Wednesday 9 March 2016

Politik (5) - Anthropologische Invariante und pluralistische Vervielfältigung der Freiheit

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Fortgesetzt von hier.

Vervielfältigung der Freiheit in der Wahrnehmung der Individuuen

Eine weitere Vorbetrachtung zum Thema Politik, die verdeutlichen soll, dass Freiheit ihrem Wesen nach hochpolitisch ist, da sie die Menschen zu eigener Meinung und somit zu Meinungsverschiedenheiten ermutigt und befähigt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist Freiheit das zivilisierte Austragen von Meinungsverschiedenheiten und die Gewährleistung von Verfahren und Verhaltensweisen, die uns in die Lage versetzen, jene Art von rationalen Entscheidungen zu treffen und wirkungsvoll durchzuführen, die uns von einer leistungsfähigen Gesellschaft dergestalt abverlangt werden, dass wir trotz der unterschiedlichen Wert- und Zielvorstellungen - etwa bezüglich Gerechtigkeit -, die uns voneinander trennen, in einer gemeinsamen Legitimitäts-Kultur leben können, so dass gegenseitig vorteilhafte Formen des Mit- und Nebeneinanders sich unbehindert vom Konfliktpotenzial unterschiedlicher Lebensideale entfalten können:
Es gibt nie eine völlige Abwesenheit von Freiheit (in einer lebendigen Gemeinschaft – zugegeben, es können Situationen auftreten, in denen ein Mensch seiner Freiheit völlig verlustig geht, zum Beispiel, wenn er gefangen genommen und getötet wird). Und es gibt nie vollkommene Freiheit).

Völlige Abwesenheit von Freiheit würde bedeuten, dass alle Menschen vollkommen fremdbestimmt sind; selbst der mächtigste Despot kann derlei nicht bewerkstelligen; er wird vermutlich schon aus Effizienzgründen, Freiheit über das Maß hinaus zulassen, auf das er sie beschränken könnte. (Wir sehen, dass Freiheit diskret, gestückelt, inkrementell, portionsweise auftreten kann. Mehr noch: sie tritt immer auf diese Weise auf, gleichgültig wie viel von ihr vorhanden ist.)

Vollkommene Freiheit ist ebenfalls nicht möglich. Allein schon, weil Menschen unterschiedliche Auffassungen davon entwickeln, was Freiheit ist, was sie impliziert, wie man sich zu ihr stellen sollte, wie wichtig sie ist, etc. Selbst wenn alle Menschen den gleichen Freiheitsbegriff hätten, sie wären nicht davor gefeit, Dinge zu tun, deren unbeabsichtigten Konsequenzen von der Freiheit wegführen oder Anlass geben zu unterschiedlichen Vorstellungen darüber, ob oder wie weit die Freiheit verletzt worden ist und was zu tun sei, um sie wieder herzustellen. Der Mensch kann nicht so intelligent sein wie er ist UND ein einheitliches Bild von der Freiheit haben.

Die Situation, vor der wir in der Wirklichkeit hinsichtlich der Frage stehen, ob Freiheit herrsche, gleicht eher einer Szenen wie dieser: Wir öffnen die Tür zu einem Zimmer. Überall verstreut liegen die Papierschnipsel dessen, was vielleicht einmal eine Faltfigur, ein papierener Adler gewesen sein mag, oder sich zu einem solchen zusammensetzen ließe. Jeder, der sich die Mühe macht, diese Papierstückchen zu einer Figur zusammenzufügen, stellt fest, dass er eine Skulptur gestaltet hat, die sich von denen unterscheidet, an denen sich andere Menschen versucht haben.
Die Verhandelbarkeit, also die politische Gestaltbarkeit der Freiheit, ist so wichtig, weil die Freiheit zerfallen muss, wenn mächtige Kräfte sich weigern, dem Umstand gerecht zu werden, dass sie von autonomen Individuen in mannigfaltiger Unterschiedlichkeit wahrgenommen wird und sich dadurch vervielfacht und in zahllos varrierte Interpretationen auffächert - übrigens ähnlich einem Mutationsvorgang, bei dem falsche Kopien, vielleicht nur geringfügig abgewandelte Kopien des Originals, jene Selektion anstoßen, aus der Änderungen und Verbesserung hervorgehen. Wenn wir die Prinzipien der Freiheit zu eng, zu starr fassen, laufen wir Gefahr, den pluralistischen Kernprozess der Freiheit abzuwürgen. Das ist das Problem des ideologischen Liberalismus. Mehr dazu in meiner Vortrags-Serie Das Paradoxon der Freiheit.

Politik als anthropologische Invariante

Eine zweite fundamentale Begründung für die Unverzichtbarkeit des Politischen liefern uns anthropologische Überlegungen: Die Menschen überleben, indem sie neue Bedürfnisse entwickeln und zu verwirklichen trachten - das macht die Menschheit zu einer Spezies, die insofern einzigartig ist, als sie die für sie maßgeblichen Parameter ihrer Umwelt ständig verändert. Der Mensch lebt zwar weiterhin unter Knappheitsverhältnissen, aber er verändert diese und damit die Handlungsoptionen, die sie ihm zugestehen. Zu diesen durch das menschliche Veränderungs-Ingenium ständig erneuerten Handlungsoptionen zählt auch die wettbewerblichen Verhältnisse, in denen sich Menschen gegenüberstehen. Neue Knappheitsverhältnisse - neue Varianten des Miteinanders, neue Varianten des Mein und Dein - neue Varianten von Normen, Werten, und sozialen Tatsachen. Der Kapitalismus z.B. schafft neue Lebensbedingungen für unterschiedliche Klassen, und diese treten in einen neuartigen Wettbewerb um die Durchsetzung ihrer Interessen ein. Das ist es in etwa, was ich in den folgenden Zeilen zum Ausdruck bringen wollte:

Alle Lebewesen werden in eine Welt der Knappheit hineingeboren. Bezüglich anderer Lebewesen spielt sich ihr Überleben ab zwischen Sich-Abgrenzen, Sich-Verteidigen, Reagieren einerseits, und Sich-Aufbürden, Angreifen, Einwirken andererseits. Der Hengst zerschmettert den Kopf des angreifenden Wolfs und flieht vor dem Wolfsrudel. Der Hengst liefert sich einen Kampf mit einem anderen Hengst. Der Verlierer ergreift die Flucht.

Der Mensch ist insofern intelligenter als jedes andere Lebewesen als er in deutlich unterscheidbarer Weise und in weitaus größerem Maße als jede andere Spezies, seine Umwelt verändert, um sie seinen Bedürfnissen anzupassen.

Dem ist so, weil der Mensch sich zu einem Wesen entwickelt hat, dessen vorherrschende Überlebensstrategie darin besteht, neue Bedürfnisse zu entwickeln und zu befriedigen.

Das fortwährende Verlangen nach neuen Bedürfnisbefriedigungszuständen ist die zentrale Eigentümlichkeit des Menschseins. Diese Grundbedingung ist in jeden Menschen hineingepflanzt. Jeder Mensch ist grundsätzlich Individuum allein schon, weil jeder Mensch buchstäblich einen anderen Platz im Universum einnimmt als jeder andere, in einem anderen Körper steckt als jeder andere, einen anderen Raum und Ort ausfüllt als jeder andere, eine eigene Perspektive besitzt, von einem nur ihm eigenen Fühlen und Denken erfüllt wird, über ein eigenes Erinnern, ein eigenes Jetztempfinden, eine eigene Vorausschau verfügt, ein eigenes Wünschen und Beurteilen, eine eigene Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung empfindet.

In jedem Individuum regt sich der Grundimpuls der Conditio Humana, nach eigenem Empfinden und Dafürhalten zu wünschen und zu begehren, gewollte Zustände persönlich vorwegzunehmen und mit intensivem affektivem Engagement aus eigenem Antrieb anzustreben. Dieser in jedes Individuum hineingepflanzte Grundimpuls erzeugt eine zusätzliche Dimension der naturgegebenen, unüberwindlichen Knappheit, die sich nicht nur auf das Verhalten des Einzelnen auswirkt, sondern auch das Verhältnis der Menschen untereinander maßgeblich prägt. Der Mensch, kann den Grundtatbestand der Knappheit nicht abschaffen, dafür ist er umso intensiver damit befasst, die Formen, Bedingungen und Verhältnisse, in denen die Knappheit ihn tangiert, zu seinen Gunsten zu modifizieren. Dabei tritt er unweigerlich in Konkurrenz zu anderen Menschen, die die gleiche Intention nach Maßgabe ihrer ganz eigenen Anforderungen verfolgen.

Knappheit ruft Konflikte und Wettbewerb zwischen den Menschen hervor. Knappheit ist ein nie versiegender Quell von Widerstreit und Anlässen zur Rivalität. Politik im weitesten Sinne ist das Austragen des Wettbewerbs um Geltung der Implikationen des Wünschens und Begehrens rivalisierender Parteien. Deshalb kann Politik weder je abgeschafft werden, noch ließe sie sich je auf nur einen Modus der Wettbewerbsregulierung reduzieren, z.B. auf den friedlichen Tausch im marktwirtschaftlichen Rahmen. Die begehrende Intelligenz des Menschen schafft einen unentwegten Wettbewerb um Wettbewerbsformen und Wettbewerbsbedingungen. Das ist der Kern des Politischen. Wie wir bereits in diesem Kapitel gesehen haben, kommt dem Staat die historische Funktion zu, das politisch Erwünschte durch den Zusatz von Autorität und Macht zu verfestigen und zu verwirklichen.

Erst spät wird die Freiheit eingewoben in den inneren Aufbau einer alle erwachsenen Menschen umfassenden politischen Ordnung. Lange davor ist die Freiheit immer schon eine Komponente des Eigeninteresses eines Menschen.

Erst Freiheit im modernen Sinne gewährleistet, dass sie für jeden einklagbar und für alle verteidigt wird. Andererseits gilt jedoch gleichermaßen, dass der Mensch seine Freiheit immer schon dazu nutzt, die Freiheit anderer einzuschränken.

[...]

Menschen sind aufeinander angewiesen; sie sind soziale Wesen. Gleichzeitig sind sie auch Einzelakteure von einer in der uns bekannten Natur unübertroffen differenzierten Individualität. Der Mensch ist Knappheitsverhältnissen ausgesetzt, die eine zusätzliche Dimension dadurch erhalten, dass der Mensch überlebt und lebt, indem er ständig neue Bedürfnisse erzeugt und verwirklicht. Er ist also nicht nur einem mehr oder weniger statischen, gleichgewichtsfähigem Missverhältnis von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten ausgesetzt – wie die biotopisch lokale Population einer bestimmten Tierart, die angesichts der speziellen Ausstattungsmerkmale der von ihr besetzten Umweltnische, eine bestimmte Größe nicht zu übersteigen vermag. Der Mensch ist vielmehr ein aktiver Erzeuger von Knappheitsverhältnissen - eine Eigenart, die unzertrennlich verwoben ist mit der Überlebensfähigkeit, mit den grundlegendsten und unüberwindlichen Überlebensbedingungen der menschlichen Spezies. Als phantasiebegabter Umweltveränderer bringt der Mensch unweigerlich einen Überschuss an Ideen, Zielen, Wünschen, Träumen und Ambitionen hervor, verglichen mit dem Angebot an Mitteln und Möglichkeiten diese zu verwirklichen. Daraus ergibt sich ein nie versiegendes Angebot an (mehr oder weniger offenen und schweren) Konflikten zwischen Menschen. Die Notwendigkeit der Handhabung derartiger Konflikte ist ein unüberwindliches Merkmal des Daseins des Menschen, das sich in allen Entwicklungsstadien und Epochen der Menschheitsgeschichte beobachten lässt.

Die Handhabung dieser Konflikte ist der Gegenstand der Politik. Somit ist Politik eine anthropologische Invariante, eine grundsätzliche Bedingung des Menschseins. Die Freiheit entspricht einer bestimmten, fortgeschrittenen Entwicklungsstufe der Menschheit im Umgang mit Konflikten, im Umgang mit dem Spannungsverhältnis, in das der Mensch gerät, weil er zum einen ein sozial abhängiges Wesen ist, andererseits aber auch so konstituiert ist, dass er Anspruch auf persönliche Autonomie erhebt.
Ende der Serie.

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