Thursday, 26 May 2016

Gegen Nagel

Image credit. The depicted part of the building bears a resemblance to the kind of tension that we are exposed to in a free society of extensive political emancipation. Its openness is liberating with light and vista, but then it may feel overwhelming owing to the vastness of perspective. The generous space may fill up with sun and warmth or leave one with a sense of coldness, exposure or detachment. Another ambiguity may be described as "contrived geometry versus nature," with the outside and the inside either accommodating each other or standing in alien juxtaposition.


... daß es das Ziel unserer politischen Theorie sein sollte, auf einer bestimmten Ebene letztlich der Einhelligkeit so nahe wie möglich zu kommen: einem Einvernehmen nämlich im Hinblick auf die Unterhaltung jener gesellschaftlichen Einrichtungen, in die man dann hineingeboren wird und die uns mit Zwangsmitteln auferlegt werden.

Eine solche These mag als extravagant oder gar unverständlich erscheinen, insofern das Fehlen von Einvernehmlichkeit ja gerade das Wesen des Politischen auszumachen scheint, doch werde ich sie in diesem Buch verteidigen ...

Das unverfälschte Ideal politischer Legitimität beinhaltet, daß jeder einzelne Bürger den Gebrauch staatlicher Macht muß billigen können — nicht etwa unmittelbar oder bis in die letzten Einzelheiten, sondern kraft seiner prinzipiellen Zustimmung zu jenen Rechtsgrundsätzen, Institutionen und Verfahrensnormen, die festlegen, wie solche Herrschaft eingesetzt wird. Dergleichen verlangt die Möglichkeit eines hinreichend hohen Niveaus einvernehmlicher Affirmation, denn sobald es in einem Staat Bürger gibt, die wider die Art und Weise, auf die staatliche Macht gegen sie eingesetzt wird, ein berechtigtes Veto geltend machen können, wird dieser Staat illegitim.

Es mag nicht unrichtig sein, wofür Thomas Nagel hier plädiert; dennoch missfällt mir eine Verwerfung, die unter der Oberfläche seines Arguments verborgen liegt: nämlich jene Konformität, mit der er sich einreiht in  das schier endlose Spalier jener Philosophen, die das Ideal der mit dem Namen John Rawls verknüpften, sich selbst feierenden Renaissance der politischen Theorie nachbeten. 

Die übergreifende Ambition dieser politischen Theorie findet Ausdruck in der Suche nach einer, und sei es nur heuristisch verwertbaren "Einhelligkeit" des politischen Gemeinwesens. 

Natürlich müssen wir uns nicht darüber streiten, dass Konvergenz der Standpunkte ein - in vielen Zusammenhängen berechtigtes - Grund-Desideratum der Politik ist. Es ist aber gerade die, von Nagel abermals beschworene Bindung der politischen Theorie an diesen trivialen Wunsch - wobei der Wunsch, nicht seine Verwirklichung trivial ist -, die sie in die Irre führt bzw. auf der Stelle treten lässt. Denn die Effektivität, mit der es uns gelingt, ein unverzichtbares Minimum an Konvergenz und Verträglichkeit der Standpunkte in einer politischen Ordnung zu erzielen, hängt entscheidend von dem ab, wovon die politische Theorie wegen ihrer Fixierung auf "Einhelligkeit" absehen muss: dem Grundtatbestand der Nichtübereinstimmung in politischen Gemeinschaften und seine Tauglichkeit als Ideal — und zwar als das grundlegendere Ideal verglichen mit dem Ideal der Einhelligkeit. 

Fundamentale Meinungsunterschiede sind, da stimme ich Nagel zu, gewissermaßen das Element, in dem die Politik zuhause ist. Aus modern-humanistischer Sicht könnte man sagen, dass wir Politik betreiben, um insofern Einheitlichkeit herzustellen, als wir es anstreben, dass alle maßgeblichen Parteien die Ideen und Absichten teilen oder immerhin zulassen mögen, von denen die Verwirklichung unserer Ziele abhängt. In Zeiten kruderer politischer Gesinnung, reichte es schon, dass Widerstand zwecklos oder unmöglich war, wobei die Mittel, die dies bewirkten, ziemlich brutal, gemein und unmoralisch sein konnten. Heute ist Politik Werbung bei den (potentiellen) Gegnern und den Indifferenten, die dafür sorgen soll, dass unsere Wünsche verwirklicht werden können. Sie baut Widerstände ab und organisiert Unterstützung. Sie nimmt Einfluss auf Andere, damit wir handeln können, wie es uns vorschwebt. Die Anderen zählen eben. Und das ist die Crux. 

Deswegen ist es irrig, Einhelligkeit in den Mittelpunkt der politischen Grundlagenforschung zu stellen, wie Ernst Nagel es fälschlicherweise in schöner Eintracht mit den Adepten des Rawlsianismus tut. 

Die Anderen, Ernst zu nehmen, bedeutet, unüberwindliche Meinungsverschiedenheiten, Ernst zu nehmen. Daher kann das Ideal der Politik nicht in Einhelligkeit bestehen, sondern darin, eine wünschenswerte (z.B. eine friedliche und wohlhabende) Gesellschaft zu befördern, trotz und, ja, mit Hilfe gerade der Uneinheitlichkeit, die unter den Menschen unweigerlich auftritt, wenn wir sie alle in der Vielfalt der ihnen zugestandenen Handlungsoptionen Ernst nehmen.

Und genau dies ist die zentrale Aufgabe oder — je nach dem Blickwinkel, den man wählt — das Erscheinungsmerkmal der Freiheit: das Gestalten der Uneinheitlichkeit als Produktivkraft.

Der ideelle Gravitationskern der Einhelligkeit hat sich in der politischen Theorie als fossiles Überbleibsel aus der Zeit des Rationalismus eingelagert. Die Sehnsucht nach Einhelligkeit hat viel mit philosophischer Selbstbefriedigung zu tun und wenig mit den realen Bedingungen, unter denen sich Menschen, die seit der Neuzeit nolens volens über große Freiräume verfügen, an einander anpassen.

Die Bewältigung dessen, was uns trennt, bedarf nicht einer einheitlichen Theorie von der vermeintlichen Möglichkeit und Notwendigkeit eines fundamentalen Konsens. Was wir in Wahrheit benötigen, um die Spannungen auszuhalten, welche die ideologischen und interessengesteuerten Unterschiede zwischen uns auslösen, sind gewachsene Traditionen, die Kraft des Bewährten, die immer wieder gemachte Erfahrung, dass wir uns trauen können, obwohl wir politische Gegner in dieser oder jener Angelegenheit sind, Einrichtungen des Zusammenlebens, in die wir längst hineingeboren sind, Institutionen, die dafür sorgen, dass wir erträglich miteinander auskommen, obwohl wir nicht handeln, als leiteten uns durchweg oder größtenteils (a) widerspruchslose Prinzipien, die überdies noch (b) uns allen einsichtig sind und unser aller Verständnis und Zuspruch genießen.


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