Wednesday 22 June 2016

Auf dem Weg zur Freiheit (2/2) - Übergang vom Urstaat zur offenen Gesellschaft



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Fortgesetzt von hier.

Typologie des Urstaats – fragil, konsolidierend, reif

Um den Weg in die Freiheit nachzuzeichnen, ist es hilfreich, sich einer Typologie zu bedienen, anhand derer sich die charakteristischen Entwicklungsstadien des fragilen, des gefestigten und des reifen Urstaats unterscheiden lassen.[1] Wobei es im konkreten historischen Fall sein mag, dass sich diese typologischen Stufen überschneiden und vermischen. Nichtsdestotrotz ist die vorgenommene Abgrenzung nützlich, vor allem um die Elemente herauszuarbeiten, die grundlegend sind für das Wachstum der Freiheit.

Der fragile Urstaat

Die soziale Ordnung im fragilen Urstaat ist von Abhängigkeiten geprägt, die auf der persönlichen Macht der Angehörigen einer kleinen Herrschaftselite beruhen. Das Vermögen, Macht in politische und wirtschaftliche Vorteile umzumünzen, ist gebunden an die konkrete Person – im Gegensatz zur abstrakten Rechtspersönlichkeit einer Rechtsordnung, in der die größtmögliche Beschränkung von Willkür angestrebt wird. Im fragilen Urstaat werden persönliche politische Vorteile genutzt, um persönliche wirtschaftliche Vorteile zu erwerben. Umgekehrt dienen persönliche wirtschaftliche Vorteile dazu, sich persönliche politische Vorteile zu sichern. Handlungen, die der Bildung, dem Austarieren, dem Bewahren oder der Veränderung der Herrschaftskoalition dienen, sind Willkürakte, denn sie erfolgen nach Maßgabe persönlicher Interessen ganz spezifischer Machtaspiranten. Unter einem solchen Regime wird die Handlungslogik derer, die Zwangsgewalt ausüben, nicht durch die allgemein gültigen abstrakten Regeln eines Amts oder einer einheitlichen Rechtsordnung diszipliniert. Grundsätzlich gilt, die Machthaber holen sich, so weit es geht, was sie brauchen.

Die Fragilität dieser frühen Form des Urstaats ist sowohl sein Überlebensmodus, der im günstigen Fall Friede und leidlich produktives Wirtschaften ermöglicht, als auch sein Dilemma. Schon kleine Änderungen in den Randbedingungen[2] können den Urstaat und das heißt vor allem die friedliche Koexistenz der Herrschaftselite aus dem Gleichgewicht bringen. Um mit solchen Anfechtungen fertig zu werden, um ein neues Gleichgewicht herzustellen, um geschwächte Koalitionäre durch ausreichend starke zu ersetzen, um abhängigen Bevölkerungsteilen neue Pflichten und Tribute abzuverlangen oder anderen verbesserte Bedingungen einzuräumen, mit einem Wort: um die konkreten, kurzfristigen Ziele der Machterhaltung zu erreichen, muss es den Machthabern möglich sein, flexibel und das heißt willkürlich zu handeln.

Freilich haben auch die Mitglieder der Herrschaftskoalition Sicherheitsbedürfnisse, denen besser zu entsprechen ist, wenn der Raum für Willkürhandlungen durch unveränderliche, dauerhafte und berechenbare Rechtsnormen eingeschränkt wird. Deshalb entstehen schon im fragilen Urstaat Anreize, mehr Rechtssicherheit für die Herrschaftselite zu gewährleisten. Entwicklungen, die in die Richtung größerer Rechtssicherheit gehen, sehen sich jedoch oftmals schnell wieder zurückgedrängt, weil die Machthaber sich wegen der vielfachen ad-hoc Zwänge kurzfristiger Machterhaltung ihre Hände ungern durch eine starre Rechtsdisziplin binden lassen.

Der konsolidierende Urstaat

Freiheit ist kein Gut, in dessen Genuss man dadurch gelangt, dass man es ersinnt, es für wünschenswert hält und deshalb einfach erwartet und einfordert. Schon die Betrachtung des Urstaats lehrt, dass Freiheit kein bedingungsloser Zustand ist. Wie viel Freiheit herrscht und in welcher Form, hängt vom evolutionären Entwicklungsstand der zwischen den Menschen wirksamen Sozialtechnologien ab, von den Institutionen (Regeln) und Organisationen (Spielertypen), die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt entwickelt haben, um die Handlungsoptionen des Miteinanders der Menschen abzustecken. Schon die Vision dessen, was Freiheit sein mag, ist abhängig von historischen Gegebenheiten. Dies gilt umso mehr von jeder machbaren, realitätsfähigen Form der Freiheit.

Aus der Spannung zwischen den widersprüchlichen Bedürfnissen nach unumschränkter Handlungsfreiheit einerseits und Rechtssicherheit andererseits, entstehen im konsolidierenden Urstaat erste Ansätze dessen, was uns später als Rechtsstaat begegnen wird.

Staat als Voraussetzung der Herrschaft des Rechts - Öffentliches Recht und privates Recht

Im konsolidierenden Urstaat werden fundamentale Neuerungen sichtbar, die sich zu tragenden Säulen einer freien Gesellschaft entwickeln werden. Besonders hervorzuheben sind die Institutionen des öffentlichen Rechts und des privaten Rechts. Im Rahmen unserer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung verstehen wir unter öffentlichem Recht Spielregeln, die dem Staat - in dieser Phase zumindest tendenziell und in einer wachsenden Anzahl von Aspekten - eine dauerhafte, verlässliche und berechenbare Struktur verleihen. Erst wenn der Staat zu einer verlässlichen Größe in diesem Sinne wird, kann sich das private Recht entwickeln, so dass private Institutionen auf den Staat jene dritte Partei zurückgreifen können, die ihre vertraglichen Beziehungen gegebenenfalls durch entsprechenden Rechtsvollzug absichert.

Im konsolidierenden Urstaat beginnen sich Schemen des modernen Rechts deutlicher abzuzeichnen, erste Konturen des Rechtsstaats, vor allem in Form von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die den Staat in seinen Kompetenzen definieren und ihm damit auch Grenzen ziehen. Die Handlungsmöglichkeiten der Mitglieder der Herrschaftskoalition und ihre Beziehungen untereinander sind nun in stärkerem Maße Spielregeln unterworfen, die dauerhaft bindenden und allgemein gültigen Charakter in Anspruch nehmen und damit die Spielräume für Willkür einengen – natürlich immer mit dem Risiko, gerade aus diesen Grund Konflikte und gegenläufige Bewegungen auszulösen.

Credible commitments

Wenn sich gewisse Rechtspraktiken und somit Erwartungen an das Recht stabilisieren und schließlich einbürgern, können diese neuen gemeinsamen Überzeugungen sich zu vertrauensbildenden Konventionen verfeinern, und zwar in Gestalt so genannter credible commitments, d.h. gegenseitig glaubhafte und deshalb gegenseitig eingehaltene Verpflichtungen. Es entstehen gewissermaßen Tabus, die irgendwann meist nur noch unhinterfragt eingehalten werden, so dass die Menschen für einander berechenbar werden, wo sie früher unwägbaren Störungen ausgesetzt waren. Solche credible commitments sind der Mörtel, der eine soziale Ordnung zusammenhält, die aus vielfältigen vertraglichen und quasi-vertraglichen Beziehungssträngen zwischen Menschen besteht, die über ihre kontraktlichen Abmachungen hinaus in keiner Beziehung zueinander stehen, geschweige denn in einer persönlichen. Damit ist es möglich, dass Fremde miteinander kooperieren können, und zwar freiwillig und nach Maßgabe ihrer persönlichen Vorstellungen von der Vorteilhaftigkeit und Fairness ihrer Abmachungen; es können nun Beziehungen vereinbart werden zwischen anonymen Rechtsteilnehmer.

In befriedender Absicht nimmt sich das rudimentäre öffentliche Recht des gefestigten Urstaats besonders solcher Anlässe an, die zu wiederkehrenden Auseinandersetzungen führen: Nachfolgeregelungen für den Führer und die Mitglieder der Herrschaftskoalition, die Regelung von Steuern und Tributen oder die Aufteilung von Beutegut.

Es setzt eine gewisse Institutionalisierung - oder was in diesem Zusammenhang das Gleiche bedeutet: eine Depersonalisierung - von Entscheidungsprozessen ein, die nun durch unveränderliche Regeln statt durch persönliches Gutdünken beeinflusst werden. Damit entsteht eine Basis für neue, komplizierte und leistungsfähigere Organisationen. Denn ein Staat, der sich verlässlichen Regeln unterwirft und seinerseits solche Regeln durchsetzt, erzeugt Rechtsicherheit, die neuartige, friedfertige und emanzipierte Beziehungen der Menschen zum Staat und untereinander zulässt.

Nun können Funktionen, Ämter, Rechtstraditionen und Organisationen entstehen, die eine höhere Komplexität und Leistungsfähigkeit aufweisen, auch ganz wesentlich weil sie auf Dauer und für sich bestehen, d.h. unabhängig von der Person oder den Personen, die derartige Einrichtungen zu einem gegebenen Zeitpunkt bekleiden oder verkörpern. Ein Beispiel begegnet uns im Amt des Konsulats im römischen Reich, das jeweils von zwei Konsuln besetzt war. Den beiden Konsuln oblag die Führung des römischen Militärs, wobei sie an bestimmte Regeln gebunden waren, darunter auch die, derzufolge ihr Amt nach einem Jahr an zwei Nachfolger überzugehen hat. Im konsolidierenden Urstaat ist es also nunmehr möglich, Organisationen zu bilden, die eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Staat – d.h. der Herrschaftselite – aufweisen. Machbar ist die Bildung derartiger Organisationen freilich nur innerhalb des Staats und nur mit dessen Einverständnis und unter dessen Kontrolle – d.h. es ist ein Privileg, das auf die Mitglieder der Herrschaftskoalition beschränkt bleibt. Menschen außerhalb des Herrschaftszirkels bleibt die Möglichkeit vorenthalten, Organisationen auf eigene Initiative und nach ihren Vorstellungen zu bilden. Die Herrschaftselite bleibt maßgebend; von einer ausgedehnten Zivilgesellschaft ist man weit entfernt.

Auch wenn sich Organisationsstrukturen herauszubilden beginnen, die dauerhafte und depersonalisierte Züge aufweisen, der konsolidierende Urstaat ist selbst keineswegs eine Institution, die unabhängig von seinen Protagonistenpersönlichkeiten Bestand hat. Dadurch ist die Vertragsfähigkeit und Vertragstreue des Staats - und somit letztlich aller Menschen in dessen Einflusssphäre – immer noch stark eingeschränkt. Um es mit einem anachronistischen Bild auszudrücken: Alles in allem lebt man – besonders die Menschen außerhalb der Machtelite - noch immer wie in einer Welt, in der der Preis und die Bedingungen, zu denen man Strom bezieht, davon abhängen, wer gerade die städtischen Elektrizitätswerke leitet – und in wie weit man direkt oder indirekt, erkennbar oder unergründlich eine Rolle spielt im Schacher-Management der persönlichen Interessen und Beziehungen dieses mächtigen Entscheidungsträgers.

Es ist noch ein langer, mühsamer Weg bis endlich die Rechtsstaatlichkeit einer freien Gesellschaft erkennbar wird. Was inzwischen an Freiheit oder Vorbedingungen der Freiheit heranwächst, ist weder einem Plan noch einer heroischen Gerechtigkeitsvision geschuldet, schon eher den pragmatischen, stochernden und fehlbaren Bemühungen der wenigen Mächtigen, die hoffen, noch zu Lebzeiten für sich selbst eine bessere Welt zu schaffen.

Der reife Urstaat und das Institut der juristischen Person

Als dessen vielleicht wichtigste Errungenschaft zeichnet sich im reifen Urstaat deutlicher denn je das Institut der juristischen Person ab. Das heißt insbesondere, dass Organisationen, die keine natürlichen Personen sind, mit eigener Rechtsfähigkeit in Erscheinung treten. Sie können Forderungen geltend machen, klagen und verklagt werden. Es ist möglich, sagen wir, eine Stadt zu verklagen, ohne ihre Bürger oder andere Individuen qua Person anzuklagen. Das Verhältnis des Bürgermeisters zur Stadt kann nun rechtlich objektiviert werden. Funktion und Amt können in solcher Weise von der natürlichen Person abgetrennt werden, dass eine verbindliche Funktions- oder Amtsverantwortung entsteht, die nicht mehr willkürlich nach den besonderen Umständen einer mächtigen Person(engruppe) verändert werden kann.

Es können sich parallel zueinander Institutionen des öffentlichen Rechts und des privaten Rechts bilden, deren Identität und deren Fähigkeit, Rechte in Anspruch zu nehmen und Verpflichtungen einzugehen oder zu unterliegen, nicht mehr an die Interessen und das Schicksal natürlicher Personen gebunden sind. Es treten Organisationen auf den Plan, die berechenbaren Regeln dauerhaft, d.h. über die Lebens- oder Herrschaftsspanne einer natürlicher Personen hinaus unterliegen. Damit werden auch zukünftige Geschehnisse und Verhaltensweisen berechenbarer, was wiederum das Spektrum an glaubhaften und machbaren Vereinbarungen (credible committments), die den Menschen verbesserte Kooperation und Koordination ermöglichen, erheblich ausweitet.

Indem sich der reife Urstaat als betreibende Institution des öffentlichen Rechts stärker profiliert, schafft er die Grundlage für private Organisationen, die sich dem Staat gegenüber, sowie privaten Partnern im Außen- wie im Innenverhältnis, rechtlich bindend definieren und damit gegenseitig vergewissern können. Erstmals kommt es zur Gründung von Organisationen, die nicht Organisationen des Staats sind, sondern private Unternehmungen, etwa Erwerbseinrichtungen von Mitgliedern der Herrschaftskoalition, denen autonome Handlungsräume zugestanden werden.

Was in diesem oder jenen Fall aus dem Bestreben entstanden sein mag, rechtsstaatliche Rechtssicherheit für die Machtelite, insbesondere bei Schlichtungsanlässen und Anlässen mit hohem Konfliktrisiko zu bewerkstelligen, kann später wirtschaftlich bedingte Anreize dafür geschaffen haben, bestimmte Einrichtungen, nicht zuletzt eben auch private Organisationen einzelner Mitglieder der Herrschaftselite, rechtlich zu objektivieren und somit vor der Willkür des Staats abzuschirmen.

Übergang vom Urstaat zur offenen Gesellschaft

Der Übergang zur offenen Gesellschaft vollzieht sich in zwei Etappen. Zuerst müssen sich die Beziehungen innerhalb der Herrschaftselite des Urstaats zu einer Art Rechtsstaat ausformen. Das Miteinander der Angehörigen der urstaatlichen Machthaberkoalition unterliegt nun schon in erheblichem Maße einem objektivierten Recht, das das Recht des Stärkeren, die Erzwingung gültiger Verhältnisse nach Maßgabe persönlicher Interessen und Privilegien verdrängt. Der zweite Schritt besteht dann darin, das rechtsstaatliche Model auf größere Teile der Gesellschaft und schließlich auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen. 

Schwellenbedingungen

Wegen der Anfälligkeit des Urstaats für Rückfälle in primitivere Stufen erfolgt der Übergang von einer zugangsbeschränkenden zu einer offenen Gesellschaft über ausgedehnte Zeiträume. Einen beschleunigten Verlauf kann der Epochenwechsel erst nehmen, wenn sich im Rahmen der Möglichkeiten des Urstaats drei Schwellenbedingungen klar abzeichnen:


  • (i) Es haben sich entwickelte Formen der Rechtsstaatlichkeit im Miteinander der Herrschaftselite eingebürgert. 
  • (ii) Es sind Organisationen der öffentlichen Sphäre und der privaten Sphäre entstanden, deren Fortbestand qua juristische Person dauerhaft möglich ist, also unabhängig von der zeitlichen Spanne, während derer bestimmte Individuen diesen Organisationen angehören.
  • (iii) Die unter der Herrschaftselite verteilten Gewaltzentren des Urstaats sind zu einem politisch kontrollierten Monopol staatlicher Zwangsgewalt zusammengelegt worden.


Staatliches Gewaltmonopol

Damit eine offene Gesellschaft entstehen kann bedarf es also (1) eines objektiven Rechts, (2) dauerhaft vertragstreuer Organisationen, die Unabhängigkeit gegenüber staatlicher und privater Willkür genießen, und (3) die Eliminierung multipler Gewaltzentren zugunsten eines Gewaltmonopols.

Ein politisch kontrolliertes Gewaltmonopol kann erst zustande kommen, wenn die ersten beiden Schwellenbedingungen erfüllt sind. Zum besseren Verständnis dieser Aussage erinnern wir uns zunächst an Folgendes: Im Urstaat ist Gewalt[3] letztlich der Schlüssel, mit dem ein Machtaspirant (a) in seinem Bereich eine Vormachtstellung erlangt und (b) sich Zugang zur Herrschaftskoalition verschafft. Gewalt ist das Mittel, mit dem er seinen Gefolgsleuten Sicherheit bieten kann. Gewalt ist das Instrument seiner Willkürherrschaft. Gewalt erschließt ihm seine Privilegien und wirtschaftlichen Vorteile. Gewalt erheischt den Respekt anderer Herrschaftskoalitionäre. Wieso sollten Mitglieder der Herrschaftselite dieses Instrument aus der Hand geben?

Einfach gesagt: Wenn neuartige Institutionen (vor allem die ersten beiden Schwellenbedingungen) sich schließlich durchsetzen, die wirkungsvoller und tragfähiger sind als Institutionen, die ein System aufrechterhalten, in dem rivalisierende Willkürherrscher ein fragiles Gleichgewicht friedlicher Koexistenz austarieren. Dieses System ist fragil, weil in ihm wiederkehrende Anlässe für gewaltsame Konfrontationen Bestandteil der sozialen Ordnung sind.


[1] In der Terminologie von North et al. ist die Rede vom „fragile, basic, and mature natural state“.
[2] Missernten, Epidemien, ungünstige Wetterbedingungen, Verschiebungen der relativen Faktorpreise von Land und Arbeit z.B., Kriege, Intrigen etc
[3] Der Ausdruck Gewalt ist hier so zu verstehen, dass er auch die Fähigkeit Gewalt auszuüben einschließt.

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