Wednesday 4 January 2017

Deutsche Überschuss-Ersparnisse und die Krise der Euro-Zone (1/3)

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In der folgenden Serie handelt es sich um eine von mir erstellte Übersetzung dieses Artikels von Michael Pettis.



Nicht Sparsamkeit, sondern ein Überschuss an deutschen Ersparnissen verursachte die Euro-Krise, von Michael Pettis



Einer der Gründe, warum es so schwer ist für viele Analysten, ja selbst für ausgebildete Ökonomen, das Ungleichgewicht zu verstehen, das der gegenwärtigen Krise zugrunde liegt, besteht darin, dass wir allzu gerne den Unterschied übersehen zwischen den Ersparnissen, von denen man im Zusammenhang mit einer Volkswirtschaft spricht, und den Ersparnissen in den Händen eines Haushalts, wie jeder von uns einen führt. [...]


[...] Wir begehen den Fehler zu unterstellen, dass eine Volkswirtschaft einem privaten Haushalt gleicht. Da wir wissen, dass ein Haushalt umso besser für die Zukunft gerüstet und umso wohlhabender ist, je größer der Teil des laufenden Einkommens ist, den er seinen Ersparnissen zuweist, nehmen wir kurzerhand an, dass das Selbe eben auch für eine ganze Volkswirtschaft zutrifft. [...]


[...]


Aber eine Volkswirtschaft ist kein Haushalt. Was eine Volkswirtschaft benötigt, um Wohlstand zu bilden, sind nicht wachsende Ersparnisse, sondern produktive Investitionen. Gewiss sind auch Inlands-Ersparnisse von Belang, doch nur insofern, als sie eine — und wahrscheinlich die sicherste — der Methoden darstellen, mittels derer sich Inlands-Investitionen finanzieren lassen. Wobei freilich gilt, dass Inlands-Ersparnisse sich eher über einen langen Zeitraum zu fehlgeleiteten Investitionen abzweigen lassen, als dies mit Mitteln der Fall ist, die aus dem Ausland stammen. [Steuern können lange missbräuchlich eingesetzt werden, wohingegen ausländische Investoren sich bei verfehlter Mittelverwendung schneller zurückziehen können.]


Ersparnisse für sich genommen erzeugen jedoch keinen Wohlstand. Es sind produktive Investitionen, die Wohlstand bilden. Inlands-Ersparnisse sind nichts anderes als das Ergebnis von aufgeschobenem Konsum [oder Konsumverzicht, was man hinzufügen möchte, da das leihweise an andere abgetretene Vermögen zu konsumieren mitunter nicht nur für einen späteren Zeitpunkt aufgeschoben ist, sondern ganz ausbleiben kann für den Verleiher, wenn nämlich der Schuldner seine Schulden nicht zurückzahlt].


In einer geschlossenen Wirtschaft sind Ersparnisse und Investitionen identisch; oder anders ausgedrückt: was immer wir nicht konsumieren, das investieren wir (und wenn wir etwas produzieren, das weder konsumiert noch investiert wird, schreiben wir dessen Wert auf Null ab, so dass die Gleichung gültig bleibt). In einer offenen Wirtschaft ist es so, dass wenn mehr gespart als investiert wird, der Überschuss an Ersparnissen exportiert werden muss. Sie muss den Überschuss an Produktion exportieren.



Definitionsgemäß gilt, dass, wenn eine Wirtschaft mehr spart als sie investiert, dann müssen Konsum plus Ersparnisse größer sein als Konsum plus Investition. Ersteres ist die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in dieser Volkswirtschaft erzeugt werden, letzteres die Summe der Güter und Dienstleistungen, die in ihr absorbiert werden. Das Land erzeugt mehr Güter und Dienstleistungen als es in Anspruch nimmt, und muss daher den Überschuss exportieren.



Indem ein Überschuss an Ersparnissen exportiert wird, stellen die Teilnehmer dieser Wirtschaft Ausländern Mittel bereit, mit denen diese den Produktions-Überschuss erwerben. Aus diesem Grund müssen Leistungsbilanz und Kapitalbilanz stets zu Null summieren.



Im 19. Jahrhundert [...] haben die reichen Länder des Westens Ersparnisse in großem Umfang exportiert, [...] vorwiegend in Länder, die in den 1960er Jahren von der Dependence-Schule als Länder der Peripherie bezeichnet wurden. [Autoren wie] Hobson und Conant vertraten die Meinung, dass diese Überschuss-Ersparnisse ihre Ursache in Einkommens-Ungleichheit [in den wohlhabenden Länder] hatten. Wenn der Wohlstand sich in immer größerem Maße auf immer weniger Menschen verteilt, nimmt der Verbrauch weniger schnell zu wie die Produktion, vor allem weil der Konsum der Menschen umso geringer im Verhältnis zu ihrem steigenden Einkommen ist. Ersparnis ist Produktion von Gütern und Dienstleistungen weniger Konsum, so dass ein relativer Rückgang des Konsums unweigerlich eine höhere Sparquote zur Folge hat.



Dies war eine sehr wichtige Erkenntnis. Der Überschuss an Ersparnissen, so diese Autoren, ist dann nicht mehr die Folge von Sparsamkeit im herkömmlichen Sinne, sondern zeugt vielmehr von einer Art wirtschaftlicher Verzerrung. Die Konsequenz dieser Art von „Sparsamkeit“ war nicht größerer Wohlstand, sondern ein Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft.



In einer geschlossenen Wirtschaft gibt es vier Optionen, das Ungleichgewicht auszugleichen, das durch überzogene Ersparnis hervorgerufen wird.



Zunächst ist es so, dass Investitionen in gleichem Maße steigen können wie Ersparnisse.



Allerdings mag der Privatsektor nicht bereit sein, Investitionen zu tätigen, wenn er zur Auffassung gelangt, dass der Anteil des Konsums auf längere Sicht rückläufig sein wird; in welchem Fall, der Staat Investitionen vornehmen mag, zum Beispiel im Bereich der Infrastruktur, so dass Ersparnisse und Investitionen ein Gleichgewicht auf höherem Niveau bilden. Dies ist jedoch nur durchzuhalten, wenn ausreichende Anlässe bestehen, produktive Investitionen vorzunehmen; doch wenn der Konsum an seine Grenzen stößt, ist zu erwarten, dass sich Investitionen rückläufig entwickeln. Schließlich ist ja der Zweck von Investitionen, die heute getätigt werden, die Ermöglichung von Konsumzuwachs zu einem späteren Zeitpunkt.



Die zweite Möglichkeit, ein Ungleichgewicht zu verhindern, besteht darin, dass Staat und Gewerkschaften sich um die Umverteilung des Einkommens zugunsten weniger wohlhabender Bevölkerungsschichten bemühen. Wenn sich der Anteil von Angehörigen der Mittelklasse und von Haushalten mit geringem Einkommen am Brutto-Inlands-Produkt erhöht, steigt unweigerlich der Anteil des Konsums relativ zur Produktion (die Spar-Rate nimmt ab), selbst dann, wenn Mittelklasse und Haushalte mit geringen Einkommen, einen wachsenden Anteil ihres höheren Einkommens ihren Ersparnissen zuweisen. Die Spar-Quote nimmt bis zu dem Punkt ab, wo Ersparnisse und Investitionen wieder im Gleichgewicht sind, so dass alles, was in einer Volkswirtschaft produziert wird, konsumiert oder investiert wird.



Die dritte Variante, auf die man in einer geschlossenen Wirtschaft zurückgreifen könnte, allerdings nur vorübergehend, wäre die Finanzierung eines Konsum-Booms seitens der gering verdienenden Bevölkerungsschichten. Wie dies zu bewerkstelligen wäre? Dies kann zum Beispiel dazu führen, dass die Ersparnisse in stärkerem Maße zunehmen als Gelegenheiten für produktive Investitionen und steigende Produktionskapazitäten, so dass mehr und mehr der von den Wohlhabenden kumulierten Ersparnisse sich auf spekulative Investitionen verteilen, die wiederum den Preis von Vermögenswerten wie Häuser, Aktien oder Anleihen in die Höhe treiben. Mit steigenden Preisen für derartige Vermögenswerte fühlen sich viele Haushalte wohlhabender und sehen sich in der Lage, vom Überschuss an Ersparnissen zu profitieren, indem sie Verbraucherkredit in Anspruch nehmen, wobei derartige Geldaufnahme gleichbedeutend mit negativen Ersparnissen ist.



Wenn nun Hauspreise oder der Wert von Investitionsprojekten steigen, kann es gut sein, dass nicht nur der Konsum zunimmt, sondern ebenso auch Investitionen in neue Häuser. Wenn beides stattfindet, wird der Konsumrückgang, der durch wachsende Einkommensungleichheit entsteht, ausgeglichen durch kreditfinanzierten Immobilienerwerb und steigende Investitionen im Wohnungsbau, so dass Ersparnisse und Investitionen schließlich wieder in Einklang stehen. Das ist es, was in den Vereinigten Staaten und den Ländern der europäischen Peripherie im Vorfeld der Krise von 2007-09 stattfand.



Der vierte Weg, der sich einschlagen lässt, um eine von Überschuss-Ersparnissen ausgelöste Ungleichgewichtslage in einer geschlossenen Wirtschaft zu überwinden, besteht darin, die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben [...]. Wenn die Einkommensungleichheit zunimmt und der Konsum weniger stark steigt als die Produktion, sehen sich Unternehmen dazu gezwungen, die Produktion zu drosseln und Arbeitnehmer zu entlassen. Entlassene Arbeitnehmer produzieren nichts, aber sie konsumieren weiterhin, entweder aufgrund von Ersparnissen, sozialstaatlichen Mitteln oder Zuwendungen von Freunden und Familienangehörigen. Dies bewirkt, dass die Ersparnisse abnehmen und wieder in Einklang stehen mit den Investitionen; allerdings fallen in einer Wirtschaft, in der die Arbeitslosigkeit steigt, die Unternehmensgewinne, und mit diesen die Investitionen, so dass mehr Arbeitnehmer entlassen werden müssen und dieser Prozess sich unter Umständen selbst verstärkt.


Eine offene Wirtschaft hat noch eine andere Option.



In einer geschlossenen Wirtschaft gibt es kaum andere Alternativen, um Ersparnisse und Investitionen miteinander in Übereinstimmung zu bringen, wenn strukturelle Ursachen, die Spar-Rate zwangsweise in die Höhe treiben. Wir aber leben in offenen Volkswirtschaften […] (wenn auch die Welt selbst eine geschlossene Wirtschaft ist). Und so ergibt sich noch eine fünfte Option, Unausgewogenheiten auszugleichen, die wegen eines Überschusses an Ersparnissen auftreten. [Diese fünfte Option] entspricht dem, was Hobson und Conant als die Wurzel des Imperialismus im 19. Jahrhundert beschrieben haben.



Wenn die Ersparnisse in einer Volkswirtschaft derartig hoch sind, dass sie nicht alle profitable Verwendung finden können, besteht die Möglichkeit, sie ins Ausland zu exportieren, wodurch zwangsläufig ausländische Nachfrage importiert wird, die den inländischen Produktions-Überschuss absorbiert. Der Netto-Export an Ersparnissen (abzüglich des Netto-Ertrags früherer Investitionen) ist genau gleich dem Netto-Export an Gütern und Dienstleistungen.



Mit anderen Worten: in einer offenen Wirtschaft sind die Ersparnisse von Bedeutung, weil sie, in dem Maße wie sie die Investitionen übersteigen, exportiert werden müssen und einen Überschuss der Leistungsbilanz ergeben.



Damit sind wir bei der Konfusion angelangt, die viele Analysten und Ökonomen dazu verleitet, den Unterschied zwischen volkswirtschaftlichen und persönlichen Ersparnissen zu verkennen.



Die Ersparnisse eines Haushalts verkörpern jenen Teil des Einkommens, den der Haushalt nicht konsumiert. Eine Größe, die beeinflusst sein kann durch kulturelle und demografische Faktoren, durch das Vorhandensein und die Glaubwürdigkeit eines sozialen Sicherheitsnetzes, durch den Entwicklungsstand des Verbraucherkreditwesens und so weiter.



Die volkswirtschaftlichen Ersparnisse hingegen umfassen nicht nur die Ersparnisse von Haushalten, sondern auch die von Staat und Unternehmen. Die volkswirtschaftlichen Ersparnisse sind definiert als das BIP eines Landes minus Konsum. 

[Also, alles, was nicht Konsum ist, fällt unter die Kategorie „Ersparnisse“. Die Bestandteile des BIP gehören entweder dem einen – Konsum – oder dem anderen – Ersparnisse – an und das BIP bildet insgesamt die Summe dieser beiden Kategorien.] 

Während die Ersparnisse von Haushalten primär bestimmt sein mögen durch die kulturellen und demografischen Präferenzen der in ihnen lebenden Menschen, gilt das Gleiche nicht für die volkswirtschaftlichen Ersparnisse.



In manchen Fällen ist der Anteil der Haushalte am Verbrauch aller produzierten Güter und Dienstleistungen eines Landes der Hauptfaktor, der sich auf die volkswirtschaftlichen Ersparnisse auswirkt — wobei die Höhe dieses Anteils bestimmt wirkt von den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und den Institutionen der Wirtschaft.



Anders gesagt: die volkswirtschaftlichen Ersparnisse mögen herzlich wenig mit den Vorlieben der Haushalte zu tun haben und dafür umso mehr mit verzerrenden Anreizen, die die Wirtschaftspolitik schafft. China hat die mit Abstand höchste Spar-Rate der Welt. Einer der Gründe dafür liegt tatsächlich darin, dass die Haushalte einen vergleichsweise hohen Teil ihres Einkommens in Ersparnisse stecken.



Indes die volkswirtschaftliche Spar-Quote in China außergewöhnlich hoch ist, erweist sich die Spar-Quote der Haushalte als in etwa gleich derer in ähnlichen Ländern der Region und ist sogar geringer in manchen dieser Länder. Chinesische Haushalte sind nicht annähernd so sparsam wie es die volkswirtschaftliche Spar-Quote des Landes suggeriert. Woher kommt es dann, dass die volkswirtschaftliche Spar-Quote so außergewöhnlich hoch ist?



Der Hauptgrund [...] liegt nicht so sehr in der Einkommensungleichheit (wiewohl diese gewiss ein Problem in China darstellt) als darin, dass der Anteil des Einkommens der Haushalte am BIP sehr niedrig ist. Mit etwa 50% des BIP verbleibt bei den chinesischen Haushalten ein Anteil an allen im Lande produzierten Gütern und Dienstleistungen, der niedriger ist als dieser Anteil in jedem anderen Land der Welt.



Dies ist die Folge einer seit langem von Beijing verfolgten Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, das BIP-Wachstum dadurch anzukurbeln, dass sie das Wachstum der Haushalts-Einkommen einschränkt. Infolgedessen ist der Anteil der Haushalte an Chinas Gesamtproduktion von Gütern und Dienstleistungen seit dreißig Jahren rückläufig, wobei er im vergangenen Jahrzehnt besonders stark gefallen ist. Es ist kaum verwunderlich, dass bei einem fallenden Anteil der Haushalte an der chinesischen Produktion, eben auch der Konsum einen rückläufigen Anteil (am BIP) ausmacht. Da die volkswirtschaftlichen Ersparnisse einfach nur BIP weniger Gesamt-Konsum sind, und der Großteil des Konsums auf den Konsum der Haushalte entfällt, ist der Rückgang des Anteils der Haushalts-Einkommen am BIP nichts anderes als das spiegelverkehrte Gegenstück des Anstiegs in Chinas außergewöhnlich hoher Spar-Quote.

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