Saturday, 28 May 2016

Zur politischen Anthropologie der Freiheit (2) — Eine Zwischenbetrachtung

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 Fortgesetzt von hier.


Heute lasse ich meine Gedanken ohne besonderes Ziel spazierengehen.


Der Verlust metaphysischer Objektivität in der Physik

Man wollte es zunächst nicht wahrhaben. Dann wurde es zum Skandal, als Schock empfunden. Heute gehen die meisten Physiker mit kühlem Kopf darüber hinweg. So gut es geht,  finden sie heraus, was herauszufinden ist, unberührt vom metaphysischen Ehrgeiz der großen Pioniere der Physik. Nüchtern und emsig gehen die Forscher zu Werke, ohne viel Aufhebens darüber, dass es keine Gottes-Perspektive gibt, aus der die Physikerin das Bild des einen, einzig denkbaren Universums auf seine Gesetze und Beschaffenheit untersucht. Niemand ist verstört darüber, dass man nach dem neusten Stand der Physik deren Gegenstand nicht mit den Augen eines unbeteiligten Außenseiters erfassen kann, sondern, dass der Beobachter teilhat an der Ausformung von Zustand und Erscheinungsbild dessen, was er beobachtet. Je nach Standpunkt treten bald Wellen, bald Partikel in Erscheinung. Superpositionen sind zu bemerken, so dass die Welt mal drei, mal vier Protonen erkennen lässt und bei anderer Gelegenheit sowohl drei als auch vier Protonen, die sich überlagern.

Längst hat die Physik sich den Verlust metaphysischer Objektivität eingestanden: "Objektiv" bedeutet nicht mehr, worauf diese Vorstellung in ihrer metaphysischen Variante hinzudeuten versprach: nämlich wie die Dinge nun mal sind und nicht anders sein können, einer eindeutigen, einzigartigen und alternativlosen, ursprünglichsten Realität angehörend. 


Das komplizierte soziale Universum

Das soziale Universum ist weitaus komplizierter als das, auf welches sich die Physik bezieht. Die klassische Physik hatte das große Glück, dass ihr Gegenstand zufällig sehr einfach war und sich dazu eignete, die Natur so darzustellen, als sei sie so eindeutig und übersichtlich wie ein großer Baukasten. Die Physiker konnten damit prahlen, eine exakte Wissenschaft zu betreiben, im Gegensatz zum "Wischiwaschi" der sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen "Pseudowissenschaften". Ende des 19. Jahrhunderts vertraten Physiker, die als seriös galten, die Auffassung, ihr Fach habe seinen Gegenstand erschöpfend durchdrungen: es werde keine Neuheiten mehr in der Physik geben. Inzwischen ist auch die Welt der Physiker komplizierter geworden. Vielleicht werden wir bald von ihnen Neues darüber erfahren, was Mehrdeutigkeit eigentlich ist, wie sie entsteht und wie man mit ihr fruchtbar umgeht.


Newtons Apfel

Wäre die Welt der klassischen Physik so kompliziert wie die soziale Welt, dann könnte der Newtonsche Apfel jederzeit darüber entscheiden, ob er zu Boden fallen will oder nicht, wobei er sich nicht nur von tausenderlei Faktoren beeinflussen ließe, die für sich vielleicht jeweils klar bestimmbar sind ("ob es regnet" z.B.), die aber ein komplexes Knäuel an Ursachen bilden, welche zudem jede als Einzelne aber auch als Gesamtheit von unterschiedlichen Äpfeln unterschiedlich gedeutet und gewichtet werden — von Äpfeln, die sich wohlgemerkt untereinander austauschen und auf diese Weise eine neue Schicht an Fakten schaffen, die wiederum unterschiedlich bewertet und gewichtet werden. All dies führt dann dazu, dass Newtons Apfel vom Baum fällt oder es sein lässt.

Wie dem auch sei, der Mensch besitzt nicht die Uniformität des Newtonschen Apfels und die politische Anthropologie zeigt auf, warum es so ist, dass jeder Mensch, der seine Augen aufschlägt, eine andere Welt sieht als jeder andere. Die Standpunkt-Abhängigkeit des Weltbildes, an das sich ein Mensch gebunden fühlt, ist kalter Kaffee in den Sozialwissenschaften.

Soziale Mechanismen wie die Sprache, die Schrift, das Streitgespräch, der kritische Diskurs, das Gemeinschaftswerk der Forschung, machen Gebrauch von der Einzigartigkeit individueller Standpunkte. Zugleich schließen diese gemeinschaftlichen Anstrengungen die verstreuten Standpunkte zu einer Hyperintelligenz der Spezies zusammen — so bringt die Auseinandersetzung unzähliger Individuen mit mathematischen Problemen schließlich ein Kollektivprodukt wie etwa die Algebra hervor. Derartige Kollektivprodukte begünstigen wiederum die Fähigkeit des Einzelnen, seine Sichtweise gegenüber der Anderer zu differenzieren. Die Kollektivprodukte des menschlichen Geistes sind das Ergebnis einer Hyperintelligenz unserer Gattung, in der die Intelligenzleistungen von Millionen von Individuen verlinkt sind, sich aufeinander beziehen, und durch gegenseitige Kritik und Anverwandlung von einander lernen, um sich miteinander zu wandeln. Individuelle geistige Leistung, einerseits, und der soziale Kanon an Wissen sowie die Techniken gemeinsamer Wissensproduktion, andererseits, sind ununterbrochen dabei, sich gegenseitig zu verändern. Das Eine ist ohne das Andere nicht möglich. Die mathematischen Hilfsmittel, das physikalische Grundwissen, die technischen Verfahren, die Einsteins revolutionäre Physik möglich machten, sind ein Ausdruck unserer kollektiven Hyperintelligenz, sie sind nicht die Schöpfung eines Individuums, sondern entstehen durch das Zusammenwirken zahlloser vernunftbegabter Menschen. Zugleich schaffen sie die Grundlage, auf der ein Einzelner aus einem bis dahin bewährten Rahmen ausbrechen kann, um gänzlich Neues zu schaffen. Es ist dann möglich, dass ein Einzelner das Kollektivprodukt Physik revolutioniert und entscheidende Anstöße gibt, das Arsenal der geistigen Kollektivprodukte zu erneuern. 

Wir stehen am Urquell der politischen Disposition des Menschen. Ungeachtet dessen, wie stark es ihm gestattet ist, sich außerhalb konformer Bahnen zu bewegen, der Mensch ist dazu verdammt, von der Weltsicht anderer Menschen abzuweichen. Von Natur aus variiert er die ihm vorstellbare Welt, um geistig zu experimentieren, um Einsichten zu gewinnen und letztlich, um Schwierigkeiten zu umgehen und sich Vorteile zu verschaffen. Ein willkommener Zug der im Menschen angelegten Individualität, der von der Gruppe solange geduldet wird, wie sein Ausleben ihren Zwecken gemäß erscheint, solange also wie sich die Alleingänge des Einzelnen erfolgreich koordinieren lassen mit den Anforderungen des Kollektivlebens.


Individualismus und Evolution

Wobei - anderes Thema - nicht immer klar ist, ob die Anforderungen des Kollektivlebens so zwingend sind, wie sie erscheinen — kann der Eskimo-Stamm wirklich nur überleben, wenn er Senizid betreibt? Der exzentrische Ausbruch des Individuums aus dem von Traditionen gesteckten Rahmen ist sicher kaum weniger bedeutsam für die kulturelle Evolution der Spezies Mensch als unpersönliche Überlebenszwänge, auf denen der Senizid beruhen mag. Variationen, die durch sozial abweichende Vorstellungen und individuelles Handeln hervorgerufen werden, spielen somit eine Schlüssel-Rolle in der Evolution des Menschseins und seiner sozialen Bedingungen. Menschliche Individualität ist überlebenswichtig für die Spezies. Sie ist ein Faktor, der die Evolutionsresultate, die den Menschen betreffen, nachhaltig beeinflusst und für Verbesserungen in den Überlebensbedingungen der Gattung sorgt. Die individualistische Disposition des Menschen erweist sich — trotz, ja gerade wegen der erheblichen Drosselung, die sie unter Regimen repressiven Kollektivismus' erfährt — als evolutionserprobt. Sie ist überlebensfähig über lange Zeiträume der Latenz und des sparsamen Einsatzes, und sie zeigt sich vital genug, schließlich ein Zeitalter, in dem wir heute noch leben, zu prägen.


Anreize für die Originalität

Neben seiner angeborenen Disposition, abweichend zu denken, wird der Mensch in seiner exzentrischen Weltwahrnehmung auch von der Gemeinschaft und zum Teil durch die Anforderungen des Alltags ermuntert; zum Einen, weil originelle kognitive Leistungen bis zu einem bestimmten Grade von seinen Mitmenschen als nützlich angesehen and daher akzeptiert, wenn nicht sogar gefördert werden ("Wie hast du nur wieder die vielen Brombeersträucher gefunden? Das kann keiner so gut wie du."). Zum Anderen, weil das versuchsweise, neugierige Erproben der Welt mit den Mitteln der Vorstellungskraft ein angeborenes Instrument ist, das der Mensch instinktiv einsetzt wie der Hund seinen Geruchssinn.

Wir machen uns kaum bewusst, wie sehr die Details unserer Lebensbewältigung durchsetzt sind mit erprobenden Fantasien, die eng verbunden sind mit unserer Gewohnheit, uns der Welt anzupassen oder diese zu beherrschen, indem wir unsere Bedürfnisse unentwegt variieren, ausbauen und um neue Wünsche ergänzen.


Die umgestürzte Orchidee und ihre beschädigte Vase

Mir ist noch nie eine Vase mit einer Orchidee umgestürzt und dabei zu Bruch gegangen. Ich bin mir aber sicher, dass ich diese völlig neue Situation zum Anlass nehmen würde, neue, dem Ereignis einmalig zugeordnete Bedürfnisse zu entdecken und zu verwirklichen. Anders als mein Hund, der vielleicht das ausgelaufene Wasser aufschlabbern wird, darüber hinaus aber kaum Anstalten machen dürfte, völlig neue Situationen zu inszenieren, wie ich es tue, indem ich die Vase wieder zusammenklebe, eine Halterung für sie erfinde, das Mobiliar umstelle und eine Schutzfolie aufziehe, damit der Unfall sich nicht wiederholen kann und ich mich auch in anderen Belangen wohler fühle.

Die Reize, die aus der Umwelt auf uns einwirken, lösen in uns Lawinen an neuen Bedürfnissen aus. Das gilt für verhältnismäßig triviale Reize ebenso wie für bedeutende Herausforderungen des Lebens. Sie machen uns einfallsreich und streitbar. Denn mit dem Einfallsreichtum entsteht Vielfalt der Ansichten und diese entzweit uns in zahlreichen Fragen.


Politische Knappheit

Aus diesem Grunde ist das Angebot an politischer Knappheit unerschöpflich, ebenso wie die Anlässe für politisches Handeln. Politische Knappheit? Ökonomische Knappheit bezeichnet den Umstand, dass wir nicht über genügend Mittel verfügen, um alle unsere Ziele zu erreichen, wir daher Wirtschaften müssen, sprich: die uns gegebenen Mittel so einzusetzen haben, dass wir uns wenigstens unsere dringendsten und wichtigsten Zwecke erfüllen können. Wie die ökonomische Knappheit verweist die politische Knappheit auf einen Zustand, der Rivalität und Wettbewerb herruft. Sind es in einer modernen Tauschwirtschaft größtenteils Waren und Dienstleistungen, die den Gegenstand der ökonomischen Knappheit bilden, so setzt sich der Gegenstand der politischen Knappheit aus Formen der sozialen Übereinstimmung zusammen, aus Unterstützung, Zuspruch oder Toleranz seitens jener, deren ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung in unsere Forderungen und Vorhaben in irgendeiner Weise für deren Verwirklichung maßgeblich sind.

Wir lassen uns lenken von materiellen Interessen, kulturellen Bindungen, psychischen Neigungen, persönlich variierten Werten und Überzeugungen, die uns  starr und streitbar werden lassen angesichts abweichender Vorstellungen in diesen Belangen. Damit werden wir einander zum gegenseitigen Widerstand. Politik ist das Bemühen, derartige Widerstände zu handhaben, durch Gewalt, Unterdrückung, Kompromiss oder Überzeugungsarbeit. Politik ist Einflussnahme in der Absicht zu regeln, was in einer Gemeinschaft statthaft und durchsetzbar ist.

Das Besondere an der Politik unter Bedingungen der Freiheit besteht darin, dass nun alle Mitglieder der Gesellschaft am Management politischer Knappheit beteiligt werden. Damit wird es sehr viel schwieriger, Mittel der Gewalt und der Unterdrückung politisch einzusetzen. Denn erstens zielt die politische Repression letztlich auf den Ausschluss bestimmter Gesellschaftsmitglieder vom politischen Entscheidungsprozess und die entsprechende Privilegierung der unterdrückenden Teilnehmer, und zweitens impliziert die politische Emanzipation, die Teil des Pakets an Rechten ist, das wir Freiheit nennen, dass wir uns gegen die Anmaßung politischer Vorrechte auflehnen dürfen, wenn wir nicht sogar dazu verpflichtet sind.


Destabilisierende Stabilität

Die aus der zumindest doch immer latenten Individualität des Menschen entspringende Vielfalt an politischen Meinungen muss nun zugelassen werden. Ob dieser Pluralismus einen gangbaren Weg darstellt, hängt davon ab, inwieweit wir es verstehen, ihn produktiv zu gestalten, auf diese Weise, alternative Szenarien der Politik zu überflügeln und allgemeinen Zuspruch für dieses offene Verfahren zu mobilisieren. Das Versprechen einer pluralistisch-freiheitlichen Gesellschaft ist, dass sie intelligenter, leistungsfähiger und friedlicher sein kann als ihre Konkurrenten. Die Frage ist, ob es uns gelingt, die dazu erforderlichen Bedingungen zu gewährleisten. Einerseits ist Freiheit schwer abzuschütteln, andererseits gilt wohl auch für Zivilisationen, was Hyman Minsky von Volkswirtschaften postuliert: Stabilität gebiert Instabilität. Damit meint Minsky, dass  nach wirtschaftlichen Zusammenbrüchen, die Menschen geneigt sind, Umsicht walten zu lassen in ihren ökonomischen Entscheidungen, indes bei steigendem Wohlstand und dauerhaftem wirtschaftlichen Erfolg die Risikobereitschaft allmählich immer größer wird, solange bis destabilisierende Risiken überhand nehmen und schließlich zur Krise führen.

Stabile politische Verhältnisse, wie wir sie zum Beispiel in Deutschland und Europa über ein halbes Jahrhundert genießen konnten, bergen das Risiko, dass wir die Bedingungen eines funktionierenden freiheitlichen Pluralismus aus den Augen verlieren, etwa dergestalt, dass wir die Erosion der Demokratie hinnehmen und unsere bisher vertrauenswürdige politische Führungsschicht in Alleingänge verabschieden, die keiner wirkungsvollen demokratischen Kontrolle mehr unterliegen, so dass sich folgenschwere politische Entscheidungen unter der Ägide genau solcher Machteliten kumulieren, die dem Geist des Pluralismus widersprechen — Anzeichen hierfür sehe ich im jahrelangen Regieren ohne Opposition und in der Abkopplung mächtiger Entscheidungsgremien vom Volk, wie wir sie in der EU beobachten können, wo politische Einflussnahme auf verhältnismäßig wenige, dafür umso wirkungsvollere Sondergruppen verlagert wird.

Interessanterweise kann unter diesen Bedingungen das politische System anfällig werden für antidemokratische und unfreiheitliche Politikentwürfe. Gewohnheitsmäßig traut man den Botschaften der Politik, die sich über Jahrzehnte bewährt hat. Immer stärker, und vielleicht auch nicht ganz ohne eine gewisse eigene bequeme Bereitschaft, lässt man sich in die Rolle des politischen Konsumenten drängen. Gleichzeitig sind die Anreize groß für Vertreter totalitärer Visionen, den Schlaf des Demos auszunutzen, und die eigenen undemokratischen Forderungen in das politische Bewusstsein der Machthaber und den Kanon des politisch Korrekten einsickern zu lassen.


Konformität und gesellschaftliche Dummheit

Unter soziogener Freiheit verstehe ich Freiheit, die durch Beherzigung allgemein anerkannter Handlungsnormen erzielt wird — Freiheit also, die dadurch zustande kommt, dass man sich verhält, wie es unter allen Menschen üblich ist — im Gegensatz zu anthropozentrischer Freiheit, die ihren Ursprung nicht in gemeinschaftlich beherzigten Regeln und Gesetzen, sondern ausschließlich im Verhalten eines einzelnen Menschen hat. Bevor sich soziogene Freiheit auszubreiten beginnt, übt der gesellschaftliche Druck, der das Individuum umschließt, eine eher konservative und einschnürende Wirkung aus. Nur in sparsamer Dosis wird persönliche Autonomie gestattet; individuelle Regungen fließen entweder in fest vorgegebenen Bahnen oder sie werden unterdrückt, verboten und verfolgt. Die Blockade der Individualität dürfte pathologische Konsequenzen nach sich ziehen, vor allem in Gestalt eines Rückzugs in den Stumpfsinn, in die Frustration und die Überbetonung des Affektiven — die sich niederschlägt in Neid, Missgunst, Hass, Fanatismus, in der Ablösung des inneren Drangs zur Individualität durch Kollektiv-Trancen kriegerischer oder religiöser Art. Die Macht verroht, die Beherrschten verblöden.

Es muss nicht für jeden Einzelnen zutreffen, doch insgesamt dürfte die Freiheit ein höheres Maß an Ausgewogenheit zwischen Affekt und Intelligenz zeitigen, da sie dem Menschen mehr Raum lässt, dem Bedürfnis nachzukommen, seine Intelligenz zu entfalten, und auf diese Weise auch eine seiner inneren Harmonie zuträgliche affektive Befriedigung zu erleben, oder — genauer und weniger idealisierend gesagt — einem Leid zu entgehen, dessen Abwesenheit ihn vielleicht nicht beglückt, aber einem Zustand entschieden vorzuziehen ist, in dem er solchem Leid ausgesetzt ist.


Glücksforschung oder Unglücksvermeidungsforschung?

Angesichts der oftmals schwatzhaft und philosophisch wenig tiefschürfend verfolgten Mode-Erscheinung Glücksforschung lohnt es darauf hinzuweisen, dass aus dem nämlichen Grunde, den ich soeben vorgetragen habe — wonach der Mensch ein Bedürfnis-Erfinder ist — menschliche Befindlichkeit weniger gut erfasst wird durch das grell-monistische Kriterium der Zufriedenheit oder gar des Glücks, als durch das variantenreichere Streben, solche Grundbedingungen des Menschseins zu sichern, deren Abwesenheit oder Einschränkung Leid erzeugen. Die Wahl des Menschen, mit der er anzeigt, was ihm zuträglich erscheint und was nicht, das Urteil des Menschen, mit dem er verrät, was er bevorzugt, wird weniger durch ein Glückskalkül bestimmt sein — schließlich ist unserer Glücksfähigkeit endlich und eng umrissen und lässt sich nicht in dem Maße steigern, wie anderes an dessen Wachstum wir uns gerne erfreuen — als durch den Ausschluss von Dingen, die ihm Leid oder Unbehagen bereiten; und dazu gehört — mehr oder weniger bewusst und klarsichtig eingestanden — das Vermeiden unnötiger Einschränkungen in den Handlungsmöglichkeiten, die ihm offenstehen. Die bevorzugten Verhaltensweisen des Menschen werden in hohem Maße geprägt sein vom Bemühen, den Verlust wünschenswerter Optionen zu vermeiden. Aus diesem Grunde wird der hier dargelegte Wesenskern der menschlichen Individualität, der immer eine Forderung nach persönlicher Freiheit in sich trägt, letztere zu einem unveräußerlichen Bestandteil menschlicher Glückserwartungen im weitesten Sinne machen.

Ob diese Überlegungen wirklich überzeugen können, hängt letztlich davon ab, ob sie sich überprüfen lassen, und das ist abhängig davon, dass der Mensch eine beobachtbare Wahl hat zwischen Zuständen, die nach meinem Modell von ihm als zuträglich eingeschätzt werden, und solchen, die er als unzuträglich empfindet. Deshalb glaube ich, dass wenn man die Repressionen des SED-Staats und seiner Schutzmacht mit einem Schlag hätte aufheben können,  meinetwegen am 14. August 1961, die DDR sehr bald zu existieren aufgehört und sich wohl dem Beispiel Westdeutschlands angenähert hätte oder sich diesem angeschlossen hätte, ähnlich wie es dann tatsächlich auch geschah. Aus dem gleichen Grund hat niemand ernsthaft versucht, die DDR nach ihrem Zusammenbruch wiederzubeleben, ungeachtet anderslautender nostalgischer Beteuerungen, die mir aber vom Typus des cheap talk zu sein scheinen.

Jedenfalls entschließen die Menschen sich nicht für das (abstrakte, absolute und vermeintlich totale oder größte) Glück, sondern gegen das konkret und praktisch drohende Unglück. Es ist nicht ein Summations-Verhalten im Spiel, ein Raffen an Glücksverheißungen und Glückhaftem, sondern ein selektives Gebaren, das man deuten kann als ein Darauf-Bedachtsein, die wichtigsten Bedürfnisse bei geringstmöglicher Einschränkung der verbleibenden Handlungsoptionen zu gewährleisten. Vielleicht wären wir besser beraten, uns mit Unglücksvermeidungsforschung statt mit Glücksforschung zu befassen.


Fortschritt

Damit hängt auch das Thema Fortschritt zusammen — Fortschritt, zu dem der Mensch verdammt ist. Eine Verdammnis, deren Zwangsläufigkeit schlüssig hervorgehen sollte aus dem, was ich bereits dargelegt habe. Menschsein heißt Fortschritt erzeugen. Daneben mag Stagnation und Rückschritt bestehen. Und der Fortschritt, an dem sich der Mensch unentwegt zu schaffen macht, mag sich gegen zwischenmenschliche, zwischenkulturelle oder zwischenepochale Vergleiche sperren. Dessen ungeachtet ist und bleibt einer der Hauptlebensimpulse des Menschen über alle geschichtlichen Stadien hinweg die Erfindung neuer Bedürfnisse, eine Angewohnheit, die zwangsläufig zu bleibenden konsensfähigen Ablagerungen von Fortschritt führt. Denken Sie nur an das Grundprinzip des Fahrrads, auf das, nach anfänglicher wettbewerblicher Vielfalt, alle Typen des Zweirads mit menschlichem Antrieb schließlich hinkonvergieren — bis heute. Ich habe auch noch keinen Eskimo gesehen, der eine schlagende Verbesserung des Hubkolbenmotors aus der Sicht seiner Kultur gefordert hätte. Auch kann ich mir den mittelalterlichen Ritter nicht vorstellen, der es ablehnen würde, aus Gründen kultureller oder epochenspezifischer Voreingenommenheit, seine Geliebte oder seine Mitstreiter per Telefon zu erreichen, wenn dies die einzige oder bequemste Möglichkeit wäre, ihnen etwas Dringendes mitzuteilen. Niemand hindert uns daran, unsere Städte in den gleichen Zustand zu versetzen wie die Städte des Sudans heute oder zu früheren Zeiten. Was uns davon abhält ist ohne Zweifel die implizite Anerkenntnis eines wünschenswerten Zustands größerer Fortschrittlichkeit. Ein viktorianischer Bürger mag Einwände gegen die zeitgenössische Toleranz für Pornografie erheben, aber wird er sich für eine Kutsche statt für einen Daimler entscheiden? Wird er Kohle schleppen oder lieber den Heizkörper aufdrehen? Wer sagt, dass Fortschritt nur eine gültige Kategorie sein kann, wenn sie jeden erdenklichen Belang abdeckt, wo nicht einmal heutzutage Einigkeit darüber besteht, was in diese Kategorie fällt und was nicht? Man kann geteilter Meinung darüber sein, was Fortschritt sei. Mein Fortschritt muss nicht dein Fortschritt sein. Dennoch streben wir ihn alle an.

Die Überlebensformel des Menschen heißt: Fortschritt — Bedürfnisse entwickeln und befriedigen, mit denen immerzu aufs Neue, eine Verbesserung der Lebenslage angestrebt wird. Das bedeutet zwangsläufig, dass Menschen in einen Wettstreit um den Fortschritt eintreten, da es sich nicht vermeiden lässt, dass ihre Strategien der Bedürfnisbefriedigung in Konflikt geraten.


Freiheit ist Politik

Ein politikfreier Raum, eine um Politik bereinigte Welt ist weder möglich noch wünschenswert. Schließlich sind totalitäre Systeme ja nichts anderes als Versuche, die Gesellschaft von Politik zu befreien, sieht man von der Befrieidgung der politischen Bedürfnissen der herrschenden Kräfte ab. Insofern als man eine radikal depolitisierte Gesellschaft zu erzwingen trachtet, wird es sich um ein labiles und schließlich zum Scheitern verdammtes Projekt halten.

Es ist der zentrale Irrtum und letztlich auch die Todesursache des klassischen Liberalismus,  sich anzumaßen, eine Welt schaffen zu wollen, in der Politik ein beengtes Nischendasein zu fristen hat. Freiheit ist dagegen die Entfesslung des Politischen in der gesamten Bevölkerung.

Freilich hat John Dewey wohl Recht, wenn er in den Worten von Hilary Putnam erklärt:

Das Dilemma, dem die klassischen Verfechter der Demokratie gegenüberstanden, ergab sich deshalb, weil sie alle von der Voraussetzung ausgingen, daß wir über unser Wesen und unsere Fähigkeiten schon bescheid wissen. Dewey dagegen vertritt die Ansicht, daß wir weder unsere Interessen noch unsere Fähigkeiten kennen, ehe wir uns wirklich am politischen Geschehen beteiligen. (Putnam, H. (1997) Für eine Erneuerung der Philosophie, Reclam, Stuttgart, S. 238)

Auch hier eine interessante Parallele im Denken Deweys zu meinen eigenen Überlegungen, in denen ich unter anderem die sinnstiftende Funktion der Politik hervorhebe. Wir betreiben Politik, um herauszufinden, wer wir sind, wofür wir stehen, was wir wollen.

Siehe Politik (2) - Politik zwischen politischer Knappheit, Sinnstiftung und Macht

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