Saturday 5 March 2016

Politik (2) - Zwischen politischer Knappheit, Sinnstiftung und Macht

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Fortsetzung von Politik (1).

Weitere Auszüge aus meinem deutschen Buch-Manuskript "Freiheit verstehen":

Politische Knappheit

Zurück zur Besonderheit politischer Produkte: Wo diese auftreten ist ein Phänomen zu beobachten, das Riker[1] als „moralische oder politische Knappheit“ bezeichnet. Genauer formuliert handelt es sich hierbei um einen Mangel an Zuspruch für ein Vorhaben oder einen gewünschten Zustand. Wenn es, wie im Falle eines strikten Alkoholverbots, allseitigen Zuspruchs zu einer Reglung bedarf, um sie vollends zu verwirklichen und ein möglichst hoher Verwirklichungsgrad erwünscht ist, entsteht grundsätzlich schon mit der ersten Partei, die Zuspruch verweigert, „politische Knappheit“ (Zuspruchsknappheit). In der politischen Realität bedeutet „Zuspruchsknappheit“ , dass ein gegebenes Vorhaben (z.B. die Einführung des Frauenwahlrechts) unter einem Mangel an Zuspruch durch Parteien leidet, deren Einverständnis von genügendem Gewicht ist, so dass ein Widerstand entsteht, der (i) kostenträchtig (im Sinne eines allgemeinen, nicht unbedingt nur finanziellen Kosten-Nutzen-Kalküls) reduziert oder vollauf beseitigt werden muss, oder aber (ii) stark genug ist, das erwünschte Projekt undurchführbar zu machen.

[...]

Ist die moralische Asymmetrie stark genug, schwindet die Hemmung, das gewünschte politische Produkt unter Zwang durchzusetzen. Dass eine Gruppe bestimmte Voraussetzungen, die für die Wahrnehmung des Standpunkts einer anderen Gruppe unverzichtbar sind, nicht nach zu vollziehen vermag, ist ein tägliches Vorkommnis, bei dem durchaus nicht böser Wille im Spiel sein muss. Zwischen Menschen offener und fairer Denkungsart können unüberwindliche moralische Asymmetrien allein schon deshalb entstehen, weil sie einen unterschiedlichen Informationsstand haben, eine andersartige Vermischung von Interessenslage und Sichtweise oder aus anderen Gründen daran gehindert sind, sich in die Vertreter des oppositionellen Standpunkts hineinzuversetzen - wer ist schon frei von Voreingenommenheiten, die ihm nicht bewusst sind.

Natürlich gibt es viele andere Gründe, warum politische Knappheit entsteht, darunter auch solche, die nicht gut geheißen werden können, trotzdem aber weit verbreitet sind: Dogmatismus, Gehässigkeit, zynischer Egoismus, Dummheit, mangelnde Bereitschaft, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Glaubenseifer und Kenntnisstand. Eine wichtige Ursache dafür, dass die Quellen politischer Knappheit nicht versiegen, ist gewiss auch darin zu sehen, dass viele der Themen, die uns zutiefst bewegen, entweder unentscheidbar sind oder für unterschiedliche Personen einander widersprechende Arten des Umgangs mit ihnen begrüßenswert erscheinen lassen. Gibt es eine in allen Aspekten vollkommene Drogenpolitik? Können wir genau bestimmen, welcher Punkt auf dem Kontinuum zwischen völliger Legalisierung und radikalem Verbot die beste Lösung darstellt? Selbst wenn dies möglich wäre, muss eine solche Bestimmung nicht unterschiedlich ausfallen, je nachdem an welche Voraussetzungen der Beurteilende hinsichtlich seines Kenntnisstands, seines Wertesystems und anderer Parameter seiner Bewertung gebunden ist?   

Ob nach diesem Muster oder aus anderen Gründen, Menschen werden immer wieder starke Anreize verspüren, politische Knappheit durch Zwang zu überwinden.

[...] 

Primat der Politik bei der Bestimmung grundlegender Rechte

Die beschränkte Rolle des Markts bei der Bestimmung der rechtlichen Verhältnisse zwischen Menschen

Was statthaft und gültig ist im Miteinander der Menschen, lässt sich nicht ausschließlich aufgrund von freiwilligen Übereinkünften regeln, wie sie bei Transaktionen am Markt vonstatten gehen. An Märkten werden Eigentumsrechte gehandelt. Was Eigentumsrechte beinhalten, hängt von veränderlichen Rahmenbedingungen ab (- darf man Sklaven halten?). Es sind die Eigentumsrechte, nicht ihre Rahmenbedingungen, die am Markt gehandelt werden. Zur Verdeutlichung: Herr X. begrüßt Herrn Y. mit den Worten: „Bei mir darf eigentlich nicht geraucht werden. Aber wenn Sie mir 50 Dukaten geben, dürfen Sie bei mir rauchen.“ Herr X. ist bereit, sein Recht auf eine rauchfreie Wohnung – genauer das Recht zu bestimmen, ob geraucht werden darf oder nicht - an einen Besucher zu verkaufen. Das ist zulässig. Unzulässig wäre es, wenn Herr X. seinem Besucher folgendes Angebot unterbreiten würde: „Wenn Sie mir 50 Dukaten geben, dürfen sie in ganz Deutschland rauchen, wo sie wollen.“ Eine solche Transaktion würde voraussetzen, dass Herr X. nicht nur Veränderungen an seinem Eigentum, sondern auch an den Rahmenbedingungen der Eigentumsrechte in seinem Land vornehmen darf. Doch diese Rahmenbedingungen gehören ihm nicht. Sie werden deshalb in der Politik und nicht am Markt ausgehandelt. Anders gesagt: Eigentumsrechte umfassen nicht alle Rechte, die relevant sind für das Miteinander der Menschen. Sie umfassen z.B. nicht das Recht, die Rahmenbedingungen der Eigentumsordnung nach individuellem Gutdünken zu verändern. Bestimmte Rechte müssen außerhalb des Marktes geregelt werden, damit der Markt überhaupt funktionieren kann: Was ist Mein, was ist Dein? Wer darf handeln? Etc. Die Eigentumsrechte des Herrn X. besagen nichts darüber, ob seine Frau wahlberechtigt ist. Das heißt, andere wichtige Rechte gehen nicht aus den bestehenden Eigentumsrechten hervor. Sie müssen politisch initiiert, definiert und durchgesetzt werden.

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Sinnstiftung durch Politik

Politisches Handeln spielt eine wichtige, vielfach unverzichtbare Rolle dabei, der Lebenswelt, in der wir uns bewegen, Sinn zu geben, ihr Glaubwürdigkeit zu verleihen, ihr den Adel des Gerechten, die Wärme des Vertrauten, den Glanz des Idealen zu schenken. Politik trägt ganz wesentlich zur Erschaffung dessen bei, was wir für die Wirklichkeit halten. Sie ist eine gestalterische Kraft, die dem menschlichen Bedürfnis entgegenkommt, eine Welt zu bewohnen, in der die Dinge ihren Sinn und ihren rechtmäßigen Platz haben.

Bis zu einem gewissen Grade sind wir Erfinder dessen, was wir im Rahmen unserer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als vernünftig, legitim und affektiv befriedigend erleben. In dieser Eigenschaft begehen wir Fehler, sitzen Irrtümern auf und jagen Hirngespinsten hinterher. Es gibt keine Formeln, nach denen sich das Gewebe der gesellschaftlich gültigen Konventionen mit unumstößlicher Zielstrebigkeit und Wahrhaftigkeit wirken ließe. Schon das Bild, das wir uns von „unserer Gesellschaft“ machen, kann von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich ausfallen, und es bleibt oft unbemerkt, dass wir aneinander vorbeireden, weil wir von völlig verschiedenen Bedeutungen ausgehen. Der Markt kann Eigentumsverhältnisse nach Maßgabe der persönlichen Präferenzen freiwillig kontrahierender Menschen zu deren gegenseitigen Besserstellung neu anordnen. Der Markt kann die Budgets von Fremden zu deren größtmöglichen gegenseitigen Zufriedenheit koordinieren; aber der Markt kann nicht Werte gebären, Zielvorstellungen formen oder Ideen mit Affekten verknüpfen. Er kann nicht Kalküle verfolgen, die jenseits seiner eigenen Gesetzmäßigkeit liegen. Der Markt ist ein Experiment, aber das Leben ist eine noch viel größere Versuchsanstalt.

Definition von Politik

Die geradezu existenzialistische Dimension der Politik als sinnstiftende Veranstaltung verbindet sich mit einem ebenso urtümlich-kraftvollen Impulsgeber des menschlichen Handelns: praktischen Interessen. Deshalb können wir Politik vielleicht auf diese Weise definieren:

Politisches Handeln ist das Bemühen, bestimmten Überzeugungen und Interessen zu Geltung in einem Gemeinwesen zu verhelfen.

Politik sorgt zum Einen dafür, dass bestimmte Überzeugungen und Interessen (i) inhaltlich als legitim angesehen werden, d.h. als wahr oder - in einem demokratischen Kontext - immerhin als äußerungsberechtigt im pluralistischen Chor der Stimmen. Zum Anderen versucht die Politik zu gewährleisten, dass bestimmte Überzeugungen und Interessen (ii) operativ als legitim gelten, d.h. sie sind durchführbar, sie können verwirklicht oder ausgeübt werden, weil sie unter dem Schutz der Regeln stehen, die in einem Gemeinwesen wirksam sind.

Interventionsverfahren Politik – Überzeugungen, Interessen, Macht und Staat

Natürlich ist Politik nicht nur Erzwingungsgebahren – schließlich bedarf sie der Kommunikation, der Forschung, der Überzeugungskunst und vielem mehr, was nicht mit Zwang zu tun haben muss. Aber letzten Endes zielt politisches Handeln auf Vergewisserung durch (die Möglichkeit der Ausübung von) Zwang ab. Den Status des Sinnvollen-und-Legitimen auf politischem Wege zu erlangen, heißt nichts anderes als Ansprüche zu erwerben, deren Verletzung mit Zwangsmaßnahmen geahndet oder deren Vollzug durch Zwang gewährleistet werden kann.

Sollen Überzeugungen und Interessen gesellschaftliche Geltung erlangen, ist es vielfach erforderlich, die Menschen zu Verhaltensweisen zu ermuntern, die sich in durchsetzbaren Regeln abbilden lassen. Die Überzeugung beispielsweise, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer, und das Interesse, sie an der Ausübung von Macht zu beteiligen, verlangen nach durchsetzbaren Regeln, die das Frauenwahlrecht und die Besetzung politischer Ämter durch Frauen gewährleisten.

Soll Politik in diesem Sinne wirkungsvoll sein, so bedarf sie der Fähigkeit Macht auszuüben. Somit ist die Entwicklung politischer Verhaltensweisen engstens verwoben mit der Entwicklung von Machttechniken. Die politischen Impulse der Menschen veranlassen sie, nach Strukturen Maximaler Macht (SMM) zu streben. In diesem Prozess bildet sich der Staat in seinen verschiedenen Erscheinungsformen aus. 



[1] Riker, W.H. (1982), 203-206.

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