Sunday 2 October 2016

FV (14) — Freiheit verstehen: Die Frage des Selbstbesitzes

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Freiheit verstehen: die Frage des Selbstbesitzes

Im vorhergehenden Blog-Beitrag Naturrecht – was mag es bedeuten? haben wir noch nicht die von ihren Vertretern angebotene Herleitung des “Axioms” vom absoluten Recht auf Selbstbesitz berücksichtigt – man beachte das verquere Ansinnen, ein Axiom herzuleiten, sprich zu begründen.

Wir hatten uns zunächst darauf beschränkt darauf hinzuweisen, dass ein derartiges Recht nicht in absoluter Form bestehen kann, da die Menschen unentwegt angesichts zahlloser und ständig nachwachsender Anlässe dazu gezwungen sind, das Paket ihrer durchführbaren Rechte neu auszuhandeln, um es unvorhersehbaren Situationen anzupassen oder stückweise und allmählich zu verbessern – und zwar auf die vielfältigste Weise, die vom redlichen Überredungserfolg, der Ausnutzung natürlicher Autorität, besonderen Charmes oder der Strahlkraft ehrlicher aber falscher Argumente bis zu raffinierten Winkelzügen, Betrug und Gewalt reichen mag.

Die der Naturrechtsinterpretation des Anarcho-Kapitalismus (AK) zugrundeliegende Vorstellung eines starr in die Natur des Menschen und die Bedingungen seiner Interaktion mit der Umwelt hineingelegten Bestands an unzweifelhaften, eindeutigen und unveränderlichen Rechten ist nicht in Vereinbarung zu bringen mit der evolutiven Reichhaltigkeit an Vorstellungen und Praktiken sittlichen Gebarens unter den Menschen.

Der rationalistische Ehrgeiz dieser Schule, ein Organon zur unanfechtbaren Ableitung letztgültiger Rechtsnormen zu schaffen, macht sie blind für die Tumulte und Turbulenzen, für Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Unvollkommenheit im unentwegten Wandel des Rechts und anderer sittlicher Praktiken des Menschen.

Dieser rationalistische Ehrgeiz ist bemüht, sein Anliegen mit folgender Kern-Argumentation abzusichern. Wegen der für den Autor charakteristischen Kürze und Klarheit seines Stils und seiner Darstellungsweise bemühen wir ein Zitat aus J.-G- Hülsmanns Essaysammlung “Ordnung und Anarchie”, und dort aus dem Beitrag “Naturrecht und Liberalismus”, S.13:

Nun setzt aber jede Argumentation voraus, daß der Argumentierende ein Selbstbesitzer ist (denn sonst gäbe es kein handelndes Ich, das irgendein Argument vorbringen könnte), und jedes Gespräch beruht auf der gegenseitigen Anerkennung des Selbstbesitzes, den jeder Gesprächspartner an sich selber hat. Denn ich kann nur dann ohne Widerspruch glauben, daß ich “argumentiere” oder “ein Gespräch führe”, wenn ich von vorneherein nicht nur unterstelle, sondern auch anerkenne, daß mein Gegenüber die Möglichkeit hat, sich meiner Argumentation anzuschließen oder sie abzulehnen. Doch das heißt nichts anderes, als daß jeder Diskutierende von vorneherein unterstellt, daß es ein Recht auf Privateigentum gibt, dessen Kern im Selbstbesitz eines jeden an sich und seinen Körper besteht.” (Hervorhebung im Original).

Entscheidend ist der letzte Satz des obigen Zitats. Denn in ihm lässt sich der grundlegende Fehler – eine unmerkliche Bedeutungsverschiebung – in der vorgetragenen Argumentation festmachen.

Der Fehler besteht darin, dass Begriffe, die gleiche oder sehr ähnliche Bedeutungen haben in zwei verschiedenen Kontexten verwendet werden, in denen sie aber genauer betrachtet sehr unterschiedliche Dinge bezeichnen.

“Selbstbesitz” wird einmal in einem anthropologischen Sinne verwendet, und dann in einem juristischen. Doch diese beiden Bedeutungen sind wohl zu unterscheiden; dieser Unterschied lässt sich aber nur scheinbar aufheben, wenn aus “Selbstbesitz” plötzlich “Privateigentum” wird.

Es ist sinnvoll einen Begriff für “Selbstbesitz” einzuführen, der die inhaltliche Besonderheit des Gemeinten klar anzeigt: sprechen wir deshalb nicht mehr von “Selbstbesitz”, sondern von “Merkmalen irreduzibler persönlicher Autonomie”.

Jeder Mensch, ja schon der Neandertaler weist “Merkmale irreduzibler persönlicher Autonomie” auf. Und was ist damit gemeint? Etwas drastisch gesagt: Ich kann meine Notdurft nicht von einem anderen Menschen verrichten lassen. Niemand kann für mich atmen, schlucken, husten, aus meinen Aufgen sehen, Nahrung für mich verdauen etc. Diese Merkmale machen das Individuum buchstäblich zum Individuum – zum Unteilbaren, zu einem Wesen, das bestimmte Merkmale seiner Selbst nicht mit Anderen teilen kann, nicht Anderen überlassen, an diese abtreten kann. Übrigens eine Art von “Selbstbesitz”, die auch sehr lästig, unangenehm und Anlass zum vielfach unerfüllbaren Wunsch sein mag, bestimmte Besitztümer, zu denen man regelrecht verdammt ist, los zu werden, und sei es “nur” eine körperliche Anomalie wie extreme Kleinwüchsigkeit.

Privateigentum ist wieder etwas ganz anderes als Selbstbesitz; Privateigentum ist eine juristische Kategorie, die mitnichten durch die sehr allgemeine anthropologische Invariante irreduzibler persönlicher Autonomie präjudiziert wird.

Der Kern der Selbstbesitz-Argumentation des AK beruht darauf, dass ihre Vertreter auf einen semantischen Schein hereinfallen: Alle Menschen sind Selbstbesitzer, also, so schließen die AK, sind alle Menschen von Natur aus Privateigentümer. Selbstbesitz ist ein Gebot der Natur, ein Gebot des natürlichen Rechts, des Naturrechts. Wer dieses Naturrecht missachtet, handelt wider die Natur, wider das Naturrecht. Da der Staat das absolute Recht auf Selbstbesitz einschränkt, ist der Staat wider die Natur, wider das Naturrecht. Freiheit bedeutet Selbstbesitz ausleben, also bedarf es der Abschaffung des Staats, um Freiheit zu erreichen.

Sei noch darauf hingewiesen, dass – wie wir bereits oben und im vorherigen Beitrag sahen – Einschränkungen des absoluten Rechts auf Selbstbesitz ( = “Tun und Lassen dürfen, was man will”) nicht nur durch den Staat, sondern auch regelmäßig zwischen Privatpersonen vorgenommen werden. Im übrigen kann man den Staat auch als Kompromissgebilde ansehen, das zustandekommt, indem Privatpersonen allgemein gültige Handlungsbeschränkungen aushandeln, z.B. solche die wirkungsvoller und ökonomischer durchzuführen sind per allgemeiner Verordnung als durch ständiges bilaterales Aushandeln.

Was der AK auch übersieht ist, dass in volkreichen Gemeinschaften bestimmte Rechtsnormen sich nur auf langwierigem und indirektem Wege in den unentwegt fortgeschriebenen Gesellschaftsvertrag einbringen lassen – man denke an die Jahrzehnte und Jahrhundert, die verstreichen mussten bis die USA gegen Anfang des 19. Jahrhunderts in etwa die heute noch bestehende Eigentumsordnung für eine Bevölkerung etablieren konnte, die lange formalrechtlich aus illegalen Landnehmern bestanden hatte.

Das ganze ökonomische Handeln des Menschen ist ein einziges unentwegtes, kompromisshaftes Einschränken von immerhin denkbaren absoluten Rechten. Auch außerhalb des ökonomischen Kalküls, mit dem ich meine unbeschränkten Wünsche mit meinen beschränkten Mitteln konfrontiere und durch einschränkende Selektion leidlich vereinbar mache, handeln Menschen ununterbrochen Einschränkungen ihrer Rechte aus – z. B. wenn der Ehemann aus Liebe zu seiner Frau auf den Besuch eines wichtigen Fußballspiels verzichtet.

Sei abschließend der Grundirrtum des Selbstbesitz-Arguments des AK wie folgt in einem Satz zusammengefasst:

Aus dem Umstand, dass Menschen Merkmale irreduzibler persönlicher Autonomie aufweisen folgt nicht bereits schon, welche Eigentumsrechte obwalten, als wünschenswert angesehen werden (dürfen) oder überhaupt – unter den gegebenen historischen Bedingungen – darstellbar sind. Privateigentum von der Form, wie sie die anarcho-kapitalistische Lesart des Naturrechts apodiktisch als zwingende Konsequenz von Logik und Moral beteuert, hat es während 99,99% des Zeitraums menschlicher Besiedlung unseres Planeten nicht einmal in annähernder Form gegeben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Privateigentum vor der Einführung sesshafter Landwirtschaft im Neolithikum vor etwa 10 000 Jahren schlechterdings nicht praktikabel war. Bis in die Neuzeit lässt sich immer wieder beobachten, dass ein Übergang von Gemeinschaftseigentum auf Privateigentum oft noch ausbleibt, weil die Kosten-Nutzen-Relationen einer Umstellung nicht überzeugen.

Der AK mag schlussfolgern, dass die Menschheit dann eben in einem unmoralischen Zustand gelebt hat – eigentlich auch heute noch, da der Staat nach seiner Auffassung die Verwirklichung des anarchistischen Naturrechts auch bis dato noch verunmöglicht. Doch ein derartiger moralischer Maximalismus geht an der Realität vorbei. Er ist außerstande, Einsichten zu liefern in die Entwicklung(sbedingungen), die Funktion, die Eigenarten und Konsequenzen der real ausgeprägten Institutionen menschlicher Sittlichkeit; ganz zu schweigen davon, dass der AK – wie wir zu zeigen versucht haben – sich auf eine defekte Argumentation stützt.


Geschrieben im Juno 2013

Englischer Zwillingsbeitrag

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