Friday, 27 May 2016

Zur politischen Anthropologie der Freiheit (1) — Eine Zwischenbetrachtung

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Ich bin ein wenig hängen geblieben bei der Niederschrift des Kapitels über 'Politics'. Deshalb möchte ich mir in diesem Post Klarheit verschaffen über ein paar Strudel und Untiefen, die mich im Flussbett meiner Argumentation ins schlingern gebracht haben.

Politische Anthropologie

Wenn die Anthropologie die Grundbedingungen des Menschseins untersucht, welche Aufschlüsse liefert dann die politische Anthropologie über den Menschen als politisches Wesen?

Die Anthropologie gibt uns eine Vorstellung davon, dass der Mensch immer schon ein Geschöpf der Freiheit ist, zugleich aber stets auch ein soziales Wesen. Der Mensch ist ein Gewebe, das als ein vom Hintergrund abgehobenes Muster kenntlich wird, indem sich in ihm besondere soziale Beziehungen verdichten. Einerseits also ist die Identität des Menschen eine aus sozialen Beziehungen gewobene Struktur. Andererseits verfügt das Individuum über eine so hohe Intelligenz, dass es (i) ein ausgeprägtes Bewusstsein seiner selbst besitzt, (ii) in der Lage ist, sich als selbstständiges Element von seiner sozialen Umgebung zu unterscheiden und (iii) diese von sich aus, also als ein Merkmal seiner persönlichen Besonderheit, in Frage zu stellen und zu verändern. So ergibt sich ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum, das gewoben ist aus sozialen Fäden, welche es aufs Engste mit seiner Gemeinschaft buchstäblich verknüpfen, einerseits, und der menschlichen Einzelperson, der die Fähigkeit anhaftet, neuartige, vom Bestehenden abweichende Verknüpfungen mit ihrer Umgebung in Geist und Tat zu verfolgen.

Politik - Einflussnahme auf das sozial Gültige

Aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich das Zeitlose im politischen Streben des Menschen. Das soziale Umfeld vereinnahmt den Menschen, indes dieser wiederum Einfluss zu nehmen sucht auf die sozialen Beziehungen und Bedingungen, die ihm formend und zwangausübend auferlegt sind. Politik ist Einflussnahme auf das sozial Gültige, ob in der Zweier-Beziehung, in der Gruppe oder in einem noch viel größeren Verband, wie dem Nationalstaat.

Der Mensch ist der geborenen Gruppenabweicher — ein Abweicher von der Gruppe aber auch ein Angehöriger einer Gruppe, die abweicht. Denn seine Intelligenz ist derart, dass er in der Lage — man kann auch sagen: gezwungen — ist, sich und seine Umwelt aus einer Perspektive wahrzunehmen, die abweicht von der Perspektive anderer Individuen oder dem Blickwinkel, der in sozialen Konventionen unterstellt und vorgegeben wird.

Sprache und Objektivität

Das hohe Unterscheidungsvermögen des Menschen und sein differenziertes Problembewusstsein, letzteres wiederum Voraussetzung für Kreativität bei der Lösungssuche, ist auf dezentrale kognitive Leistungszentren verteilt, die der Individualität und Relativität ihres Standpunkts wegen ungleiche Bilder von der Welt projizieren. Aufgrund des besonderen Leistungsvermögens der menschlichen Sprache können diese dezentralen kognitiven Leistungszentren sich auf einander beziehen, dergestalt, dass sie, ohne ihre Individualität zu verlieren, von einander lernen, eben auch durch Fremd-Kritik. Wegen seiner sprachlichen Kompetenz ist der Mensch nämlich dazu imstande, die in ihm eingeschlossene Subjektivität, seine persönlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Gedanken zu objektivieren, d.h. zum Objekt der Beurteilung und Bewertung durch andere Subjekte zu machen. Die Objektivität, zu der der Mensch einzigartig befähigt ist, die Öffnung und der Austausch der hermetischen Subjektivität des Tieres macht den Menschen zum Menschen, lässt ihn beitragender Nebenfluss und Nutznießer einer Hyperintelligenz werden, die das Produkt eines kollektiven Austauschprozesses ist, der die Spezies spätestens seit der Aufklärung und dem weltweiten Durchbruch der modernen Naturwissenschaften in ihrer Gesamtheit erfasst. Auf der tiefsten anthropologischen Ebene, dort wo sich entscheidet, was menschlich ist, beobachten wir also bereits eine intime Verzahnung zwischen Individualität und sozialer Einbindung. Die enorme persönliche Intelligenz des Menschen aber auch die Lernfähigkeit seiner Spezies als Ganzes sind das Resultat eines Zusammenspiels zwischen individueller kognitiver Leistung und sozialem Erfahrungsaustausch. 

Die menschliche Sprache unterscheidet sich von der anderer Tiere dadurch, dass sie bewusst entworfene und hoch differenzierte Beschreibungen zulässt. Wer detaillierte Beschreibungen liefern kann, der produziert unweigerlich auch unterschiedliche und unterschiedlich deutbare Beschreibungen. Die Beschreibung dieser Unterschiede führt zur Entwicklung differenzierter Kategorien und Techniken des Unterscheidens zwischen "wahr" und "falsch". Das wiederum begründet die einzigartige Fähigkeit des Menschen gehaltvoll zu streiten, lernend zu argumentieren und intellektuell zu wetteifern — ein Hebel, der die Qualität des gemeinsam erworbenen Wissens und die Wirksamkeit gemeinsamer Projekte verstärkt, ebenso aber auch die Neigung zur individuellen Abweichung und zur Streitbarkeit.

Überleben durch Bedürfnis-Erzeugung

Aus leicht verschobener Perspektive erweist sich, dass der Mensch aufgrund der sozialen und der persönlichkeitserweiternden Konsequenzen seines sprachlichen Austauschvermögens eine der Spezies eigentümliche Form des Überlebens entwickelt: der Mensch passt sich seiner Umwelt an, indem er sie durch das Entdecken neuer Bedürfnisse und durch sein Trachten, diese Bedürfnisse zu befriedigen, verändert und zwar so, dass sie sich seinen Bedürfnissen desto besser anpasst. Dies ist eine natürliche Folge des ausgeprägten menschlichen Vorstellungsvermögens, das mit dem Aufkommen der beschreibenden und der argumentativen Funktion der menschlichen Sprache Dimensionen erschließt, die weit über das hinaus gehen, was durch den Rahmen der Instinkte abgesteckt ist. Das Ausüben von Kreativität und Individualität in der beschreibenden Auseinandersetzung mit der menschlichen Lebenswelt, und die Erfahrung von Abweichung und Kritik beim Abgleich von Beschreibungen begründen einen Bereich der menschlichen Imagination, in dem das bloß Gegebene längst nicht mehr trennscharf zu unterscheiden ist von den Gebilden der Einbildungskraft. Der Mensch wird zum Erzeuger von Visionen. Und zwar von Visionen, die der denkbar schärfsten Prüfung ausgesetzt sind, dem Test durch die Sichtweise und die Erfahrungen jedes anderen Mitglieds der Spezies. Immer schwingt die Spannung mit, die sich zwischen Individuum und Gemeinschaft aufbaut und entlädt. Durch seine Kritik und sein abweichendes Tun prüft das Individuum die Gemeinschaft in unzähligen Einzelbeiträgen und gelegentlich im epochalen Alleingang, indes gleichzeitig die Gemeinschaft das Individuum und seine zahllosen Einzelbeiträge daraufhin durchtestet, ob es sich konform und tolerabel gebärdet.

Die Einflussnahme des Individuums auf die Gemeinschaft - Kern des Politischen - ist also fest eingebaut in den Bedingungskranz des Menschseins, ebenso wie die soziale Kontrolle des Einzelnen und seine Unterwerfung unter das Regime der seinem Handeln in einer Gemeinschaft zugestandenen Optionen.

Der Mensch ist ein politisches Tier.

Kulturelle Evolution

Die Befähigung des Menschen zur Objektivität, wie diese oben erläutert wurde, ist gleichbedeutend damit, dass der Mensch sich in gewisser Hinsicht eine eigene Variante der Evolution heranzüchtet: die kulturelle Evolution. Die wichtigste Konsequenz der menschlichen Objektivität ist eine beispiellose Lernfähigkeit, die sowohl dem Individuum wie der Spezies zugutekommt.

Dank der kulturellen Evolution spielen sich Veränderungen desto schneller ab, ungleich schneller als in der genetischen Evolution. Da sie durch Lernfähigkeit angetrieben wird, fügt sie eine weitere neuartige Ebene im Verhältnis der Menschen untereinander und im Umgang mit ihrer Umwelt hinzu: das Vermögen, sich der Umwelt anzupassen, gezielt Einfluss auf sie zu nehmen, erfährt selbst eine evolutionäre Entwicklung. Die kulturelle Evolution lehrt den Menschen, in seine Umwelt einzugreifen. Das heißt, bei allen Irrtümern und bei all den Gefahren des Missbrauchs derartiger Eingriffe, es sammelt sich im Arsenal der menschlichen Geschicklichkeit ebenfalls eine hohe Kunstfertigkeit an, die den Menschen instande setzt, seine Umwelt mit Bedacht und Verstand in seinem Sinne zu verändern.

Seit jeher heißt "laissez faire" eben auch "lasst sie eingreifen".

Das also sind die anthropologischen Bedingungen des politisch handelnden Menschen.

Im nächsten Schritt, dann wohl wieder im Rahmen des englischen Texts, gilt es fundamentale Kategorien des Politischen aus diesen Grundtatbeständen zu entwickeln — ich denke insbesondere an die Kategorie der politischen Knappheit.

Fortgesetzt hier.

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