Monday 31 December 2018

Der (falsche?) Kitzel der Ökonomie (7) – Die klassischen Wurzeln der modernen Wirtschaftstheorie – Verleihbare Ersparnisse

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Fortgesetzt von hier.

Mein Interesse an den klassischen Wurzeln der zeitgenössischen Wirtschaftslehre entspringt der Beobachtung, dass die Annahmen dieser Urtheorie auch den heutigen Varianten der Gleichgewichtsökonomie zugrunde liegen.

Eine besondere Stellung nimmt die von der modernen Wirtschaftstheorie übernommene aber kaum ausdrücklich erwähnte Nebenbedingung ein, dass in der Modellbildung auf eine Wirtschaft Bezug genommen wird, in der es kein Geld gibt und stattdessen reiner Naturaltausch herrscht.

Kein Geld! Keine Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. Keine Banken. Keine Kapitalmärkte. Es existiert all das nicht, was unserer Wirtschaft einerseits zu prometheischem Wachstum verhilft, sie andererseits aber auch mit erheblichen konjunkturellen Risiken belastet.

Nur dieser ungewöhnlichen Annahme einer geldlosen Tauschwirtschaft ist es zu verdanken, dass etwas so Sonderbares wie das Saysche Gesetz zum Fundament der moderen Ökonomie geworden ist. 

In einer reinen Naturalwirtschaft, die es übrigens laut anthropologischer Forschung nie gegeben haben dürfte – da Geld den Charakter von Verbindlichkeiten hat und Verbindlichkeiten so alt sind wie menschliche Gemeinschaften – ist es freilich plausibel, dass zum Handel vorgesehene Waren nur produziert werden, wenn es für beide Tauschkontrahenten als sicher gelten kann, dass für die zum Austausch vorgesehenen Objekte jeweils ein Handelsgegenstand eingetauscht werden kann, für den tatsächlich Bedarf besteht.

Und das ist es, was das Saysche Gesetz besagt: Jedes Angebot erzeugt seine Nachfrage. Ein Angebot entsteht nur, wenn die Nachfrage gesichert ist. 

Ich produziere, um anzubieten und biete an, um meine Nachfrage nach etwas Bestimmten zu befriedigen. 

Wie gesagt, das ergibt Sinn in einer Wirtschaft, in der ausschließlich Naturaltausch betrieben wird. Nochmal: eine solche Wirtschaft hat es wahrscheinlich nie gegeben; zudem erscheint es fragwürdig, ob selbst unter hypothetischen Bedingungen reinen Naturaltausches, Angebot und Nachfrage immer übereinstimmen.

Nun postuliert das Saysche Gesetz aber noch mehr als (1) eine historisch zweifelhafte und (2) für sich schon unglaubwürdige Ordnung – nämlich, dass (3) diese vollkommene Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage auch in einer modernen Wirtschaft immer erzielt werde. Abweichungen seien, wenn es sie überhaupt gibt, kurzfristiger Art und würden bald wieder ausgeglichen.

Der Realist tut sich mit dieser Behauptung schwer.

Dem Ökonomen jedoch ist die Annahme, dass eine moderne Wirtschaft zutreffend durch eine im Gleichgewicht befindliche Naturalwirtschaft beschrieben werde, hoch willkommen. 

Denn mit dieser Annahme ist in die Prämissen seines Modells einer Gleichgewichtswirtschaft bereits eingebaut, was der klassische Ökonom vorgibt, anhand des Modells überhaupt erst zu beweisen – dass immer Gleichgewicht erreicht werde, Übereinstimmung (Gleichgewicht) zwischen Angebot und Nachfrage bestehe.

Passend zu dieser Manipulation des Gleichgewichtsbefunds mittels eines sich selbstbestätigenden Modells, entwickelt der klassische Ökonom eine Zusatztheorie von den verleihbaren Ersparnissen (loanble funds theory) – von denen man sich Fragen muss, wie diese ohne Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes möglich sind. Vermutlich unterstellt der Klassiker Naturalersparnisse. Wenn das verliehene Kapital ein Brötchen ist und der Zinssatz 10% beträgt, dann bekommt also der Sparer zu einem späteren Zeitpunkt ein Brötchen plus ein zehntel Brötchen zurück.

Der mit dem Sayschen Gesetz eingeschmuggelte zirkuläre Trick (der in den Prämissen vorausgesetzten Konklusio) gestaltet sich im nächsten Schritt wie folgt:

Alles was – d. h. der Teil des Gesamteinkommens, der – nicht für den aktuellen Verbrauch benötigt wird, wird an Produzenten verliehen, die den für die nächste Periode geplanten Verbrauch vorbereiten/produzieren/gewährleisten.

Das ist das Saysche Gesetz intertemporal gewendet – sprich, so wie man in der Gegenwart Gewünschtes mit Gewünschtem in restloser Übereinstimmung austauscht (Rosenstrauß gegen Tontopf), so tauscht man auch heute Verliehenes (ein Brötchen) mit morgen Gewünschtem (ein Brötchen plus 10% eines Brötchens) in restloser Übereinstimmung aus.

Der Gleichgewichtszustand ist bereits definitorisch festgelegt; der Mechanismus, der zu ihm führen soll, wird nachgereicht unter Vortäuschung seiner Unentbehrlichkeit. Denn wenn voraussetzungsgemäß das heute Verliehene im Gleichgewicht zum morgen Gewünschten steht, dann ist der Zinssatz, der dieses Verhältnis in seinen möglichen Proportionen (2:3, 1:3 etc.) anzeigt, nicht Ursache für das Gleichgewicht, sondern lediglich arithmetischer Ausdruck eines bereits willkürlich bestimmten Sachverhalts.

Der gleichgewichtsbildende Mechanismus funktioniert wie folgt:

Sparer (Kreditgeber) bieten einen Teil ihres Einkommens Investoren (Kreditnehmern) an, sodass diese die ihnen für ihre Investitionsvorhaben fehlenden Mittel erhalten. Investoren erhöhen ihre Nachfrage nach verleihbaren Ersparnissen bis zu dem Punkt, an dem der Einsatz solcher Mittel für sie unerschwinglich wird, also nicht mehr durch den gewinnbringenden Absatz ihrer Produktion gedeckt wird. Sparer stellen entsprechende Mittel bereit, bis die hierfür erhaltene Entlohnung aus ihrer Sicht unzureichend ist. Genauer gesagt: Sie bieten verleihbare Ersparnisse heute in dem Maße an, als diese den von ihnen gewünschten künftigen Mehrverbrauch gewährleisten. Investoren erhöhen den ihren Kreditgebern versprochenen Mehrverbrauch (Zinsatz, Umtauschverhältnis von heute verliehenen Mitteln zu künftigem Mehrverbrauch), um einen größeren Umfang an Ersparnissen zu mobilisieren (im Rahmen ihrer Rentabilitätszwänge). Sparer  reduzieren ihre Forderungen nach künftigem Mehrverbrauch, um eine größere Menge an Ersparnissen bei Investoren platzieren zu können. So bewegen sich beide Seiten aufeinander zu. Gleichgewicht herrscht, wenn beide Zustände zugleich eintreten: Eine weitere Kreditaufnahme ist für Investoren nicht mehr lohnend/erschwinglich und eine weitere vorübergehende Überlassung von Ersparnissen an Investoren ist für Sparer nicht mehr erwünscht (weil der zukünftige Mehrverbrauch als zu gering/zu wenig erstrebenswert eingeschätzt wird)


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Was der Mechanismus nicht erklärt, ist genau das, was die (mehr oder weniger stillschweigende) Prämisse des Sayschen Gesetzes in die Konklusion der Theorie von den Gleichgewichtsmärkten hineineskamotiert: die Übereinstimmung von Produktion und effektiver Nachfrage. Will sagen, der Mechanismus kann nicht begründen, wie es dazu kommt, dass genau das produziert wird, was benötigt und infolge dessen auch gekauft wird.

Einen solchen Mechanismus gibt es nicht, zumindest wird er nicht von der klassischen Ökonomik angegeben/beschrieben.

Was das klassische Modell darstellt, ist der Punkt der größten Übereinstimmung zwischen dem Angebot an und der Nachfrage nach verleihbaren Ersparnissen – das Tauschverhältnis zwischen heute vorübergehend an Kreditnehmer überlassenen Ersparnissen und künftigem Mehrverbrauch als Entlohnung für Kreditgeber). Ein Prozess, anhand dessen glaubwürdig nachgewiesen werden kann, dass Gesamtnachfrage und Gesamtangebot an produzierten Waren übereinstimmen müssen, ist dem klassischen Modell mitnichten zu entnehmen.

In einer kleinen naturaltauschwirtschaftlich verfassten Gemeinschaft mag die Bedarfslage so transparent und das Produktangebot derartig überschaubar sein, dass die Tauschpartner sich auf eine exakte Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage vorab einigen können. Doch selbst in einer solchen Umgebung treten leicht Komplikationen und Unsicherheiten auf, die ein Gleichgewicht verhindern: Missverständnisse bei der Vertragsgestaltung, Irrtümer in der Bedarfseinschätzung und bei der Produktionsplanung, unvorhergesehene Ereignisse usw.

In einer komplexeren Wirtschaftsordnung stehen einer automatischen Übereinstimmung, wie sie das Saysche Gesetz vorsieht, zahllose Bedingungen entgegen.

Den Nachweis des Gesamtgleichgewichts bleibt uns die klassische Ökonomik damit schuldig. 

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