uns auf Freiheit als Methode. Insofern nämlich, als wir Hypothesen auf den Prüfstand des politischen Wettbewerbs stellen, die uns helfen können, wichtige Probleme zu lösen - darunter diese grundlegenden, gleichzeitig zu bewältigenden Herausforderungen der Freiheit, nämlich:
  • uns vor Willkür zu schützen
  • ein großes Maß an persönlicher Autonomie zu wahren 
  • ein hohes Niveau in Sachen Produktivität und Wohlstand zu erzielen 
und 
  • in Frieden miteinander zu leben. 
Wir testen diese Hypothesen im politischen Prozess, auf den wir nur dann ohne Nachteile verzichten könnten, wenn wir alle den gleichen Überzeugungen anhängen würden. Tatsächlich aber unterscheidet und entzweit uns so manches. Daher benötigen wir neben 
  • dem wissenschaftlichen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 
  • dem wirtschaftlichen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, auch 
  • den politischen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren.
Das Entdeckungsverfahren des politischen Wettbewerbs hat mindestens zwei ganz entscheidende Aufgaben zu bewältigen:
  • Politik als Entdeckungsverfahren soll uns helfen, die Vielfalt der einzelnen Standpunkte und damit das volle Spektrum an guten und wichtigen Ideen, aber auch an validen Interessen und Anliegen zu berücksichtigen, die uns die Menschen einer freien Gesellschaft anzubieten haben. 
  • Außerdem kommt es der Politik als Entdeckungsverfahren zu, einen ihr eigentümlichen und unverzichtbaren Beitrag dazu zu leisten, diese Vielheit zu nutzen und zu harmonisieren, ohne jedoch die produktiven Spannungen, die aus ihr hervorgehen, zu leugnen oder abzuwürgen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass aus dem Entdeckungsverfahren des politischen Wettbewerbs Ergebnisse hervorgehen, die von starren Ideologien nicht vorherzusehen sind und von diesen in vielen Belangen abgelehnt werden, nichtzuletzt weil sie keinen Zugang zum Gedanken finden, dass Freiheit auch in ganz wesentlicher Weise eine Auffindungstechnik mit ideologieübergreifender öffentlicher Beteiligung ist.

Freiheit bedeutet eben immer auch Bekämpfung und Neutralisierung des Ideologischen durch ideologische Vielfalt. Naturgemäß tut sich jede Ideologie schwer damit zu erkennen, dass sie in einer freiheitlich pluralen Gesellschaft nur eine Komponente in einer Mischung ist, die von vielen anderen Farben lebt. Insofern als der Liberalismus sich in den Panzer einer Ideologie einschließt, entgeht ihm unweigerlich, dass die Freiheit ganz anders "funktioniert", als es seine Stereotypen wollen.

Damit ist eigentlich schon das Paradoxon der Freiheit aufgelöst. Die Freiheit lässt viele Zustände zu, die der Liberalismus als nicht-liberal ablehnt. Wenn die robusten Bedingungen der Freiheit tiefe Wurzeln schlagen, wird es schwer, die Freiheit abzuschaffen; der hohe Grad ihrer Angepasstheit an die Bedingungen der Neuzeit machen sie zu einem Zivilisationsmerkmal, das des Paternalismus einer Ideologie nicht bedarf. Viel erfolgreicher als das paternalistische Model liberaler Gralshüter, die einen festen Kanon der Rechtgläubigkeit verteidigen, ist ein anderes Verfahren, das durch die Verbreitung von Freiheit als Methode zustande kommt, so dass die Menschen - und zwar alle, die sich dafür engagieren wollen - untereinander aushandeln, was Freiheit zu einem gegebenen Zeitpunkt und angesichts ihrer konkreten Probleme bedeuten soll.


Das Beziehungsgeflecht der robusten Bedingungen der Freiheit bewirkt ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den zwei Kernmerkmalen der neuzeitlichen Freiheit:
  • die Institution eines beispiellosen Massen-Dissens, bei dem jeder Bürger berechtigt ist, seine Auffassungen gegenüber allen anderen zu vertreten, und 
  • die freiheitlichen Verfahren, die uns als Befriedungs-Instrumente dienen, welche die Spannungen, die in einer Dissens-Gesellschaft auftreten, auf einem Niveau halten, das friedlich und produktiv ist.

Man mag es drehen und wenden wie man will, die Vorstellung, dass Freiheit Abstinenz von Politik bedeuten müsse, ist grundfalsch. Freiheit benötigt mehr denn jede andere Form des gesellschaftlichen Miteinanders des politischen Austausches. In dem Maße wie der klassische Liberalismus verkennt, dass eine freie Gesellschaft immer eine hochgradig politisierte Gesellschaft sein muss, verabschiedet er sich aus dem Wettbewerb um die Freiheit, versinkt unverstanden von einer für ihre politische Freiheit dankbaren Welt in der Marginalisierung und überlässt die Gestaltung unseres freiheitlichen Schicksals den Kräften, die er ablehnt. Es gibt kein Paradoxon der Freiheit. Es gibt nur ein falsches Bild von den Bedingungen der Freiheit.


Und damit darf ich mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.



Großer Dank gebührt Uschi Harz (als Fotografin im Spiegel zu erkennen), die mir immer ein wichtiger Sparring-Partner bei der Ausarbeitung der Gedanken war, die diesem Vortrag zugrunde liegen. Uschi hat die Erstellung der Folien übernommen, die ihr, nach meinem Empfinden, vorzüglich gelungen sind, trotz des Drucks, der nervösen Ungehaltenheit, des Mal-so-Mal-so und anderer Flausen und Allüren, mit denen ich ihr das kreative Leben bei der Erstellung der Folien schwer gemacht habe.

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