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Naturstaat und zugangsbeschränkende Gesellschaften
Die Freiheit im modernen Sinn formiert sich aus Elementen,
die in einem jahrtausendelangen Evolutionsprozess zusammenfinden. Vielleicht
das elementarste Thema dieses Entwicklungsprozesses betrifft den Umgang des
Menschen mit Gewalt und Zerstörung. Immer schon ist der Mensch von der
Feindseligkeit der Natur und ihrer Destruktivität ihm gegenüber bedroht. Im
Laufe der Zeit lernt er mit dieser Gefahr besser umzugehen. Auch indem er auf
neue Arten des menschlichen Zusammenlebens stößt. Doch diese neuen Formen des
Gemeinschaftslebens bergen ihre eigenen Gefahren.
Gewalt ist ein Problem, mit dem jede Gesellschaftsform
zurande kommen muss. Ab dem Neolithikum bilden sich Gemeinschaften heraus, die
volkreicher sind als frühere Verbände. Erstmals gelingt es soziale Ordnung und
hinlängliche Gewaltreduktion in menschlichen Gruppen zu bewerkstelligen, die
mehr als nur einige hundert Menschen umfassen. In Anlehnung an North et al.
bezeichnen wir diese ursprünglichen, im Sinne des Evolutiven natürlich
entstanden Staatsstrukturen als Naturstaat
(natural state), Urstaat oder Elitenstaat
und den ihm entsprechenden Gesellschaftstyp als zugangsbeschränkende Gesellschaft.
Im Urstaat wird das Gewaltproblem dadurch entschärft, dass
sich die militärisch stärksten Gruppierungen zu einer friedensfähigen Herrschaftskoalition
zusammenschließen. Die auf diese Weise zu erzielende Befriedung setzt eine
ausgeprägte Vormachtstellung sowie erhebliche Privilegien seitens der
Herrschaftselite gegenüber dem Rest der Bevölkerung voraus. Diese Elite stellt
sicher, dass der Zugang zu zentralen Ressourcen (Land, Arbeit, Kapital), die
Ausübung von Schlüsselaktivitäten des Gemeinschaftslebens (Handel, Bildung,
Religion) und die Bildung, Zulassung und das Management von Organisationen
ausschließlich ihrer Kontrolle unterliegen. Die Angehörigen der Elite sichern
sich so exklusive Ertragsfelder. Indem sie sich gemeinsam und gegenseitig
derartige Vorteile verschaffen, entstehen Anreize, sich der Koalition gegenüber
loyal zu erweisen und auf die Ausübung von Gewalt untereinander zu verzichten.
Das
Kosten-Nutzenkalkül friedlicher Koexistenz im Urstaat
Friedliche Koexistenz kann innerhalb der Machtelite erzielt
werden, wenn die Koalitionäre die Kosten der Gewaltausübung untereinander höher
veranschlagen als den Nutzen, den sie aus friedlichen Verhältnissen zu ziehen
erwarten. Das Aufrechterhalten der Kampfbereitschaft oder unentwegte Kämpfe
sind in einer hochaggressiven Umwelt außerordentlich kostspielige Projekte. Sie
können enorm destruktive Folgen für Wohlstand, Status sowie Leib und Leben der
Herrschaftsaspiranten nach sich ziehen. Herrscht hingegen Frieden, können sich
die Koalitionäre in ihren jeweiligen Machtbereichen verstärkt auf den Ausbau,
die Pflege und die Ausnutzung ihrer internen Vormachtstellung konzentrieren,
sich an ihren Privilegien und den daraus entstehenden zahlreichen Vorteilen und
wirtschaftlichen Erträgen desto ergiebiger bereichern. Somit zeichnet sich der
Koalitionsfrieden durch eine entscheidende Gleichgewichtsbedingung aus: Es muss
allen Teilnehmern glaubwürdig erscheinen, dass jeder unter ihnen vom Frieden
stärker profitiert als von dessen Störung. Diese Gleichgewichtsbedingung
liefert Aufschluss sowohl über die Verhaltenslogik einer funktionierenden
Koalition als auch über die Umstände, die derartige Koalitionen gefährden.
Auf dem Weg zur
Freiheit - Friede durch Willkürherrschaft
Damit Frieden herrsche, muss es Machtzentren geben, die in
der Lage sind, ein hohes Maß an Willkür auszuüben. Dies ist erforderlich um
Bedingungen, d.h. Privilegien und Machterträge zu schaffen, unter denen es für
die Herrschaftselite lohnt, Gewaltausübung nach innen wie nach außen zu
begrenzen. Innenpolitisch gilt es, andere Herrschaftsspezialisten zu
integrieren, die die Stabilität und Wirtschaftskraft dieser Ordnung zementieren.
Außenpolitisch ist es erforderlich, die Koalitionszusammensetzung so
anzupassen, dass ihr nur solche Kräfte angehören, die die
Gleichgewichtsbedingungen des Koalitionsfriedens erfüllen. Für beide Zwecke ist
es nötig, flexibel zu bleiben und das heißt, die Macht innezuhaben, willkürlich
zu handeln. Innenpolitisch bedeutet dies, den Zugang zu wichtigen Ressourcen so
zu begrenzen, dass sie den Interessen der Herrschaftselite dienen. Das Gros der
Bevölkerung bleibt von der Nutzung dieser Ressourcen ausgeschlossen - sie hat
jedenfalls keine Möglichkeit des Wettbewerbs mit den herrschaftlich dominierten
Ressourcen. Um die Loyalität der wenigen, privilegierten Mitstreiter innerhalb
des Herrschaftsbereichs zu sichern und als ein glaubwürdiger Koalitionspartner
im Außenverhältnis zu erscheinen, bedarf es einer Machtfülle, die
Willkürherrschaft (flexible machtpolitische Entscheidungen) ermöglicht. Diese
wiederum basiert auf dem Ausschluss des gemeinen Volks von der Gestaltung der
Institutionen und Organisationen, die den Schlüssel zu Macht und Wohlstand
darstellen.
Warum ist der
amerikanische Präsident nicht der reichste Mann der Welt?
In einer Gesellschaft, in der herrschaftliche Willkür ein
zentrales Regulativ der Friedens- und Wirtschaftsordnung darstellt, müssen die
Beziehungen zwischen den Menschen in einer Weise persönlicher Art sein, wie wir
es heutzutage nicht mehr kennen. Was eine Person tun darf und was nicht, wozu
sie verpflichtet ist und wozu nicht, welche Verhaltensweisen statthaft und
welche es nicht sind, dergleichen kann in einer solchen Herrschaftsordnung (in
außerordentlich vielen Fällen) vom Machthaber willkürlich für eine gegebene
Person bestimmt werden. Es bestehen keine Schutzvorkehrungen, die das
Individuum gegen herrschaftliche Willkür abschirmen. Wo - im Gegensatz dazu -
rechtsstaatliche Schutzvorkehrungen existieren, erzeugen sie insofern unpersönliche, besser vielleicht gesagt:
abstrakte Beziehungen, als sie alle
mündigen Erwachsenen durch allgemeine Kriterien erfassen, die sofern sie erfüllt
werden, ohne Ansehen der Person gelten. Warum ist der Bundeskanzler nicht der
reichste Mann in Deutschland? Er wird durch die rechtsstaatliche Ordnung
Deutschlands daran gehindert, sich Privilegien anzumaßen, mit denen er die
Handlungsmöglichkeiten eines anderen Staatsbürgers auf willkürliche Weise zu
seinen Gunsten festlegen kann. Zum Beispiel ist der deutsche Bundeskanzler
nicht berechtigt, die Gründung einer Organisation zu unterbinden, die den Zweck
hat, sagen wir, ihn zu kritisieren, oder Waren zu produzieren, von denen er aus
irgendwelchen persönlichen Gründen glaubt, sie dürfen nur von ihm produziert
werden. Anders der Machthaber des Urstaats. Er trifft unentwegt Entscheidungen,
aufgrund derer er nach seinem Gutdünken bestimmt, wer welche Privilegien
genießen darf und wem sie vorenthalten bleiben.
In der vorneolithischen Welt der Jäger-und-Sammler-Verbände
entsteht soziale Ordnung aus dem täglichen direkten persönlichen Kontakt der
Stammesangehörigen miteinander. Im volkreicheren Urstaat spielen persönliche
Beziehungen weiterhin die bestimmende Rolle zwischen den Mitgliedern der
Herrschaftskoalition. Es ist noch ein langer Weg, bis das freie Individuum
erscheint, das seine persönliche Freiheit, seinen Schutz vor der Willkür der
Mächtigen und anderer Mitmenschen abstrakter und objektiver Rechtskriterien
verdankt, die für alle Erwachsenen gleichermaßen gelten und durchgesetzt
werden.
Die Herrschaft der Macht
Die Herrschaft der Macht
Bevor der Rechtsstaat sich ausbreitet, ist die Stellung, die
man im Leben innehat, abhängig von dem Verhältnis, in dem man zu Menschen
steht, die Macht besitzen. Wegen dieser Abhängigkeit von mächtigen
Persönlichkeiten kann ein Mensch großer Willkür ausgesetzt sein. Um die
rechtsstaatlichen Verhältnissen vorausgehende Welt persönlicher Beziehungen zu verstehen, ist es hilfreich, zwei
Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen zu unterscheiden: seine körperlichen
und charakterlichen Eigenschaften, die wir im Begriff der einzelmenschlichen Persönlichkeit zusammenfassen, einerseits, -
Gerhard ist 1,80 groß, blond, sehr intelligent und cholerisch; und die sozial
definierten Eigenschaften eines Menschen, die sozial definierte Persönlichkeit, andererseits – Gerhard ist
Kassenwart des Fischzuchtvereins Katzweiler.
In modernen Gesellschaften ist die sozial definierte
Persönlichkeit sehr häufig in umfassender Weise durch abstrakte
Identifikationskennzeichen bestimmt, denen standardmäßig Rechte und Pflichten
(eines Bürgers, eines Bürgermeisters, eines Bundeskanzlers, eines
Firmeninhabers, eines Mieters etc.) zugeordnet sind; wer diese
Identifikationsmerkmale aufweist, für den gelten automatisch die entsprechenden
Rechte und Pflichten.
Im Urstaat hingegen ist die soziale Persönlichkeit häufig an ganz individuelle, persönliche
Umstände, Beziehungen und Privilegien gebunden. Der Umstand, dass derartige
Privilegien auf eine konkrete Person zugeschnitten sind und gewissermaßen
persönlichen Besitz darstellen, gibt den Herrschenden überhaupt erst Anlass,
sich für die friedensfähige und wirtschaftsbegünstigende soziale Ordnung der
zugangsbeschränkenden Gesellschaft zu engagieren. Die Kopplung der sozialen Persönlichkeit an persönliche Privilegien,
d.h. ihre Verbindung mit dem an eine
konkrete Person gebundenen Recht, Willkür zu üben, bedeutet, dass
Angehörige der Herrschaftselite, die Organisationen des Urstaats, gleichsam
privat, für ihre Zwecke gestalten und in Anspruch nehmen können, während sie
den Rest der Bevölkerung von dieser Möglichkeit ausschließen. L’etat c’est moi – der Staat, das bin
ich. Dieses geflügelte Wort bringt die Essenz des Urstaats auf den Punkt.
Die Geschichte der Freiheit handelt davon, wie nach und nach
Institutionen und Organisationen entstehen, die den Bereich der
personalisierten, willkürbehafteten Handlungsräume der Menschen zurückdrängen
zugunsten neuer Handlungsfelder, die durch allgemeingültige Rechte und
Pflichten geschützt sind. Vor allem die Aufhebung des auf eine Machtelite
beschränkten Privilegs der Zulassung und Gestaltung von Organisationen, und die
an dessen Stelle tretende Fähigkeit jedes Bürgers, Organisationen nach eigenen
Vorstellungen einzurichten und zu betreiben, verhilft der extensiven Freiheit,
der modernen Zivilgesellschaft und somit einer alle Bürger umspannenden
Gewaltenteilung zum Durchbruch.
Die Herrschaftstechnologie willkürlicher Macht
Die Herrschaftstechnologie willkürlicher Macht
Damit ist der Urstaat, der für den zugangsbeschränkenden
Gesellschaftstyp charakteristisch ist, zwar friedensfähig und insofern auch
wirtschaftsbegünstigend, aber nur um den Preis großer Ungleichheit zwischen den
verhältnismäßig weiten und relativ autonomen Handlungsoptionen einer kleinen
Herrschaftselite und den sehr beschränkten und streng überwachten
Handlungsmöglichkeiten der breiten Bevölkerung.
Sehr grob gesagt ist das Dilemma des Urstaats und der ihm korrespondierenden zugangsbeschränkenden Gesellschaft darin zu sehen, dass in ihnen Willkürherrschaft praktiziert werden muss, damit Frieden und eine gewisse Kontinuität und Ergiebigkeit im wirtschaftlichen Bereich möglich sind, so dass umgekehrt Einschränkungen der herrschaftlichen Willkürspielräume unweigerlich die urstaatliche Friedens- und Wirtschaftsordnung aus der Balance bringen. Somit tragen Urstaat und zugangsbeschränkende Gesellschaft in sich natürliche Bremsen für den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fortschritt, wie wir ihn heute verstehen. Es nimmt nicht Wunder, dass Stagnation und wirtschaftliche Rückschläge kennzeichnend sind für die lange Geschichte dieses Herrschaftsmodells. Es ist im Urstaat nicht möglich, Macht und Entscheidungsfreiheit abzugeben an andere Kräfte außerhalb der Herrschaftselite, ohne dass das oft ohnehin eher prekäre Gleichgewicht der bestehenden Ordnung ins Wanken gerät. Der Urstaat ist deshalb auch nicht imstande, aus sich heraus eine quasi teleologische Dynamik zu entfalten, die ihn notwendig auf ein höheres Entwicklungsniveau mit neuem Gesellschaftstyp führt.
Sehr grob gesagt ist das Dilemma des Urstaats und der ihm korrespondierenden zugangsbeschränkenden Gesellschaft darin zu sehen, dass in ihnen Willkürherrschaft praktiziert werden muss, damit Frieden und eine gewisse Kontinuität und Ergiebigkeit im wirtschaftlichen Bereich möglich sind, so dass umgekehrt Einschränkungen der herrschaftlichen Willkürspielräume unweigerlich die urstaatliche Friedens- und Wirtschaftsordnung aus der Balance bringen. Somit tragen Urstaat und zugangsbeschränkende Gesellschaft in sich natürliche Bremsen für den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fortschritt, wie wir ihn heute verstehen. Es nimmt nicht Wunder, dass Stagnation und wirtschaftliche Rückschläge kennzeichnend sind für die lange Geschichte dieses Herrschaftsmodells. Es ist im Urstaat nicht möglich, Macht und Entscheidungsfreiheit abzugeben an andere Kräfte außerhalb der Herrschaftselite, ohne dass das oft ohnehin eher prekäre Gleichgewicht der bestehenden Ordnung ins Wanken gerät. Der Urstaat ist deshalb auch nicht imstande, aus sich heraus eine quasi teleologische Dynamik zu entfalten, die ihn notwendig auf ein höheres Entwicklungsniveau mit neuem Gesellschaftstyp führt.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass die Epoche des
Urstaats und der zugangsbeschränkenden Gesellschaft sich auszeichnet durch:
- eine langsam wachsende Wirtschaft, die anfällig ist für Erschütterungen und Rückschläge,
- eine politische Ordnung, in der die Beteiligung der breiten Bevölkerung und das Streben nach öffentlichem Konsens ausgeschlossen sind,
- verhältnismäßig wenige Organisationen bestehen, indes deren Entstehen und Existenz völlig der Kontrolle der Herrschaftselite unterliegen,
- einen (wegen der geringen wirtschaftlichen Potenz der Gesellschaft) kleinen aber extrem zentralisierten und extrem einflussreichen Staat,
- soziale Verhältnisse, die durch persönliche Beziehungen, Privilegien, soziale Hierarchien, ungleichen Rechtsvollzug, unsichere Eigentumsverhältnisse und eine vielfach sehr ungleiche Behandlung der Menschen geprägt sind.
Es handelt sich hier um ein wichtiges Frühstadium in der
Entstehungsgeschichte von StrukturenMaximaler Macht. Denn der moderne Staat, den wir sehr viel später als
Gewaltmonopolist kennenlernen, entwickelt sich erst allmählich aus solchen
ursprünglichen Koalitionen zwischen Gewalt- und Herrschaftsspezialisten. Selbst
der stärkste Koalitionspartner ist niemals stärker als die Koalition insgesamt.
Oft bedeutet die Macht eines Königs nicht mehr, als dass er sich einigermaßen
sicher weiß vor Angriffen durch andere Mitglieder der Elite. Herrschen heißt, nach innen Anreize für eine
schlagfertige, möglichst stabile Koalition zu schaffen, und nach außen genügend Stärke zu mobilisieren,
um sich jedem Feind gewachsen zu zeigen. Doch die Fähigkeit zu herrschen, macht
es erforderlich, Änderungen in der Zusammensetzung der Elite vorzunehmen oder
hinzunehmen. Daher ist eine rege Gruppendynamik der Koalitionäre zu beobachten.
Schwächere Koalitionäre werden durch stärkere verdrängt, kooperationsfähige
durch weniger kooperationsbereite. Lavierende Willkür erweist sich als
Herrschaftsbedingung.
Eine Welt persönlicher Beziehungen, in der der Einzelne wenig zählt
Eine Welt persönlicher Beziehungen, in der der Einzelne wenig zählt
Im Urstaat sind die zwischenmenschlichen Bande, die der
Gemeinschaft Ordnung geben, vorwiegend persönlicher Art. Was heißt das? Zum
besseren Verständnis folgende Überlegung: Dass Ihre Nachbarin, Frau Müller,
wahlberechtigt ist, verdankt sie nicht einer persönlichen Beziehung, mit einem
Individuum, das ihr diese Möglichkeit zubilligt. Vielmehr erfüllt sie eine
Reihe von Kriterien, die für alle Wahlberechtigten gelten, ohne Ansehen der
Person. Wäre Frau Müller ein Mann und hieße Meier und hätte ein ganz anderes
Netzwerk an persönlichen Bekannten, so würde sie ebenso wahlberechtigt sein,
solange sie eben bestimmte Bedingungen erfüllt, die weder an ihre ganz
spezifische und vollständige persönliche Identität (sondern nur an abstrakte Merkmale ihrer
Identität) noch an das Bestehen von Beziehungen zu bestimmten einflussreichen
Personen gebunden sind.
Im Urstaat haben sich die sozialen Techniken und
Institutionen noch nicht oder erst in rudimentärer Form herausgebildet, die
Rechte und Pflichten den Charakter objektiver Sachverhalte verleihen. Es ist
eine Welt, die vieles nicht kennt, was uns längst selbstverständlich geworden
ist.
In unserer Welt ist es nicht das Gutdünken seines Lehrers
oder seines Nachbarn oder irgendeiner anderen einflussreichen Person, die
darüber entscheidet, ob Willi den Führerschein machen darf, sondern objektive
Sachverhalte (vor allem Alter und Gesundheitszustand). Diese Kriterien werden
nicht mit Blick auf die persönlichen Umstände eines bestimmten Individuums
festgelegt, sondern nehmen allgemeine Gültigkeit in Anspruch. Wer sie erfüllt
gelangt ipso facto in den Genuss von Rechten oder unterliegt Pflichten,
ungeachtet der sonstigen spezifischen Umstände und Merkmale seiner Person. Wo
das Leben nicht durch solche objektivierbaren Attribute bestimmt wird,
herrschen eher Regelungen vor, die aufgrund persönlicher Beziehungen,
insbesondere vermöge persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse wie die zwischen
Herr und Knecht, Herrscher und Untertan, Gültigkeit erlangen.
(Es ist geradezu paradox: erst wenn das Individuum in
wohlverstandenem, besonderen Sinne nicht zählt, zählt das Individuum überhaupt
erst richtig als freies Wesen. Wenn es auf die einzelne Person ankommt, kommt
es nicht auf die einzelne Person an, sondern auf die Willkür mächtiger
Entscheidungsträger an.)
Die offene Gesellschaft der Moderne ist nicht denkbar ohne
das Institut der Gleichheit vor dem Recht.
Die allgemeine, auf alle mündigen Bürger ausgeweitete Gleichheit vor dem Recht
ist die Voraussetzung für die sich in der Zivilgesellschaft verwirklichende
gesamtgesellschaftliche Gewaltenteilung, dem Kernstück einer freien
Gesellschaft. Nur dort, wo Recht ohne Ansehen der Person gestaltet und
vollzogen wird, kann Gleichheit vor dem Recht obwalten. Zu diesem Zweck muss
eine völlig neuartige Rechtspersönlichkeit ins Leben gerufen werden – das
Individuum als Inhaber abstrakter und unpersönlicher Rechte und Pflichten.
Der Urstaat ist das Scharnierstück zwischen menschlichen
Verbänden, in denen soziale Ordnung an persönliche Beziehungen gebunden ist,
und unserer Welt, in der das Individuum, sich in seinen Handlungsmöglichkeiten
auf abstrakte, für alle gleichermaßen gültige Rechtsansprüche stützen kann,
ohne an die Möglichkeiten seines persönlichen
Verhältnisses zu (einem) anderen Menschen gebunden zu sein. Uns begegnet
der Unterschied zwischen der Herrschaft
des Rechts und der Herrschaft von
Menschen.
Das in diesem Sinne unpersönliche
Recht bildet sich über einen sehr langen Zeitraum heraus. Nach unzähligen
Versuchen und Rückschlägen kristallisieren sich am Ende der 10 000 Jahre
währenden Epoche des Urstaats die offene Gesellschaft und der ihr
zugrundeliegende moderne Rechtsstaat heraus. Vor weniger als 200 Jahren
erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt in Gestalt der auf alle mündigen
Erwachsenen ausgedehnten Gleichheit vor
dem Recht. Doch warum ist der Weg zum Rechtsstaat dermaßen hürdenreich und
langwierig?
Fortsetzung hier.
Fortsetzung hier.
Danke für den sehr anschaulichen Artikel über den Urstaat. Hochinteressant, was Du herausgearbeitet hast:
ReplyDelete"(Es ist geradezu paradox: erst wenn das Individuum in wohlverstandenem, besonderen Sinne nicht zählt, zählt das Individuum überhaupt erst richtig als freies Wesen. ..."
"Uns begegnet der Unterschied zwischen der Herrschaft des Rechts und der Herrschaft von Menschen."
"
"Im Urstaat sind die zwischenmenschlichen Bande, die der Gemeinschaft Ordnung geben, vorwiegend persönlicher Art. "
Ich will jetzt nicht alle Stellen raussuchen, die mich beeindruckt haben.
Der "Fischzuchtverein Katzweiler" verdienst es vielleicht noch, hier in der Liste zu erscheinen ;-)
"Doch warum ist der Weg zum Rechtsstaat dermaßen hürdenreich und langwierig?"
Auf die Beantwortung dieser Frage im letzten Satz bin ich schon sehr gespannt.
Wer hat dem Rechtsstaat überhaupt "erfunden"?