Monday 12 December 2016

Wissen (10)



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Drei Sub-Universen des Universums – die Kosmologie des kritischen Rationalismus

(Quelle: Three World, Karl Popper, The Tanner Lecture On Human Values, Delivered at the University of Michigan, April 7, 1978 – http://www.tannerlectures.utah.edu/lectures/documents/popper80.pdf) 



Die menschliche Sprache bringt uns, aufgrund ihrer höheren Funktionsschichten, der deskriptiven, der argumentativen und der kritischen, in Berührung mit einer eigentümlichen, nur dem Menschen zugänglichen Dimension des Universums: dem Sub-Universum der Denkinhalte. Der erste, der uns diesen Teil des Universums erschloss, war wohl der deutsche Philosoph und Mathematiker Gottlob Frege (1848 – 1925), der zur Bezeichnung dieser Sphäre den heute belasteten Begriff „das dritte Reich“ verwendete. Der Fregesche Begriff hat keinerlei Bezug zur Ideologie und historischen Epoche des Dritten Reichs (1933-1945). Der Philosoph Karl Popper benutzt den Ausdruck Welt 3, um das dritte Reich Freges zu bezeichnen. Ein Sub-Universum des uns erfassbaren Universums, unterscheidet Welt 3 sich von zwei weiteren solchen Sub-Universen, Welt 1 und Welt 2, die uns viel vertrauter sind.



Welt 1 umfasst die Sphäre der physischen Objekte, der Steine und Sterne, der Pflanzen und Tiere, und anderer materieller Phänomene wie z.B. der Radioaktivität. Begrifflich klar unterschieden von Welt 1 stoßen wir auf Welt 2, das Sub-Universum der subjektiven Zustände wie sie sich in den Empfindungen, den Bewusstseinszuständen und den Verhaltensneigungen des Individuums manifestieren. Dieser Welt 2 gehören unsere Gedanken an, unsere Empfindungen, unsere emotionalen Impulse, unsere Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen, unser Befinden, die Schmerzen etwa, die wir erleiden, ebenso wie Freude und Behagen. Kurzum: Welt 2 umfasst das Reich der mentalen und psychischen Zustände und Vorgänge im Menschen, das Reich unserer subjektiven Erfahrungen.

So wie Welt 1 und Welt 2 sich voneinander unterscheiden, so sind sie auch jeweils gegen Welt 3 abgegrenzt: Welt 3 besteht aus den Erzeugnissen des menschlichen Geistes wie den Märchen, Erzählungen und religiösen Mythen, die die Menschen hervorbringen. Zum Arsenal von Welt 3 zählen wissenschaftliche Hypothesen oder Theorien (die vieles gemeinsam haben mit fiktiven Narrationen), mathematische Konstrukte, eben jede Art von schöpferischen Abstraktionsleistungen wie wir ihnen z.B. in Form von Symphonien, Gemälden und Skulpturen, Autos und Autobahnen, Dampfmaschinen und anderen Errungenschaften des Ingenieurwesens begegnen. Die abstrakten Objekte aus Welt 3 (Theorien z.B.) bilden sich in Welt 2 (Gedanken) ab und finden ihre Verkörperung oft in Welt 1 (Buch).

Zu den Elementen der Welt 3 rechnet man Hypothesen, Theorien, die Inhalte von Büchern und der logische Gehalt von Aussagen. Welt 3 umfasst somit auch die Hervorbringungen der Objektivität, also jenes Prozesses, der es uns erlaubt, unsere Ideen zum Gegenstand eines kritischen Diskurses zu machen, an dem nicht nur ein Subjekt, sondern eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl von Subjekten beteiligt ist. Welt 3 unterscheidet sich von Welt 1, der Sphäre der materiellen Gegenstände, insofern, als ihre Objekte immateriell und abstrakt sind. Dieser Unterschied ist der Unterschied zwischen einem Tisch und einem Gedanken. Welt 3 unterscheidet sich von Welt 2, der Sphäre der persönlichen Erfahrungen und Bewusstseinszustände, insofern, als sie Sachverhalte und Zusammenhänge umfasst, die unabhängig von derartigen Bewusstseinszuständen existieren. Es ist der Unterschied zwischen dem Sachverhalt, wonach 3 mal 5 gleich 15, und der persönlichen Kenntnis dieses Sachverhalts. Der Sachverhalt besteht auch dann, wenn man mit ihm nicht vertraut ist, wie es uns allen einmal erging, bevor wir die Mathematik kennenlernten.

Welt 3 ist somit autonom. Ihre Autonomie ergibt sich daraus, dass die Konsequenzen, Implikationen und gegenseitigen Zusammenhänge ihrer Elemente größtenteils nicht vom Menschen erdacht oder bestimmt werden, sondern, sofern dies überhaupt gelingt, von ihm entdeckt werden, wie andere Sachverhalte und Tatsachen, die nicht das Werk seines bewussten Strebens und Schöpfertums sind. In Gestalt der Welt 3 begegnet uns abermals eine spontane Ordnung, von der wir in der Wendung des Adam Ferguson (siehe 1. Kapitel) sagen können, dass sie das Ergebnis menschlichen Handelns ist, nicht aber das Resultat eines menschlichen Plans.

Welt 3 besteht zwar aus den Produkten des menschlichen Geistes, bei deren Erzeugung oft auch Absicht und Zielstrebigkeit im Spiele sind, wie wenn z.B. ein Mathematiker sich vornimmt, alle Eigenschaften der natürlichen Zahlen kennenzulernen. Nichtsdestotrotz führen die Ergebnisse des menschlichen Geistes auch ein Eigenleben. Der Mensch mag das System der natürlichen Zahlen kraft eigener Anstrengungen entwickelt haben. Aber wenn er sich dieses Werk seiner geistigen Bemühungen genauer ansieht, entdeckt er Vieles, was er niemals dort hineingelegt hat. Er entdeckt zum Beispiel, dass es gerade und ungerade Zahlen gibt, dass es Primzahlen gibt, dass irgendwann die unerwartete Frage auftritt, ob es eine letzte und größte Primzahl gibt, oder ob die Menge der Primzahlen endlich oder unendlich ist.

Es könnte zahlreiche Implikationen der speziellen Relativitätstheorie geben, an die Einstein nie gedacht hat. Sie mögen erst nach seinem Ableben nach und nach entdeckt werden, oder auch nie. Wären die Menschen vor 4 000 Jahren ausgestorben, gäbe es heute keine Differentialrechnung. Auch würde niemand aus Rohöl einen Stoff gewinnen, mit dem man so genannte Autos antreiben kann. Die Theorien, die Denkinhalte, die uns die Differentialrechung und den Benzinmotor gegeben haben, sind nicht weniger gültig, nur weil man erst im 19. Jahrhundert auf sie gestoßen ist, als wenn man schon vor 4 000 Jahren oder selbst heute noch nicht auf sie gestoßen wäre.

Unser Wissen ist Anpassungswissen, jedenfalls soweit es am Erkenntnisfortschritt beteiligt ist. Es ist Wissen auf Abruf. Vergänglich, revidierbar, nie sicher davor, eines Tages überholt zu sein. Denn wir sind nie sicher, was uns auf der Odyssee durch Welt 3 alles begegnen mag.

Obwohl immateriell, ähneln die abstrakten Objekte der Welt 3 in gewisser Hinsicht physischen Gegenständen. Denn wie Presslufthammer, Dachrinnen oder Ersatzreifen sind sie in der Lage, eine konkrete Wirkung auf Welt 1 (physische Objekte) und auf Welt 2 (Bewusstseinszustände) auszuüben. Sie machen bestimmte Dinge möglich (die moderne Physik oder den Bau von Wasserkraftwerken z.B.) und andere unmöglich (die Addition 2+2 = 5 oder den Verzehr von Fleisch an Freitagen durch Vertreter einer bestimmten Glaubensrichtung). Ja, sie können viel wirkkräftiger und folgenschwerer sein als Realobjekte.

Die sich über lange Zeiträume entspinnende Entwicklung des menschlichen Geistes ist maßgeblich geprägt durch den ständigen Widerstand, den unser Denken in der Begegnung mit der objektiven, autonomen Welt 3 erfährt. Der Mensch wird zum Menschen, indem er lernt, mit Welt 3 gleichsam zu kooperieren. Wir sind von Welt 1, der materiellen Welt, abhängig. Aber es ist bis zu einem gewissen Grade eine gegenseitige Abhängigkeit. Die materielle Welt wirkt auf uns ein. Wir wirken auf sie ein. Ebenso stehen wir Welt 3, der Welt abstrakter Sachverhalte, gegenüber in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit (Interpendenz).

Sie gibt uns Bahnen vor, aus denen wir nicht ausbrechen können. Sie stattet den von uns bewohnten Teil des Universums für uns mit Möglichkeiten und dem Unmöglichem aus. Aber im Rahmen dessen, können wir die Welt der Theorien auch zum Instrument unserer Zwecke machen.

Wir erproben unsere Bedürfnisse und Wünsche in Welt 3. Dort können wir unsere Theorien probeweise scheitern lassen, statt im Eigenversuch dieses Schicksal zu erleiden. Wir nutzen das Exerzierfeld der Welt 3, um besser zu verstehen, welche unserer Ziele erreichbar sind, in welchem Maße und in welchen Schritten. Wie Welt 1 und Welt 2 ist auch Welt 3 ein Bestandteil des ökologischen Habitats, das wir als Gattung besetzen. Der Mensch muss sich dem ihn umfangenden Lebensraum anpassen; dazu gehört es, Nischen zu suchen und zu gestalten, die dem Menschen gemäß sind. Die Umwelt selektiert uns. Aber wir selektieren auch unsere Umwelt.

Wir haben bereits erwähnt, dass auch Lebewesen, die in ihrer Subjektivität eingeschlossen sind, nämlich alle Tiere, denen die höheren Funktionsschichten der menschlichen Sprache fehlen, dennoch von rudimentären Theorien (Annahmen über die Welt), d.h. von angeborenen Erwartungen, instinktiven Verhaltensneigungen und elementaren Formen des Lernens, beeinflusst sind.

Doch erst beim Menschen, der zur Objektivität befähigt ist, wird der Austausch zwischen Welt 2 (dem subjektiven Bewusstsein) und Welt 3 (der Welt der theoretischen Visionen und der in ihr enthaltenen unbeugsamen Tatsachen) zum herausragenden Gattungsmerkmal, das auch nachhaltig auf Welt 1 (die physische Realität) zurückwirkt. Aufgrund dessen ist der Mensch in seinen Anpassungs- und Entwicklungsmöglichkeiten als Gattung nicht wie alle anderen Tiere fast ausschließlich von der genetischen Evolution abhängig: Ungeplant bringt er im Rahmen der größeren, kosmologisch dimensionierten Evolution eine spezielle Form von Evolution hervor: die kulturelle Evolution, die gewissermaßen als Evolutionsturbo fungiert, vermöge dessen der Mensch zivilisationsfähig wird, d.h. seine Fähigkeit, die Umwelt (natürlich nicht als Ganzes, sondern bestimmte Aspekte von ihr) zu selektieren, erreicht ein ganz neues Niveau an Durchschlagskraft. 






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