Saturday 31 December 2016

Wissen (13)



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Von Whitehead stammt die Sentenz:



Civilization advances by extending the number of important operations which we can perform without thinking about them.



Man könnte die Aussage sinngemäß vielleicht so übersetzen:



Die Zivilisation schreitet voran, indem die Anzahl der Verrichtungen wächst, die wir durchführen können, ohne sie uns bewusst zu machen.



Wir schalten das Licht an, wir drehen die Heizung auf, wir fahren von Berlin nach Braunschweig, im Auto, in der Bahn. Normalerweise machen wir uns keine Gedanken darüber, wie diese Verrichtungen überhaupt möglich sind. Von den meisten Abläufen, die hierzu erforderlich sind, zum Beispiel ein Haus mit elektrischem Licht zu versorgen, fehlt uns jedes tiefere Verständnis. Wir lassen fremdes Wissen für uns arbeiten.



Niemand erfasst das wabernde, wachsende, sich ständig erneuernde Gesamtgebilde unseres Wissens, aber jeder bedient sich seiner, größtenteils ohne es zu bemerken.



Die große Bedeutung des tradierten Wissens



Das sokratische Diktum „ICH weiß, dass ICH nichts weiß“ soll uns auch daran erinnern, dass jeder Mensch den weitaus größten Teil seines Wissens aus der Tradition übernimmt, aus dem, was andere Menschen, lebende und verstorbene, nach und nach beigetragen haben zur Fülle an Wissensbeständen, die uns Menschen zugänglich sind.



Der große Wissensvorsprung des Menschen gegenüber anderen Tieren beruht auf seiner Befähigung zur Objektivität. Das menschliche Individuum ist in der Lage, seine subjektiven Eindrücke und Vorstellungen zum Gegenstand der Betrachtung, der Kritik und Ergänzung durch die Gedanken anderer Menschen zu machen. Er kann seine Subjektivität gewissermaßen auspacken und auf den Tisch legen, damit andere sie begutachten können. Damit wird der Wissensfortschritt zum Projekt einer gesamten Gattung, an dem zahllose Menschen und Generationen beteiligt sind. Insofern der Mensch Objektivität praktiziert, sich am Prozess der Objektivierung, dem Auspacken und Veröffentlichen des Subjektiven beteiligt, beinhaltet kreatives, kritisches, sich entwickelndes Denken zugleich auch einen Akt des Tradierens, der Überlieferung von Wissen an Andere: das Wissen des Einen gelangt in den Wissenskreislauf eines Anderen.



Es ist ein Irrtum, die Wissenskultur unserer Gattung auf das Denkvermögen des einzelnen Menschen, auf etwas, was sich im Hirn abspielt, zu reduzieren. Die Abläufe unserer Wissenskultur sind in ihrer Gänze größtenteils unsichtbar. Wir erleben unser persönliches Denken sehr intensiv, als etwas intimes, etwas sich in uns abspielendes, zu uns gehörendes. Das Denken anderer Menschen verbinden wir meist mit den Merkmalen einer persönlichen Leistung, sei es einem Redebeitrag, einer Nachricht oder einem Buch. Es ist daher verlockend, aber eben irrig und sogar gefährlich das für den Bestand und die gedeihliche Entwicklung unserer Zivilisation benötigte Wissen (und Denken) im Wesentlichen gleichzusetzen mit dem Wissen (und Denken) des Individuums. Dieser Irrtum begünstigt den naiven Rationalismus und andere Vorstellungen, die echtes, gültiges, zu befolgendes, herrschaftsberechtigtes Wissen dem entsprechend geschulten Individuum zuordnen, und letzten Endes zu einer Sache persönlicher Autorität machen.



In Wirklichkeit sind die Denkfähigkeit und das Wissen des Individuums nur ein Teil einer weitläufigen spontanen Ordnung, über die kein noch so weiser Mensch, Herrschaft auszuüben vermag. Innerhalb dieser spontanen Ordnung taugt unser Denken desto mehr, je besser es verzahnt ist mit anderen Mitteln der Wissensbildung und intellektuellen Orientierung, die sich autonom entwickelt haben und Autonomie genießen, also nicht das Geschöpf oder der Befehlsempfänger unseres Verstandes sind. 

So muss sich das Versuchswissen des Menschen (a) abarbeiten am Hindernisparcour der Welt 3, die unsere Anschauungen der unerbittlichen Disziplin von nach und nach entdeckten Fakten und Implikationen unterwirft, die unabhängig von unserem Gutdünken sind. 

Und so ist es auch nicht unser Verstand, der die menschliche Sprache erschafft, sondern (b) erst im Zuge der Evolution unserer Sprache prägen sich die Leistungsmerkmale, aber auch die Grenzen unseres Verstandes aus. Die Möglichkeiten des Verstands sind ein Geschenk, kein Eigenerzeugnis. 

Zwei weitere Gesichtspunkte gilt es zu berücksichtigen, um sich klar zu machen, dass unser Denken und Wissen in hohem Maße abhängig ist von seiner Stellung in einer großen spontanen, eben nicht menschengemachten Ordnung. Selbst die besten Früchte der Wissensbildung sind das Resultat von Prozessen, die nicht der individuellen Geistestätigkeit, sondern der Interaktion vieler Menschen und einem über das Individuum weit hinausreichenden Spiel der Anpassung an andere autonome Einflüsse entspringt, siehe Punkt (a) in diesem Abschnitt. Das gilt nicht nur für explizites Wissen, wie etwa die ausdrücklich formulierten Theorien Albert Einsteins, der, bei aller Genialität und Originalität, seine Theorien nie ohne die Überlieferung und die Einflüsse zahllose Vorgänger und Zeitgenossen hätte entwickeln können.



Dass unser Wissen eine Anpassung an einen gewaltigen endogenen, nicht von uns erzeugten Kontext darstellt, erkennt man auch am umfangreichen Gebrauch, den wir Menschen von nichtexplizitem Wissen machen. Wissen, das man sich per Imitation und intuitives Geschick aneignet, wie die Fähigkeit Fahrrad zu fahren, oder solches Wissen, in dem Erfahrungen komprimiert sind, mitunter sogar von vielen Generationen, die wir uns in Form von Gepflogenheiten oder Regeln („Du sollst nicht stehlen“) zueigen machen, ohne ermessen zu können, aufgrund welcher millionenfacher Umstände die in ihnen vermittelten Lehren zu einem stabilen Teil unserer Kultur geworden sind.



In ihrer Suche nach einer persönlichen oder einer methodischen Autorität, eben einer letzten Instanz, die ihnen verrät, wann oder dass sie Wissensgewissheit erreicht haben, verkennen die erkenntnistheoretischen Dogmatiker, das der Erkenntnisfortschritt ein offener Prozess ist, von dem niemand wissen kann, welche Einflüsse seine nächste Erweiterung- und Umgestaltungsetappe bestimmen werden und wie der neue Grenzverlauf unseres Wissen  aussehen wird. Erkenntnis entsteht aus Ungewissheit und erzeugt neue Ungewissheit. Die kritische Methode, die den Erkenntnisfortschritt vorantreibt, ist ein spontaner Anpassungsprozess im Dienste der Bewältigung einer veränderlichen Welt voller Rätsel und unvorhersehbarer Ereignisse. Erkenntnisfortschritt ist uns nur deshalb möglich, weil wir in Ungewissheit leben und fehlbar sind; weil wir es verstehen, mit unserer unüberwindlichen Wissensungewissheit und Fehlbarkeit geschickt umzugehen.



Der Traum vom sicheren Wissen ist ein verfehlter und gefährlicher Traum. Denn wenn wir Wissensgewissheit besäßen, bezöge sie sich, wegen unserer Geringfügigkeit relativ zum Universum, nur auf einen verschwindend kleinen Ausschnitt des für uns maßgebenden Kosmos. Wissensgewissheit wäre nichts anderes als radikale Borniertheit. Wir würden nicht mehr lernen, weil wir glaubten, alles bereits zu wissen.



Wir kommen gar nicht über das vorläufige Stadium eines Gedankenexperiments hinaus, wenn wir uns vorzustellen versuchen, was es bedeuten würde, Wissensgewissheit in der menschlichen Gemeinschaft zu erzielen. Denn selbst in den veränderungsfeindlichsten Stadien der menschlichen Geschichte, ist es nie gelungen, den aus Neugier, Zweifel und Ungewissheit entstehenden Drang des Menschen, bestehendes Wissen in Frage zu stellen und neues Wissen zu erproben, ganz und gar auszuschalten. Denn ohne den ständigen Ausbruch aus dem gewohnten Denken könnten wir nicht überleben. Nicht nur wissenschaftliche Expeditionen ins Reich des Ungedachten und Unversuchten verschieben die Grenze unseres Wissens. Schon der gewöhnliche Alltag verlangt von uns, dass wir ins Ungewisse hinausschreiten, dass wir unser bisheriges Wissen in Frage stellen, herausfordern, revidieren, erneuern.


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