Sunday 27 March 2016

Makro-Ökonomie (6) - Die Physiokraten

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Fortsetzung von hier.

Es sind die Physiokraten, die sich als erste an einem Abbild des systematischen und vollständigen Zusammenhangs der einzelnen Bereiche einer Volkswirtschaft versuchen. Sie bemühen sich, das Portrait des feudalistischen Wirtschaftssystems zu zeichnen, das im 18. Jahrhundert in Frankreich herrscht.  

Man mag den Physiokratismus als eine Auflehnung gegenüber der einseitigen Betonung des Außenhandels durch den Merkantilismus deuten, sicher aber als eine kritische Alternative zu ihm. Anders als der Merkantilismus, der die Handelsbilanz und den in Gold und Silber bemessenen Reichtum der Obrigkeit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, misst die physiokratische Lehre der produktiven Tätigkeit einen zentralen Platz im Verständnis der wirtschaftlichen Abläufe zu. Mit der physiokratischen Denkweise entsteht ein Bewusstsein von binnenwirtschaftlichen Zusammenhängen und Abhängigkeiten. Durch die Anstrengungen der Physiokraten avanciert die Wirtschaft erstmals als ein Ganzes zum Gegenstand der Forschung.

Die maßgebliche Ertragsquelle der Wirtschaft ist nach physiokratischer Vorstellung der von den Bauern veredelte, produktiv genutzte Boden. Durch ihre landwirtschaftliche Tätigkeit erwirtschaften die Bauern einen Ertrag, aus dem sie (a) ihren Lebensunterhalt bestreiten, (b) die Ressourcen abzweigen, die zur Fortsetzung der landwirtschaftlichen Produktion benötigt werden, sowie (c) die Pachtabgaben und Steuern aufbringen, die dem Hof, dem Militär und den Produzenten nichtlandwirtschaftlicher Zivilisationsprodukte eine materielle Lebensgrundlage verschaffen.

Der Physiokrat Quesney (1694 - 1774) entwickelt das erste Modell einer vollständigen Wirtschaft, in dem er das Prinzip des erst kürzlich entdeckten menschlichen Blutkreislaufs auf das Zusammenspiel von drei sozialen Klassen anwendet - den Bauern (der "produktiven Klasse"), den Grundbesitzern ("besitzenden Klasse") und den Handwerkern (der "sterilen Klasse"). Die Bauern sind die Erzeuger eines wirtschaftlichen Überschusses, aus dem wiederum Mittel an die Grundeigentümer abgehen, welche diese verzehren aber auch zum Teil an die Handwerker weitergeben, um ihnen einen Unterhalt zu gewähren, so dass sie deren Dienste dauerhaft in Anspruch nehmen können. Der Sinn des wirtschaftlichen Kreislaufs ist die jährliche Reproduktion des von den einzelnen Klassen in den Wirtschaftsprozess eingebrachten Betriebskapitals.

Ein wesentlicher Fortschritt in Quesnays Wirtschaftsmodell bestand in der Erkenntnis, dass Ausgaben nicht einfach nur verbraucht waren, sondern an anderer Stelle als Einnahmen erschienen, die nun wieder Ausgaben möglich machten und so weiter. Nicht mehr einzelne Phänomene des Wirtschaftslebens wurden untersucht, sondern es entstand ein Schema, mit dem erkennbar wurde, wie Produktion, Verteilung und Verbrauch zusammenhingen und einander bedingten. Der so entstehende Kreislauf würde sich sozusagen naturgesetzlich selbst regulieren, der Staat sollte so wenig wie möglich eingreifen: „Laissez faire et laisser passer“ wurde zum Wahlspruch der Physiokraten. Als Träger aller wirtschaftlichen Aktivitäten benannte Quesnay drei „Klassen“ (Gruppen bzw. Sektoren): Die Landwirtschaft (classe productive) erwirtschaftet den volkswirtschaftlichen Überschuss. Die Grundeigentümer (classe des propriétaires oder classe distributive), meist Adlige, betreiben durch Verpachtung die Verteilung des Bodens und sorgen für dessen Melioration; sie verbrauchen den gesamten Überschuss. Die Händler und Gewerbetreibenden (classe stérile) erwirtschaften mit ihrer Tätigkeit keinen volkswirtschaftlich relevanten Überschuss, daher ihre Einordnung als steril.
Quelle.
Was uns heute als selbstverständlich erscheint war geistiges Neuland, als die Physiokraten das vereinzelte Wirtschaften einzelner Subjekte und Sektoren zu einer kreislaufartigen Gesamtheit zusammenschauten, deren Quintessenz anhand eines Modells, nach ihrer Überzeugung, authentisch erfasst und richtig begriffen werden konnte.

Neben den Chancen und Gefahren abstrakter Modelle vermacht die Physiokratie den späteren Wirtschaftswissenschaften auch die ambivalente Nähe und gegenseitige Verschränktheit von Tatsachen und zwingender Logik einerseits, und Hypothesen, Voreingenommenheiten und parteiischen Standpunkten andererseits, die zusammengenommen jede Ausprägung, jede Schule der Ökonomie in ein ideologisches Projekt verwandeln.

So versteht sich die ideologisch gefärbte Ökonomie der Physiokraten als eine Verteidigung des bestehenden Systems, insbesondere der Rolle der Grundbesitzer als den vermeintlich rechtmäßigen Inhabern des vermeintlich wichtigsten werterzeugenden Teils der Wirtschaft: Grund und Boden.

Auf der anderen Seite ist eine Wirtschaftskunde, die sich ideologisch neutral gibt, nicht ehrlicher als eine, die den Standpunkt einer bestimmten Gruppe als allgemein verbindliche wissenschaftliche Erkenntnis ausgibt. Natürlich gelingt es auch der Physiokratie nicht, frei von ideologischen Neigungen zu sein. Freilich, indem die Physiokraten die Rolle unterschiedlicher sozialer Schichten in ihr volkswirtschaftliches Modell aufnehmen, begründen sie die moderne politische Ökonomie, also eine Wirtschaftslehre, die die Verwobenheit der Wirtschaft mit den politischen und sozialen Verhältnissen berücksichtigt.  

Es ist die Absicht zu erkennen, die bestehende Stände-Ordnung als vital, stabil, gerecht und dauerhaft zu portraitieren. Damit ist die Idee vom wirtschaftlichen Gleichgewicht, wissenschaftliche Errungenschaft und ideologische Versuchung in einem, auch schon von den Physiokraten ins Leben gerufen worden.

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