Tuesday 6 September 2016

FV (6) — Die Intelligenz der Freiheit

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Über FV.



Der bedeutende Amerikanische Physiker J. A. Wheeler behauptet pointiert in seinem Artikel A Septet of Sybils: Aids in the Search for Truth:


Unser ganzes Problem besteht einfach nur darin, unsere Fehler so schnell wie möglich zu machen.


Die Kehrseite des beispiellosen Erfolgs, mit dem es uns gelingt, die Welt auf immer angenehmere Weise für uns bewohnbar zu machen, begegnet uns im merkwürdigen Umstand der enormen Begrenztheit unseres Wissens.

Wir sind deshalb so außerordentlich gut darin, uns unserer Umwelt anzupassen, weil wir durch die Beschränktheit unseres Wissens dazu gezwungen sind, unentwegt nach mehr Licht zu suchen. Im Gegensatz zum Krokodil, das sich allwissend wähnt, ist uns die Begrenztheit unseres Wissens bewusst – oder immerhin den besten Denkern und Wissenschaftlern unter uns. Es gibt gute Gründe, warum wir notwendigerweise so beschränkt sein müssen in unserem Wissen. Der womöglich wichtigste Grund besteht darin, dass unser Gehirn sich evolutiv zu einem Organ herausgebildet hat, das in erster Linie dazu dient, unser Überleben zu sichern und nur nachrangig der Aufgabe nachgeht, die Wahrheit (verstanden als Übereinstimmung theoretischer Aussagen mit den Tatsachen) akkurat abzubilden.

Hätten unsere Vorfahren nicht die Fähigkeit entwickelt, sich ziemlich gut an eine dreidimensionale Welt anzupassen, wären sie von den Bäumen zu Tode gestürzt, so dass wir heute nicht leben würden.

Aber die Passung zwischen menschlicher Wahrnehmung und realer Welt ist durchaus nicht schon ein Garant für den Besitz der Wahrheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sehr vieles, von dem, was eines Tages verstanden werden kann und vieles von dem, was uns maßgeblich tangiert, außerhalb des Mesokosmos liegt, der Welt der mittleren Dimensionen, an die wir besonders gut angepasst sind. Die Bereiche jenseits des Mesokosmos haben sich (1) früher entwickelt als der mesokosmisch fokussierte menschliche Verstand, (2) unabhängig von unserem Hirn und (3) ohne die Notwendigkeit, für den Menschen verstehbar zu sein oder von ihm eines Tages verstanden zu werden.
 
Eine Situation, die gewisse Ähnlichkeiten aufweist mit dem epistemologischen Schicksal des Dalmatiner-Rüden, Lucky, den ich als Hundesitter betreue. Lucky ist vorzüglich an den uns gemeinsamen Ausschnitt der Welt angepasst, auch wenn er nur über ein recht beschränktes Wissen um dessen Zusammenhänge verfügt. Die Annahmen, die er trifft, um sich in der Welt zu orientieren, sind oftmals auf geradezu spektakuläre Weise irrig; ein Umstand, den ich weidlich ausnutze, um viel Freude und Harmonie zwischen uns zu erzeugen.

Adaptive Kompetenz – verkörpert z.B. in der Befolgung zielführender Regeln oder Verhaltensgepflogenheiten – ist eine Alternative zu direkter Erkenntnis, besonders wenn es darum geht, Informationen zu verwerten, die das Hirn nicht ohne Hilfsmittel, zu erfassen und angemessen zu verarbeiten vermag. Märkte z. B. gehören zu den vielen extrasomatischen Verlängerungen des Hirns, ohne dir wir nicht überleben oder nicht so angenehm leben könnten, wie wir es tun.

Wir sind nicht in der Lage, die enorme Beschränktheit unseres Wissens grundsätzlich zu überwinden, aber wir können sie schrittweise verringern und unser Vermutungswissen über die Welt nach und nach verbessern, und zwar indem wir, das, was wir bereits zu wissen glauben, unentwegt und systematisch in Frage stellen.

Dies ist haargenau, was Märkte und Wissenschaften leisten. Wir erzielen Fortschritte, indem wir ununterbrochen nach den Fehlern fahnden, die sich in unseren aktuellen, provisorischen Wissensbeständen versteckt halten. Je schneller wir auf diese Fehler aufmerksam werden, umso größer die Zahl der Verbesserungen und Errungenschaften, die wir bei unserer endlosen Annäherung an die Wahrheit verbuchen können:

“Unser ganzes Problem besteht einfach nur darin, unsere Fehler so schnell wie möglich zu machen”.

Die Lehre von der Freiheit beruht auf der Erkenntnis unserer Fehlbarkeit, der Geringfügigkeit des Wissens, das ein Mensch auf sich vereinen kann, und der Überzeugung, dass so viele Menschen als möglich am Prozess der Zurückdrängung unseres Unwissens beteiligt werden sollten, und unter Bedingungen, die jedem Einzelnen den denkbar größten Spielraum eröffnen, Wissen, das nur er haben kann – wegen der Einzigartigkeit seiner persönlichen Umstände – in das Gesamtbild unseres Wissens einzuspeisen.


Die Vertreter der Freiheit unterscheiden sich von den übrigen dadurch, daß sie zu den Unwissenden auch sich selbst und auch die Weisesten zählen.

Hayek, F.A. (1978) Die Verfassung der Freiheit, S.39


Geschrieben im März 2013

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