Wednesday 7 December 2016

Wissen (8)



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Sokrates - Wissenschaft und Politik

Wir haben eingangs dieses Kapitels betont, dass alle Menschen philosophische Anschauungen besitzen. Ihre Haltungen wichtigen Fragen, ebenso wie ihr konkretes Verhalten können sehr stark beeinflusst sein von diesen oftmals eher unterschwelligen philosophischen Überzeugungen. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, diese grundlegenden Strömungen unseres Denkens zu thematisieren, zu überprüfen und vielleicht in neue und geeignetere Bahnen zu lenken.

Wir wollen uns hier mit zwei wichtigen Beispielen befassen, die verdeutlichen, wie sehr wir uns in unserer Grundhaltung nach philosophischen Annahmen richten, die uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie uns kaum noch bewusst machen, geschweige denn in kritischer Manier.

So gibt es zwei sehr populäre und überaus einflussreiche Auffassungen von der Rolle des Staates und der der Wissenschaft, denen gemeinsam ist, dass sie Antwort geben auf eine falsch gestellte Frage. In seiner Staatstheorie bemüht sich Plato, die Frage zu beantworten: " Wer soll regieren?" Bis heute sind wir von dieser Frage fasziniert. Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt dem Bemühen, eine möglichst kluge Antwort auf diese Frage zu finden. Und so fällt kaum auf, dass unser beflissener Eifer einer gefährlich irreführenden Frage gilt, die, in den richtigen Kontext gestellt, eher nachrangig ist.

Irreführend ist diese Frage, weil sie eine einseitige Antwort präjudiziert. Eine Antwort, die andere, bessere Antworten von vorneherein ausschließt. Platons Frage „Wer soll regieren?“ verleitet uns dazu, eine Antwort zu finden, die ihrem Wesen nach immer autoritär sein muss. Wer soll herrschen? Die Antwort kann nur lauten: die Besten, die Weisesten, und selbst Antworten, die uns heute schmackhaft erscheinen - "das Volk soll herrschen, die Mehrheit soll herrschen" - haben in Wahrheit ihren autoritären Charakter nicht abgelegt (- ein Aspekt, den wir im Kapitel „Politik“ in großer Ausführlichkeit behandeln).

Die Frage, wer herrschen soll, ist analog derer, die von der traditionellen Erkenntnistheorie gestellt wird. "Welches ist die letztgültige Quelle des Wissens?“ Ist es der Intellekt, wie der Rationalismus behauptet? Ist es die Beobachtungsfähigkeit, wie der Empirismus behauptet? Wie immer die Antwort im Einzelnen ausfallen mag, sie ist beeinflusst von einer Annahme, die wie selbstverständlich durch die Fragestellung vorausgesetzt wird: Es muss eine letztgültige Autorität geben, die uns - politisch - die beste Regierung sein wird, oder - erkenntnistheoretisch - uns unumstößliches Wissen und wahre Wissenschaft möglich macht.

Statt uns Gedanken darüber zu machen, wer uns regieren soll, können wir uns auch mit einer anderen Frage beschäftigen: Wie können wir unsere politischen Institutionen so gestalten, dass die Staatsmacht auf sinnvolle Regierungsaufgaben und in ihrer Macht strikt und wirkungsvoll beschränkt ist, damit selbst eine schlechte, unfähige und ineffiziente Regierung nur geringen Schaden anrichten kann?

Wie können wir, ohne Blut zu vergießen und ohne Unrecht zu begehen, eine Regierung loswerden, die ihren klar definierten und stark beschränkten Aufgaben nicht gerecht wird? Damit wird die Frage, wer regiert, zweitrangig gegenüber der Herausforderung, dafür zu sorgen, dass eine Regierung keinen Schaden stiftet. Das maßgebliche Kriterium ist nicht mehr das Ausmaß der Macht, die einer Regierung zugestanden wird, sondern die Qualität der ihr aufgegebenen Tätigkeiten und ihre Fähigkeit, sich diesen Aufgaben würdig und gewachsen zu zeigen.

Indem die alten Griechen sich diese zweite Frage stellen, stoßen sie auf eine Lösung, der sie den Namen Isonomie geben – die Herrschaft des Rechts: Die Unterwerfung aller, und damit natürlich auch die Unterordnung der Regierenden unter ein allen gemeinsames Recht. Die Demokratie der alten Griechen versteht sich nicht als Selbstzweck oder als höchste Form der politischen Weisheit in allen Belangen, sondern als ein der Isonomie dienendes Hilfsmittel, dessen wichtigste Funktion darin besteht, gewaltlosen und doch wirksamen Schutz gegen Tyrannis zu gewähren, und zwar, wenn man so will, nach dem Motto: „Besser Köpfe zählen als sie einschlagen“. [B1: Man kann mit Fug und Recht in Frage stellen, inwieweit dieser Zug in Reinkultur vorherrschte; er dürfte allerdings eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der griechischen Demokratie gespielt haben, besonders im Zusammenhang mit der Befriedung der sich zur Polis zusammenschließenden Stämme.]

Der Vorrang, den Plato der Frage einräumt „Wer soll uns regieren?“, prägt auch das zeitgenössische Demokratieverständnis. Man verlässt sich heute wieder voll und ganz auf die Quelle der Regierungsmacht, der man uneingeschränkte Macht zugesteht, wenn sie durch ihren Ursprung legitimiert erscheint. Diese Quelle ist das Volk, das, verkörpert durch seine parlamentarischen Vertreter, als der Souverän gilt, sprich: als unumschränkter Herrscher. Einst als Gegengewicht zum monarchistischen Absolutismus auf den Plan tretend, um den Gefahren unbeschränkter Macht zu trotzen, ist das Prinzip der Volksvertretung heutzutage selbst zu einer Form des Absolutismus, des parlamentarischen Absolutismus geworden. [B2: Das sieht der Autor inzwischen anders, insofern als Demokratie sowohl als formaler Institutionen-Parcours (checks and balances) als auch als auch durch ihre informelle kulturelle Vielfalt (politisches Engagement und öffentlicher Diskurs, Alltags-Gepflogenheiten, z.B. die freie Wissenschaft, die pluralistisch-demokratische Werte verkörpern) ein wirkungsvolle Barriere gegen autoritäre Machtausübung bilden kann und immer in diese Richtung entwickelt werden sollte.]

Das im Westen weit verbreitete politische System der Demokratie ist die Antwort auf eine Frage, die falsch gestellt sein dürfte, oder zumindest anders gestellt werden könnte, in welchem Fall unsere politische Ordnung wahrscheinlich eine gänzlich andere Qualität aufweisen würde. [B3: Auch dies sieht der Autor inzwischen anders, da die westlichen Demokratien nicht wirklich in erster Linie als Instrumente totalitärer Mehrheitsherrschaft angesehen werden können – siehe auch B2.]

Wieder sehen wir, wie unsere philosophischen Neigungen, unsere oftmals nur unterschwelligen philosophischen Annahmen, Konsequenzen von außerordentlich großer Tragweite zeitigen. Es ist die Aufgabe der Philosophie, uns auf unbeabsichtigte und unbemerkte Konsequenzen dieser Art aufmerksam zu machen, um auf diesem Wege vielleicht einiges anders und besser zu gestalten.

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