Monday 13 February 2017

Wissen (15 b)





Interaktive Hyperintelligenz, Wissen ohne Subjekt, agiertes, polyzentrisches und sedimentiertes Wissen



Wir haben in diesem Kapitel bereits gesehen, dass die Art wie wir über (un)zulässige Macht und (un)angemessene Formen staatlichen Handelns denken, sehr stark beeinflusst ist von unseren mehr oder weniger vagen Vorstellungen, von dem, was Wissen ist, wie es zu Stande kommt und welche Rolle es im Getriebe einer Gesellschaft spielt oder spielen sollte. So kann es sein, dass Menschen sich mit den besten Absichten für problematische Formen des Regierens und der Gestaltung des Miteinanders stark machen, nur wegen eines verzerrten Bildes von der Art, wie Wissen in einer modernen Gesellschaft wirkt. Die Vorstellung von Staat und Regierung als Lenker und Vordenker der wesentlichen Geschehnisse in einer Gesellschaft erfreut sich großer Beliebtheit, weil Politiker und Öffentlichkeit der gleichen einseitigen und verkürzten Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion des Wissens zuneigen.



Im ersten Kapitel haben wir uns mit unterschiedlichen Formen von Ordnung befasst. Welche Formen von Ordnung wir für möglich halten und wahrzunehmen in der Lage sind, hängt in starkem Maße davon ab, wie wir das Zustandekommen von Wissen und sein Wirken im Geflecht der gesellschaftlichen Zusammenhänge einschätzen. Jedes Individuum ist unentwegt damit beschäftigt, Ordnung zu schaffen. Es bedient sich dabei seines Verstandes. Mit größtem Erfolg nutzt und erzeugt der menschliche Verstand unentwegt explizites Wissen von der Art 1 + 1 = 2, oder Wenn ich X tue, dann passiert Y. Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass auch Ordnung in den gesellschaftlichen Belangen nur durch die ordnungsstiftende Verwertung expliziten Wissens zu gewährleisten ist. Wenn wir deshalb die Art, wie wir in unserem alltäglichen Leben Wissen verwenden, um unserem persönlichen Dasein eine zuträgliche Ordnung zu geben, als das Modell ansehen, anhand dessen Ordnung in einer Gesellschaft mit Millionen von Menschen entsteht, dann ist es zwingend logisch, die Geschehnisse einer Gesellschaft durch eine intelligente Autorität steuern zu lassen. Weil die Macht des Denkens für uns jeden Tag in so vielen wichtigen persönlichen Belangen erfahrbar ist, neigen wir dazu, sie stärker zu bewerten, als das kritische Denken über die Macht, über ihre prekären Grenzen und Gefahren.



Doch es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich eine Gesellschaft durch explizites Wissen abbilden und lenken lässt. Das Pulsieren des gesellschaftlichen Miteinanders beruht in noch viel größerem Maße auf der Formierung, dem Austausch und der Verwertung von Wissen, das nicht nur anders geartet ist als explizites Wissen, sondern für sein Wachstum, seine Verbreitung und seine Speicherung auch anderer Medien bedarf, als dem Medium des individuellen Verstandes. Das uns gewohnte, explizite Wissen ist nur ein Typ und eine Zustandsform unter vielen anderen Arten des Wissens. Und Wissen in all seinen Formen ist wiederum nur ein kleiner Bestandteil jener Kräfte, die die Entwicklung unserer Gattung und ihrer Gesellschaftsformen vorantreiben. Es ist nicht der Verstand, der die Ordnung einer Gesellschaft in ihrer Gänze und all ihren maßgeblichen Aspekten erzeugt. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Der Verstand ist das Produkt der kulturellen Evolution, die uns unsere unentwegt veränderliche gesellschaftliche Ordnung gibt. Die Werte und zahllosen anderen Voraussetzungen, unter deren Einfluss der menschliche Verstand steht, werden von der Art, wie die Gesellschaft sich entwickelt, bestimmt. In großem Maße und in ganz entscheidenden Belangen entwickelt sich die Gesellschaft hinter dem Rücken der Menschen, völlig unbemerkt vom menschlichen Verstand. Die Evolution hat mehr Möglichkeiten als der menschliche Verstand. Sie geht ihm voraus und schafft unzählige Ordnungen, die ihrerseits den Verstand hervorbringen, erhalten und dessen Entwicklung beeinflussen - von den kosmologische und planetarischen Bedingungen des menschlichen Lebens bis zur Physiologie, den neurologischen Voraussetzungen oder den geschichtlichen Umständen unserer Gattung, die ebenfalls weder das geplante noch das planbare Erzeugnis des Homo sapiens sind.



Das Überleben der menschlichen Gattung hängt von unzähligen, uns nicht erfassbaren Faktoren ab, also nicht nur von solchen, die sich rationalisieren lassen als könne der Mensch seine eigene Entwicklung verfolgen, wie wenn er sich selbst beim Kuchenbacken zusieht. Die Entwicklung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist maßgeblich geprägt von Selektionsergebnissen, die sich auf der Ebene von Kollektivstrukturen abspielen. Mit Kollektivstrukturen meinen wir zunächst den menschheitsgeschichtlich vorherrschenden Stammesverband, die verhältnismäßig kleine Horde, später größere Menschenverbände und schließlich die Millionengesellschaft. Nicht das, was dem einzelnen Verstand in gewohnter Konkretheit, Detailtreue und Kausalität einsichtig und nachvollziehbar erscheint (am Tag x des Jahres y führten Ereignisse x, y, und z dazu, dass die Menschen sich von nun an mit Handschlag begrüßten), ist maßgeblich für die Entwicklung einer Gesellschaft, sondern der Erfolg, das Überleben, die Dominanz der Kollektivstruktur, auf die das Individuum angewiesen ist. Die Selektion auf der Ebene der Kollektivstruktur vermag Aspekte zu berücksichtigen (und unbeabsichtigte Konsequenzen zur Folge haben, sofern überhaupt Absichten im Spiele sind bei der Herausbildung überlebens- und überlegenheitssichernder Praktiken), die weit über das hinausgehen, was der individuelle, denkende Mensch weiß, wissen kann oder wissen will (z.B. wollen heutzutage viele nichts von selbstregulierenden Eigenschaften einer freien Wirtschaft wissen, oder von der Überschätzung der Einflussmöglichkeiten des Staats). Ganz zu schweigen von Möglichkeiten der praktischen Veränderung. Sie experimentiert mit den Möglichkeiten einer ganzen Gattung in all ihren physischen und theoretischen Dimensionen, und nicht nur mit den Möglichkeiten, die dem Intellekt zu bestehen scheinen oder vom Menschen absichtsvoll bewirkt werden können.



Es sind komplexe evolutionäre Prozesse, wie jene etwa, die sich in freien Märkten abspielen – wir kommen gleich dazu-, die zu den überlegenen Selektionsergebnissen führen, welche eine ausreichend anpassungsfähige, historisch führende Kollektivstruktur auszeichnen.



Zu diesen Selektionsergebnissen zählt der menschliche Verstand, der sich einstweilen als eine unter zahllosen Überlebens- und Anpassungshilfen unterm Strich bewährt hat.



Doch der menschliche Verstand, insbesondere der ausdrücklich deduktiv räsonierende Verstand, hätte sein jetziges Entwicklungsniveau nicht erreicht und könnte es nicht erhalten und weiterentwickeln, wenn es nicht Formen des Wissens und der Wissensverarbeitung gäbe, die ihm vorausgehen und solche, die ihm nicht möglich sind, und ihn wesentlich ergänzen.

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