Thursday 21 July 2016

Keynes verstehen (4) — Ökonom sein heißt glauben

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Fortgesetzt von hier.

Keynes war stark verwachsen mit der vorherrschenden Ökonomie seiner Zeit - nennen wir sie, wie er es tat, die klassische Ökonomik. Er war Schüler des großen Klassikers Alfred Marshall und lehrte selbst in Cambridge den Kanon der herkömmlichen Wirtschaftslehre. Im Laufe der Jahre entstand in ihm jedoch ein wachsender Zwiespalt:

Zum Einen fühlte er sich der klassischen Lehre verpflichtet, der wir wichtige Erkenntnisse und Methoden zu verdanken haben. Wie jedes fest verwurzelte und weit verbreitete Glaubensbekenntnis, prägt auch die kanonische Ökonomie das Selbstverständnis vieler Menschen und der sozialen Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlen. Es ist schwer, sich von diesen identitätsbildenden Denkgewohnheiten und Überzeugungen unabhängig zu machen. Die enorm starke Gravitationskraft einer sozialen Glaubensgemeinschaft kann erklären, warum Annahmen über lange Zeit Geltung bewahren, ohne hinterfragt zu werden, obwohl sie völlig ungeeignet sind, einem ökonomischen Modell jenes Mindestmaß an Realismus zu verleihen, das es benötigt, um brauchbare Erkenntnisse über die Welt zu liefern, in der wir leben.

Zum Anderen rieb sich Keynes in beschwerlichen Kämpfen an den Widersprüchen der Orthodoxie auf und durchbrach schließlich nach langem Ringen den Dünkel der arrivierten Ökonomen an verschiedenen Stellen und setzte sich bewusst zu ihnen in Gegensatz—doch zunächst nur zögerlich und ohne jemals ganz mit der etablierten Ökonomie zu brechen.

Was Keynes' ökonomische Rechtgläubigkeit vermutlich am stärksten anfocht war die Beobachtung, dass die arbeitende Bevölkerung in Großbritannien seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis in  die 1930er Jahre, als sein revolutionierendes Hauptwerk erschien, bei hoher Arbeitslosigkeit in beträchtlichem Elend lebte, während die ökonomische Theorie, die er in den Seminarräumen der Universität von Cambridge lehrte, einen derartigen Zustand für unmöglich erklärte oder immerhin, ihre Vertreter dazu zu berechtigen vorgab, baldige Besserung zu versprechen. Doch was nützte es denen, die im Elend lebten, wenn man ihnen verhieß, es werde ihnen irgendwann "in the long run" besser gehen. "In the long run," erklärte Keynes, "we are all dead".

In Keynes begann die Überzeugung zu reifen, dass es eine Ökonomie geben könnte, die uns dabei behilflich ist, Probleme des Hier und Jetzt besser zu verstehen, so dass wir sie in einem überschaubaren Zeitrahmen lösen können. Im Zuge dessen, sollte er schließlich auch erkennen, dass das Versprechen der klassischen  Ökonomie, die Wirtschaft korrekt zu beschreiben, wenigstens so wie sie sich "in the long run" entwickelt, ebenfalls auf tönernen Füßen stand.

In den Wirtschaftswissenschaften ist es nun einmal so, dass  die korrekte Beschreibung und Analyse ihres Gegenstands in vielen Fällen auch davon abhängt, was man sehen möchte und woran man zu glauben bereit ist. Dies wird dadurch kompliziert, dass, erstens, nicht alle glaubensbedingten Meinungsverschiedenheiten anhand eines objektiven Maßstabs bereinigt werden können, und zweitens, unterschiedliche Interessen, Ambitionen und Perspektiven selbst Teil der objektiven Sachlage sein können. Man denke nur an die Frage, wer welchen Anteil am Kuchen der wirtschaftlichen Produktion verdient oder welche Werte Geltung in einer Gemeinschaft wirtschaftender Wesen haben sollen.

Man sollte daher nicht unterschätzen, wie wichtig es ist, an etwas fest zu glauben, wenn man Ökonomie betreiben will.

Die klassische Ökonomik glaubte fest an die Vorstellung von der Wirtschaft als einer besseren Dimension des menschlichen Daseins, einer selbstordnenden, natürlichen Ordnung, die frei ist von den Fehlern und der Fehlbarkeit, die durch menschliches Handeln und Wollen in die Welt geraten. Die klassische Ökonomik glaubte fest daran, dass es ein übergreifendes Gemeingut gibt, ein letztes, bestes Ergebnis des Wirtschaftens, das sich allen als ein solches einheitliches Resultat darstellt, wenn sie ehrlich und objektiv denken, und welches sich durch das unbeschädigte Wirken einer freien Wirtschaft herbeiführen lässt. In das Arsenal dieses summum bonum gehört natürlich auch der Zustand der Vollbeschäftigung, die herbeizuführen der freie Markt, der Ressourcen dorthin lenkt, wo sie am wirtschaftlichsten und nützlichsten einzusetzen sind, geradezu prädestiniert war. 

Doch genau das leistete der Markt nicht, nunmehr über Jahrzehnte, wie Keynes irritiert feststellte. Es begann ihm zu dämmern, dass etwas mit der Theorie nicht stimmte, die kalt und gleichgültig gegenüber der Geißel der Arbeitslosigkeit blieb, weil sie in ihr  kein grundlegendes Problem zu erkennen vermochte.

Als Keynes schließlich den Schlüssel zu den Irrtümern der klassischen Ökonomie gefunden zu haben glaubte, gab er ihnen einen Namen: das Saysche Gesetz.

Im Sayschen Gesetz verbargen sich drei völlig verfehlte Annahmen, auf denen jedoch die Kathedrale der modernen Ökonomie errichtet worden war.

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