Wednesday 22 June 2016

Auf dem Weg zur Freiheit (1/2) - Urstaat und zugangsbeschränkte Gesellschaft



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Naturstaat und zugangsbeschränkende Gesellschaften


Die Freiheit im modernen Sinn formiert sich aus Elementen, die in einem jahrtausendelangen Evolutionsprozess zusammenfinden. Vielleicht das elementarste Thema dieses Entwicklungsprozesses betrifft den Umgang des Menschen mit Gewalt und Zerstörung. Immer schon ist der Mensch von der Feindseligkeit der Natur und ihrer Destruktivität ihm gegenüber bedroht. Im Laufe der Zeit lernt er mit dieser Gefahr besser umzugehen. Auch indem er auf neue Arten des menschlichen Zusammenlebens stößt. Doch diese neuen Formen des Gemeinschaftslebens bergen ihre eigenen Gefahren.

Gewalt ist ein Problem, mit dem jede Gesellschaftsform zurande kommen muss. Ab dem Neolithikum bilden sich Gemeinschaften heraus, die volkreicher sind als frühere Verbände. Erstmals gelingt es soziale Ordnung und hinlängliche Gewaltreduktion in menschlichen Gruppen zu bewerkstelligen, die mehr als nur einige hundert Menschen umfassen. In Anlehnung an North et al. bezeichnen wir diese ursprünglichen, im Sinne des Evolutiven natürlich entstanden Staatsstrukturen als Naturstaat (natural state), Urstaat oder Elitenstaat und den ihm entsprechenden Gesellschaftstyp als zugangsbeschränkende Gesellschaft.

Im Urstaat wird das Gewaltproblem dadurch entschärft, dass sich die militärisch stärksten Gruppierungen zu einer friedensfähigen Herrschaftskoalition zusammenschließen. Die auf diese Weise zu erzielende Befriedung setzt eine ausgeprägte Vormachtstellung sowie erhebliche Privilegien seitens der Herrschaftselite gegenüber dem Rest der Bevölkerung voraus. Diese Elite stellt sicher, dass der Zugang zu zentralen Ressourcen (Land, Arbeit, Kapital), die Ausübung von Schlüsselaktivitäten des Gemeinschaftslebens (Handel, Bildung, Religion) und die Bildung, Zulassung und das Management von Organisationen ausschließlich ihrer Kontrolle unterliegen. Die Angehörigen der Elite sichern sich so exklusive Ertragsfelder. Indem sie sich gemeinsam und gegenseitig derartige Vorteile verschaffen, entstehen Anreize, sich der Koalition gegenüber loyal zu erweisen und auf die Ausübung von Gewalt untereinander zu verzichten.

Das Kosten-Nutzenkalkül friedlicher Koexistenz im Urstaat

Friedliche Koexistenz kann innerhalb der Machtelite erzielt werden, wenn die Koalitionäre die Kosten der Gewaltausübung untereinander höher veranschlagen als den Nutzen, den sie aus friedlichen Verhältnissen zu ziehen erwarten. Das Aufrechterhalten der Kampfbereitschaft oder unentwegte Kämpfe sind in einer hochaggressiven Umwelt außerordentlich kostspielige Projekte. Sie können enorm destruktive Folgen für Wohlstand, Status sowie Leib und Leben der Herrschaftsaspiranten nach sich ziehen. Herrscht hingegen Frieden, können sich die Koalitionäre in ihren jeweiligen Machtbereichen verstärkt auf den Ausbau, die Pflege und die Ausnutzung ihrer internen Vormachtstellung konzentrieren, sich an ihren Privilegien und den daraus entstehenden zahlreichen Vorteilen und wirtschaftlichen Erträgen desto ergiebiger bereichern. Somit zeichnet sich der Koalitionsfrieden durch eine entscheidende Gleichgewichtsbedingung aus: Es muss allen Teilnehmern glaubwürdig erscheinen, dass jeder unter ihnen vom Frieden stärker profitiert als von dessen Störung. Diese Gleichgewichtsbedingung liefert Aufschluss sowohl über die Verhaltenslogik einer funktionierenden Koalition als auch über die Umstände, die derartige Koalitionen gefährden. 

Auf dem Weg zur Freiheit - Friede durch Willkürherrschaft

Damit Frieden herrsche, muss es Machtzentren geben, die in der Lage sind, ein hohes Maß an Willkür auszuüben. Dies ist erforderlich um Bedingungen, d.h. Privilegien und Machterträge zu schaffen, unter denen es für die Herrschaftselite lohnt, Gewaltausübung nach innen wie nach außen zu begrenzen. Innenpolitisch gilt es, andere Herrschaftsspezialisten zu integrieren, die die Stabilität und Wirtschaftskraft dieser Ordnung zementieren. Außenpolitisch ist es erforderlich, die Koalitionszusammensetzung so anzupassen, dass ihr nur solche Kräfte angehören, die die Gleichgewichtsbedingungen des Koalitionsfriedens erfüllen. Für beide Zwecke ist es nötig, flexibel zu bleiben und das heißt, die Macht innezuhaben, willkürlich zu handeln. Innenpolitisch bedeutet dies, den Zugang zu wichtigen Ressourcen so zu begrenzen, dass sie den Interessen der Herrschaftselite dienen. Das Gros der Bevölkerung bleibt von der Nutzung dieser Ressourcen ausgeschlossen - sie hat jedenfalls keine Möglichkeit des Wettbewerbs mit den herrschaftlich dominierten Ressourcen. Um die Loyalität der wenigen, privilegierten Mitstreiter innerhalb des Herrschaftsbereichs zu sichern und als ein glaubwürdiger Koalitionspartner im Außenverhältnis zu erscheinen, bedarf es einer Machtfülle, die Willkürherrschaft (flexible machtpolitische Entscheidungen) ermöglicht. Diese wiederum basiert auf dem Ausschluss des gemeinen Volks von der Gestaltung der Institutionen und Organisationen, die den Schlüssel zu Macht und Wohlstand darstellen.

Warum ist der amerikanische Präsident nicht der reichste Mann der Welt?

In einer Gesellschaft, in der herrschaftliche Willkür ein zentrales Regulativ der Friedens- und Wirtschaftsordnung darstellt, müssen die Beziehungen zwischen den Menschen in einer Weise persönlicher Art sein, wie wir es heutzutage nicht mehr kennen. Was eine Person tun darf und was nicht, wozu sie verpflichtet ist und wozu nicht, welche Verhaltensweisen statthaft und welche es nicht sind, dergleichen kann in einer solchen Herrschaftsordnung (in außerordentlich vielen Fällen) vom Machthaber willkürlich für eine gegebene Person bestimmt werden. Es bestehen keine Schutzvorkehrungen, die das Individuum gegen herrschaftliche Willkür abschirmen. Wo - im Gegensatz dazu - rechtsstaatliche Schutzvorkehrungen existieren, erzeugen sie insofern unpersönliche, besser vielleicht gesagt: abstrakte Beziehungen, als sie alle mündigen Erwachsenen durch allgemeine Kriterien erfassen, die sofern sie erfüllt werden, ohne Ansehen der Person gelten. Warum ist der Bundeskanzler nicht der reichste Mann in Deutschland? Er wird durch die rechtsstaatliche Ordnung Deutschlands daran gehindert, sich Privilegien anzumaßen, mit denen er die Handlungsmöglichkeiten eines anderen Staatsbürgers auf willkürliche Weise zu seinen Gunsten festlegen kann. Zum Beispiel ist der deutsche Bundeskanzler nicht berechtigt, die Gründung einer Organisation zu unterbinden, die den Zweck hat, sagen wir, ihn zu kritisieren, oder Waren zu produzieren, von denen er aus irgendwelchen persönlichen Gründen glaubt, sie dürfen nur von ihm produziert werden. Anders der Machthaber des Urstaats. Er trifft unentwegt Entscheidungen, aufgrund derer er nach seinem Gutdünken bestimmt, wer welche Privilegien genießen darf und wem sie vorenthalten bleiben.

In der vorneolithischen Welt der Jäger-und-Sammler-Verbände entsteht soziale Ordnung aus dem täglichen direkten persönlichen Kontakt der Stammesangehörigen miteinander. Im volkreicheren Urstaat spielen persönliche Beziehungen weiterhin die bestimmende Rolle zwischen den Mitgliedern der Herrschaftskoalition. Es ist noch ein langer Weg, bis das freie Individuum erscheint, das seine persönliche Freiheit, seinen Schutz vor der Willkür der Mächtigen und anderer Mitmenschen abstrakter und objektiver Rechtskriterien verdankt, die für alle Erwachsenen gleichermaßen gelten und durchgesetzt werden.

Die Herrschaft der Macht

Bevor der Rechtsstaat sich ausbreitet, ist die Stellung, die man im Leben innehat, abhängig von dem Verhältnis, in dem man zu Menschen steht, die Macht besitzen. Wegen dieser Abhängigkeit von mächtigen Persönlichkeiten kann ein Mensch großer Willkür ausgesetzt sein. Um die rechtsstaatlichen Verhältnissen vorausgehende Welt persönlicher Beziehungen zu verstehen, ist es hilfreich, zwei Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen zu unterscheiden: seine körperlichen und charakterlichen Eigenschaften, die wir im Begriff der einzelmenschlichen Persönlichkeit zusammenfassen, einerseits, - Gerhard ist 1,80 groß, blond, sehr intelligent und cholerisch; und die sozial definierten Eigenschaften eines Menschen, die sozial definierte Persönlichkeit, andererseits – Gerhard ist Kassenwart des Fischzuchtvereins Katzweiler.

In modernen Gesellschaften ist die sozial definierte Persönlichkeit sehr häufig in umfassender Weise durch abstrakte Identifikationskennzeichen bestimmt, denen standardmäßig Rechte und Pflichten (eines Bürgers, eines Bürgermeisters, eines Bundeskanzlers, eines Firmeninhabers, eines Mieters etc.) zugeordnet sind; wer diese Identifikationsmerkmale aufweist, für den gelten automatisch die entsprechenden Rechte und Pflichten.

Im Urstaat hingegen ist die soziale Persönlichkeit häufig an ganz individuelle, persönliche Umstände, Beziehungen und Privilegien gebunden. Der Umstand, dass derartige Privilegien auf eine konkrete Person zugeschnitten sind und gewissermaßen persönlichen Besitz darstellen, gibt den Herrschenden überhaupt erst Anlass, sich für die friedensfähige und wirtschaftsbegünstigende soziale Ordnung der zugangsbeschränkenden Gesellschaft zu engagieren. Die Kopplung der sozialen Persönlichkeit an persönliche Privilegien, d.h. ihre Verbindung mit dem an eine konkrete Person gebundenen Recht, Willkür zu üben, bedeutet, dass Angehörige der Herrschaftselite, die Organisationen des Urstaats, gleichsam privat, für ihre Zwecke gestalten und in Anspruch nehmen können, während sie den Rest der Bevölkerung von dieser Möglichkeit ausschließen. L’etat c’est moi – der Staat, das bin ich. Dieses geflügelte Wort bringt die Essenz des Urstaats auf den Punkt.

Die Geschichte der Freiheit handelt davon, wie nach und nach Institutionen und Organisationen entstehen, die den Bereich der personalisierten, willkürbehafteten Handlungsräume der Menschen zurückdrängen zugunsten neuer Handlungsfelder, die durch allgemeingültige Rechte und Pflichten geschützt sind. Vor allem die Aufhebung des auf eine Machtelite beschränkten Privilegs der Zulassung und Gestaltung von Organisationen, und die an dessen Stelle tretende Fähigkeit jedes Bürgers, Organisationen nach eigenen Vorstellungen einzurichten und zu betreiben, verhilft der extensiven Freiheit, der modernen Zivilgesellschaft und somit einer alle Bürger umspannenden Gewaltenteilung zum Durchbruch.

Die Herrschaftstechnologie willkürlicher Macht

Damit ist der Urstaat, der für den zugangsbeschränkenden Gesellschaftstyp charakteristisch ist, zwar friedensfähig und insofern auch wirtschaftsbegünstigend, aber nur um den Preis großer Ungleichheit zwischen den verhältnismäßig weiten und relativ autonomen Handlungsoptionen einer kleinen Herrschaftselite und den sehr beschränkten und streng überwachten Handlungsmöglichkeiten der breiten Bevölkerung.

Sehr grob gesagt ist das Dilemma des Urstaats und der ihm korrespondierenden zugangsbeschränkenden Gesellschaft darin zu sehen, dass in ihnen Willkürherrschaft praktiziert werden muss, damit Frieden und eine gewisse Kontinuität und Ergiebigkeit im wirtschaftlichen Bereich möglich sind, so dass umgekehrt Einschränkungen der herrschaftlichen Willkürspielräume unweigerlich die urstaatliche Friedens- und Wirtschaftsordnung aus der Balance bringen. Somit tragen Urstaat und zugangsbeschränkende Gesellschaft in sich natürliche Bremsen für den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fortschritt, wie wir ihn heute verstehen. Es nimmt nicht Wunder, dass Stagnation und wirtschaftliche Rückschläge kennzeichnend sind für die lange Geschichte dieses Herrschaftsmodells. Es ist im Urstaat nicht möglich, Macht und Entscheidungsfreiheit abzugeben an andere Kräfte außerhalb der Herrschaftselite, ohne dass das oft ohnehin eher prekäre Gleichgewicht der bestehenden Ordnung ins Wanken gerät. Der Urstaat ist deshalb auch nicht imstande, aus sich heraus eine quasi teleologische Dynamik zu entfalten, die ihn notwendig auf ein höheres Entwicklungsniveau mit neuem Gesellschaftstyp führt.

Zusammenfassend stellen wir fest, dass die Epoche des Urstaats und der zugangsbeschränkenden Gesellschaft sich auszeichnet durch:


  • eine langsam wachsende Wirtschaft, die anfällig ist für Erschütterungen und Rückschläge,

  • eine politische Ordnung, in der die Beteiligung der breiten Bevölkerung und das Streben nach öffentlichem Konsens ausgeschlossen sind,

  • verhältnismäßig wenige Organisationen bestehen, indes deren Entstehen und Existenz völlig der Kontrolle der Herrschaftselite unterliegen,

  • einen (wegen der geringen wirtschaftlichen Potenz der Gesellschaft) kleinen aber extrem zentralisierten und extrem einflussreichen Staat,

  • soziale Verhältnisse, die durch persönliche Beziehungen, Privilegien, soziale Hierarchien, ungleichen Rechtsvollzug, unsichere Eigentumsverhältnisse und eine vielfach sehr ungleiche Behandlung der Menschen geprägt sind.


Es handelt sich hier um ein wichtiges Frühstadium in der Entstehungsgeschichte von StrukturenMaximaler Macht. Denn der moderne Staat, den wir sehr viel später als Gewaltmonopolist kennenlernen, entwickelt sich erst allmählich aus solchen ursprünglichen Koalitionen zwischen Gewalt- und Herrschaftsspezialisten. Selbst der stärkste Koalitionspartner ist niemals stärker als die Koalition insgesamt. Oft bedeutet die Macht eines Königs nicht mehr, als dass er sich einigermaßen sicher weiß vor Angriffen durch andere Mitglieder der Elite. Herrschen heißt, nach innen Anreize für eine schlagfertige, möglichst stabile Koalition zu schaffen, und nach außen genügend Stärke zu mobilisieren, um sich jedem Feind gewachsen zu zeigen. Doch die Fähigkeit zu herrschen, macht es erforderlich, Änderungen in der Zusammensetzung der Elite vorzunehmen oder hinzunehmen. Daher ist eine rege Gruppendynamik der Koalitionäre zu beobachten. Schwächere Koalitionäre werden durch stärkere verdrängt, kooperationsfähige durch weniger kooperationsbereite. Lavierende Willkür erweist sich als Herrschaftsbedingung.

Eine Welt persönlicher Beziehungen, in der der Einzelne wenig zählt

Im Urstaat sind die zwischenmenschlichen Bande, die der Gemeinschaft Ordnung geben, vorwiegend persönlicher Art. Was heißt das? Zum besseren Verständnis folgende Überlegung: Dass Ihre Nachbarin, Frau Müller, wahlberechtigt ist, verdankt sie nicht einer persönlichen Beziehung, mit einem Individuum, das ihr diese Möglichkeit zubilligt. Vielmehr erfüllt sie eine Reihe von Kriterien, die für alle Wahlberechtigten gelten, ohne Ansehen der Person. Wäre Frau Müller ein Mann und hieße Meier und hätte ein ganz anderes Netzwerk an persönlichen Bekannten, so würde sie ebenso wahlberechtigt sein, solange sie eben bestimmte Bedingungen erfüllt, die weder an ihre ganz spezifische und vollständige persönliche Identität  (sondern nur an abstrakte Merkmale ihrer Identität) noch an das Bestehen von Beziehungen zu bestimmten einflussreichen Personen gebunden sind.

Im Urstaat haben sich die sozialen Techniken und Institutionen noch nicht oder erst in rudimentärer Form herausgebildet, die Rechte und Pflichten den Charakter objektiver Sachverhalte verleihen. Es ist eine Welt, die vieles nicht kennt, was uns längst selbstverständlich geworden ist.

In unserer Welt ist es nicht das Gutdünken seines Lehrers oder seines Nachbarn oder irgendeiner anderen einflussreichen Person, die darüber entscheidet, ob Willi den Führerschein machen darf, sondern objektive Sachverhalte (vor allem Alter und Gesundheitszustand). Diese Kriterien werden nicht mit Blick auf die persönlichen Umstände eines bestimmten Individuums festgelegt, sondern nehmen allgemeine Gültigkeit in Anspruch. Wer sie erfüllt gelangt ipso facto in den Genuss von Rechten oder unterliegt Pflichten, ungeachtet der sonstigen spezifischen Umstände und Merkmale seiner Person. Wo das Leben nicht durch solche objektivierbaren Attribute bestimmt wird, herrschen eher Regelungen vor, die aufgrund persönlicher Beziehungen, insbesondere vermöge persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse wie die zwischen Herr und Knecht, Herrscher und Untertan, Gültigkeit erlangen.

(Es ist geradezu paradox: erst wenn das Individuum in wohlverstandenem, besonderen Sinne nicht zählt, zählt das Individuum überhaupt erst richtig als freies Wesen. Wenn es auf die einzelne Person ankommt, kommt es nicht auf die einzelne Person an, sondern auf die Willkür mächtiger Entscheidungsträger an.)

Die offene Gesellschaft der Moderne ist nicht denkbar ohne das Institut der Gleichheit vor dem Recht. Die allgemeine, auf alle mündigen Bürger ausgeweitete Gleichheit vor dem Recht ist die Voraussetzung für die sich in der Zivilgesellschaft verwirklichende gesamtgesellschaftliche Gewaltenteilung, dem Kernstück einer freien Gesellschaft. Nur dort, wo Recht ohne Ansehen der Person gestaltet und vollzogen wird, kann Gleichheit vor dem Recht obwalten. Zu diesem Zweck muss eine völlig neuartige Rechtspersönlichkeit ins Leben gerufen werden – das Individuum als Inhaber abstrakter und unpersönlicher Rechte und Pflichten.

Der Urstaat ist das Scharnierstück zwischen menschlichen Verbänden, in denen soziale Ordnung an persönliche Beziehungen gebunden ist, und unserer Welt, in der das Individuum, sich in seinen Handlungsmöglichkeiten auf abstrakte, für alle gleichermaßen gültige Rechtsansprüche stützen kann, ohne an die Möglichkeiten seines persönlichen Verhältnisses zu (einem) anderen Menschen gebunden zu sein. Uns begegnet der Unterschied zwischen der Herrschaft des Rechts und der Herrschaft von Menschen.

Das in diesem Sinne unpersönliche Recht bildet sich über einen sehr langen Zeitraum heraus. Nach unzähligen Versuchen und Rückschlägen kristallisieren sich am Ende der 10 000 Jahre währenden Epoche des Urstaats die offene Gesellschaft und der ihr zugrundeliegende moderne Rechtsstaat heraus. Vor weniger als 200 Jahren erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt in Gestalt der auf alle mündigen Erwachsenen ausgedehnten Gleichheit vor dem Recht. Doch warum ist der Weg zum Rechtsstaat dermaßen hürdenreich und langwierig?

Fortsetzung hier.

1 comment:

  1. Danke für den sehr anschaulichen Artikel über den Urstaat. Hochinteressant, was Du herausgearbeitet hast:
    "(Es ist geradezu paradox: erst wenn das Individuum in wohlverstandenem, besonderen Sinne nicht zählt, zählt das Individuum überhaupt erst richtig als freies Wesen. ..."
    "Uns begegnet der Unterschied zwischen der Herrschaft des Rechts und der Herrschaft von Menschen."

    "
    "Im Urstaat sind die zwischenmenschlichen Bande, die der Gemeinschaft Ordnung geben, vorwiegend persönlicher Art. "
    Ich will jetzt nicht alle Stellen raussuchen, die mich beeindruckt haben.
    Der "Fischzuchtverein Katzweiler" verdienst es vielleicht noch, hier in der Liste zu erscheinen ;-)

    "Doch warum ist der Weg zum Rechtsstaat dermaßen hürdenreich und langwierig?"
    Auf die Beantwortung dieser Frage im letzten Satz bin ich schon sehr gespannt.

    Wer hat dem Rechtsstaat überhaupt "erfunden"?



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