Sunday, 24 April 2016

Theorie und Praxis

Image credit. Kirchen - versteinerte Theorie der Baumeister und, tiefer noch, der unentrinnbaren Religiosität des Menschen, der die Welt erschafft, indem er sie sich erträumt, seine Einbildungen hineinwirkt in das widerspenstige Material überall um ihn herum, worin die Natur mit ihrer ganzen Feindseligkeit lauert.


Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

Theoretiker versus Praktiker

Wer kennt ihn nicht? Den Zwist zwischen "Praktikern" und "Theoretikern". Ich meine insbesondere die fast volkstümliche Weisheit, wonach ein Zuviel an Theorie Ursache für Missstände ist, die mit mehr Sinn fürs Praktische zu vermeiden wären.

Schon Goethe warnte, alle Theorie sei grau.

Mein Leben lang habe ich solche und ähnliche Einwände gehört; nicht selten mit einem gewissen Unbehagen - zum Teil, weil diese Theorie-Skeptiker etwas trafen, was man mir oder anderen "Theoretikern" in diesem oder jenem Fall zu Recht vorwerfen konnte, zum Teil, weil sie in anderen Fällen mit Ihren Einwänden schlechterdings Unrecht hatten und zum Teil — und das ist, was ich hier erklären möchte —, weil sie ihre Bedenken, auch dann, wenn sie berechtigt sind, in unzutreffender Weise vortragen — aus Mangel an Theorie.

Ein Freund, ein guter Freund ...

Kürzlich, während eines Telefonats mit einem guten alten Freund, klang dieses Theorie-Thema wieder einmal an. Mein Freund, einer der Väter des modernen Börsenwesens in Deutschland, ist ein ausgezeichneter Theoretiker im wissenschaftlichen Sinne und ein großartiger Praktiker, auch insofern, als er in der Lage ist, kommerzielle Projekte mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Voraussetzungen erfolgreich durchzuführen. 

Vermutlich sieht er sich selbst dennoch in erster Linie als Praktiker. Jedenfalls beschrieb er in unserem Telefonat die richtige Balance zwischen vita contemplativa und vita activa in etwa sinngemäß als "3 Gramm Theorie" und "5 Tonnen Praxis".

Wie gesagt, ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der ein besseres Händchen hat für die richtige Mischung aus "Theorie" und "Praxis". Dennoch behaupte ich, dass er sich falsch ausdrückt — streng genommen. Und diese Inakkuratesse ist philosophisch interessant.

Die scheinbare Gegensätzlichkeit von Theorie und Praxis

Doch was überhaupt ist Praxis? Was ist Theorie? Differentialrechnung ist Theorie. Salami in Scheiben schneiden ist Praxis. Das ist so in etwa, wie man den Unterschied zwischen den beiden Kategorien empfindet.

Der Unterschied ist jedoch in gewisser Weise trügerisch. Grob gesagt, ist es so, dass wir uns bei der Differentialrechung der theoretischen Betätigung, zu der sie uns veranlasst, bewusst sind. Beim Salami-Schneiden jedoch fehlt uns meist ein derartiges Bewusstsein.

Wer sich jemals beim Schneiden einer Salami einen blutigen Finger geholt hat, mag vielleicht eine Ahnung davon verspüren, dass es bessere und schlechtere Theorien des Salami-Schneidens gibt. Bei Alltagsverrichtungen freilich fällt es uns selten ins Auge, dass praktische Verbesserungserfolge immer durch Theorieanpassung eingeleitet werden — wir ändern die Art, wie wir über etwas denken. Wir bemerken die Führungsrolle der Theorie eher, wenn wir mit weniger alltäglichen Herausforderungen konfrontiert werden - zum Beispiel, wenn wir danach suchen, welcher Fehler uns beim Lösen einer Gleichung unterlaufen ist.

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie

Ob Differentialrechung oder Salami-Schneiden — bei beiden Aktivitäten könnten wir zu keinen vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn wir darauf verzichten würden, unser Tun durch angemessene Theorien zu lenken — gleichgültig, auf welche Weise wir die theoretischen Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln erworben haben, ob durch Zufall, Belehrung, Imitation oder akribisches Studium und eigenes Entdecken.

Derjenige, der "zuviel Theorie" moniert, hat mit diesem Vorwurf letztlich nur dann Recht, wenn seine zumindest implizite Behauptung stimmt, dass man törichterweise eine weniger gute Theorie einer besseren vorzieht.

Ich hatte einmal den Auftrag, ein Optionspreismodell (zur Berechnung von Options- und Wandelanleihen) zu entwickeln. Ehrgeiz und Pflichtgefühl verleiteten mich, diese Aufgabe zu lange in Eigenregie zu verfolgen. Einem Kollegen von mir, der sich rühmte, ein "Praktiker" zu sein, wurde es schließlich "zu bunt", auf meine Ergebnisse zu warten. Er besorgte sich kurzerhand von Freunden bei anderen Banken bewährte, wenn auch nicht allzu exakte Modelle, die für eine Weile recht gute Dienste zu leisten schienen bei unserer Arbeit in der Konsortialabteilung. Mein Kollege hatte damals die bessere Theorie, ich hatte die schlechtere — vor allem hinsichtlich der Methode, mit der das gewünschte Ergebnis schnell und unter verhältnismäßigem Aufwand erzielt werden konnte.

Seine "praktische" Lösung, sich auf ein "abgeschautes" Modell zu verlassen, das keiner von uns wirklich gut verstand, hatte jedoch bald verheerende "praktische" Folgen in Form kostspieliger "Mispricings". Es zeigte sich nun, dass es "praktischer" war, stärker auf Theorie zu setzen — und so kam es denn auch, dass die Banken bald theoretische Physiker einstellten, um besser zu verstehen, worauf sie sich bei Optionsprodukten einließen.

Inzwischen ist viel Wasser den Main bei Frankfurt herabgeflossen und man kann erhebliche Zweifel bekommen über die Tauglichkeit der Theorien, mit denen die aus der Physik abgewanderten "eggheads" damals zu jonglieren begannen. Es spricht einiges dafür, dass das theoretische Handwerkszeug, mit dem die neue Generation wissenschaftsbewehrter Banker eifrig zu Werke gehen sollte, wie z.B. die Theorie effizienter Märkte, kräftig mitgeholfen hat, uns die Great Financial Crisis von 2007/2008 einzubrocken.

Die Wahl ist zwischen Theorie und Theorie - nicht zwischen Theorie und Praxis

Meine Hauptthese lautet daher: wir haben nicht die Wahl zwischen Theorie und Praxis, wir haben immer nur die Wahl zwischen guter und weniger guter Theorie.

Des Pudels Kern ist dies: Wir können die Welt nur sinnvoll wahrnehmen, wenn wir theoretische Vorarbeit leisten. Wir sind von Natur aus voreingenommen — wir begegnen der Welt mit theoretischem Dünkel. Ohne diese Vorleistungen würde nichts um uns herum Sinn ergeben.

Karl Popper hat diese These den Schülern einer Klasse einmal auf folgende Weise nahe zu bringen versucht. Er zeigte ihnen einen Bleistift, forderte sie auf, diesen Gegenstand sehr genau zu untersuchen und verließ dann das Klassenzimmer mit den Worten:

"Jetzt analysieren Sie bitte den Bleistift; in einer halben Stunde kehre ich zurück, um Ihre Resultate zu benoten."

Wie würden Sie auf eine derartige Aufforderung reagieren?

Poppers Schüler waren verwirrt. Sie wussten nicht, was eigentlich von ihnen erwartet wurde.

Warum waren sie verwirrt?

Ohne Theorie — nix los

Sie hatten keine Theorie.

Ohne Theorie — keine geordneten Erwartungen. Ohne Theorie — keine Unterscheidungen, die uns helfen, ein Problem von einem Nicht-Problem zu unterscheiden. Ohne Theorie — keine Abgrenzung von Relevantem und Irrelevantem. Ohne Theorie — kein Unterschied zwischen Thema und Nicht-Thema.

Unterscheidungsvermögen ist die grundlegendste Ressource jeglicher Intelligenz, wie elementar sie auch sei. Doch ohne Annahmen, über das, was wir erleben, ist es unmöglich sinnvolle, orientierende, lehrreiche Erfahrungen zu machen. Wir begegnen der Welt, indem wir Vermutungen über sie anstellen.

Wir stehen nie in direktem Austausch mit "der Praxis".

Was wir Praxis nennen sind Gewohnheit gewordene Zusammenfassungen von Tests, in denen wir mit theoretischen Varianten spielen, um ein klareres Bild davon zu bekommen, was um uns vor sich geht.

Schüler und Amöben - der Primat des Theoretischen

Es ging den verblüfften Schülern nicht anders als den einfachsten Organismen, den Amöben, von denen der gleiche Karl Popper behauptet, dass sie wie alle Lebewesen, die über Bewusstsein verfügen, zuerst Theoretiker sind, bevor sie als Praktiker aktiv werden.

Die Amöbe verfügt über gewisse kognitive Dispositionen, Neigungen, x auf eine bestimmte Weise zu deuten und nicht auf eine andere. Zur theoretischen Ausstattung der Amöbe gehört es, dass sie annimmt, Licht sei gut, Wärme sei gut, Dunkelheit sei schlecht und Kälte sei schlecht. Sie hat ein theoretisches Modell, ein System theoretischer Annahmen, mit dessen Hilfe sie überhaupt erst Orientierung findet zwischen den Reizen, denen sie im Leben ausgesetzt ist.

Popper verwendet dieses Beispiel auch, um hervorzuheben, dass der Mensch die Fähigkeit erlangt hat, seine Theorien an seiner Statt umkommen zu lassen. Die Amöbe hingegen kommt selbst um, wenn ihre Theorien nicht "hinhauen".

Wichtig am Popperschen Amöben-Beispiel ist für meine Zwecke, dass wir keine Wahl haben zwischen Theorie und Praxis, sondern immer nur zwischen dieser und einer anderen Theorie, vielleicht einer verbesserten, uns dienlicheren Theorie. Wir kommen gar nicht erst in die Verlegenheit, ohne Theorie zu handeln, denn wir folgen theoretischen Annahmen, die unserem Tun vorausgehen müssen, um ihm eine Ordnung zu geben.

Das Besondere am Menschen

Der Mensch unterscheidet sich von anderen Tieren darin, dass es ihm gelingt, aus der Verbesserung  der ihn lenkenden theoretischen Annahmen eine systematische fortschrittserzeugende Betätigung zu machen. Andere Tiere haben nur einen geringen Spielraum, innerhalb dessen sie die theoretischen Modelle, anhand derer sie sich in der Welt bewegen, zu ihren Gunsten verbessern können. Deshalb haben Rehe keine Zentralheizung.

Was ich an meinen philosophischen Spitzfindigkeiten in Sachen Primat des Theoretischen besonders interessant finde, sind die Implikationen für unser Menschenbild.

Im Rahmen meiner Arbeiten zum Thema Freiheit habe ich eine anthropologische Theorie entwickelt, derzufolge der Mensch sich von anderen Tieren immer stärker zu unterscheiden beginnt, indem er das Problem der Umweltanpassung, das sich allen Tieren stellt, mit einem völlig neuen und unter allen zoologischen Spezies einzigartigen Komplex an Verhaltensoptionen angeht.

Der Mensch passt sich an seine Umwelt an, und der Mensch schafft es zu überleben,

indem er neue Bedürfnisse 
  • entwickelt, 
  • zu befriedigen versucht 
und in vielen wichtigen Fällen tatsächlich auch 
  • zu erfüllen lernt.

Entscheidend hierbei ist, dass der Mensch, bewusst oder nicht, seine Theorien insofern wie die übrige Umwelt behandelt, als er sie ständig neuen Bedürfnissen anzupassen versucht und somit unentwegt an ihnen "herumbastelt", sie Härtetests unterzieht, immer auf der Suche nach der Befriedigung neuer Bedürfnisse, die sowohl wissenschaftlicher als auch unmittelbar lebenspraktischer Art sein können.

Diese Erkenntnis ist von großer Tragweite, denn sie verhilft uns zu einem völlig neuartigen Verständnis der Rolle, die der Mensch in der Natur einnimmt.

Es gibt keine natürlichen Rohstoffe - nur solche, die der Mensch erzeugt

Wäre unser Planet unbewohnt von Menschen, so gäbe es auf ihm keine Rohstoffe. Erst die einzigartige menschliche Fähigkeit, neue Bedürfnisse zu entwickeln und deren Befriedigung mit viel Energie, Kreativität und Geschick anzustreben, verwandelt gleichgültige Naturgegebenheiten in Rohstoffe, aus denen sich weitere Stufen der menschlichen Bedürfnisbefriedigung entwickeln lassen.

Die erstaunlichste Lehre, die sich aus diesem Umstand ableiten lässt, besteht darin, dass die Rohstoffe dieser Erde unbegrenzt sind. Solange der Mensch seiner typisch menschlichen Veranlagung folgt, durch Bedürfnis-Neuerung zu überleben, solange wird er immerzu neue Rohstoffe entdecken oder ersinnen. Eine bestimmte Art von Öl in einer bestimmten Form der Verarbeitung mag sich als endlich herausstellen - und das Gleiche gilt für jeden anderen menschengeschaffenen Rohstoff - aber die Ur-Neigung und immer weiter entwickelte Fähigkeit des Menschen, sich durch Bedürfnis-Neuerung der Umwelt anzupassen ist der einzige Quelle von Rohstoffen und dieser Quell, das Ingenium des Menschen, unterliegt keinen absoluten Knappheitsbedingungen.

Aus diesem Grunde ist fortwährendes Wirtschaftswachstum die natürlichste Bedingung des menschlichen Daseins und ein Prozess, dem der Mensch par excellence angepasst ist. Deshalb ist die Geschichte der Menschheit nicht eine Geschichte der Naturzerstörung und der Verarmung unserer Gattung, sondern umgekehrt eine Geschichte der fortwährenden Aufwertung der Umwelt, der kontinuierlichen Ausweitung und Verbesserung unserer Ressourcenausstattung sowie des wachsenden Wohlstands unserer eigenartigen Spezies.

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